Yago hatte sie tatsächlich zu allererst zu den Bädern geführt, die in einem abgegrenzten Gebäudekomplex angelegt worden waren und die, seinen Worten zufolge, aus heißen Quellen unterhalb der Stadt gespeist wurden. Der erste Anblick hatte Alika beinahe den Atem verschlagen. Für einen Moment hatte sie nur dagestanden, die luxuriösen Marmorbecken, die goldenen Kerzenleuchter, die mit kunstvollen Mosaiken ausgelegten Böden, Wände und bunt verglasten Fenster mit großen Augen anstarrend. Daraufhin hatte sie ihren Begleiter mit zornigen Flüchen und Beschimpfungen überhäuft, die dieser mit gelassener Miene und ohne auch nur einmal das Gesicht zu verziehen, über sich hatte ergehen lassen, was sie nur noch wütender gemacht hatte.
Ob des Prunkes, mit dem diese Bäder ausgestattet waren, hatte sie an all jene denken müssen, die in der Unterstadt Tag für Tag um ihr Leben kämpften, die nicht einmal genug Geld hatten, um sich einen Becher sauberen Wassers zu kaufen. Noch vor kurzem hatte sie selbst nur von Minute zu Minute gelebt, wohl wissend, dass sie nicht auf ewig so weiter machen konnte. Während ihr ein Ausweg geboten worden war, kämpften immer noch zigtausend andere um ihr tägliches Brot und das nagte an ihr, verursachte ein schlechtes Gewissen. Selbst als sie sich wieder halbwegs beruhigt hatte und Yago gegangen war, um ihr frische Kleider zu besorgen, zweifelte sie noch an der Richtigkeit ihres Verhaltens.
Sie hätte dieses Angebot von Vornherein ausschlagen sollen. Wer war sie denn, dass sie sich von diesen reichen Schnöseln aus der Gosse ziehen ließ?
Erst als das warme Wasser ihren Körper berührt hatte und sie den Dreck abwaschen konnte, der schon lange wie eine zweite Haut an ihr haftete, beruhigte sich ihr Gewissen vorübergehend.
Yago hatte ihr schließlich ein einfaches grünes Hemd, eine braune Hose, Unterkleider und leichte Lederstiefel gebracht und erstmals hatte sie ihm angesehen, dass er um seine Fassung kämpfen musste, als sie, nur in ein großes graues Tuch gewickelt, vor ihm stand und eine Hand nach der Kleidung ausstreckte.
Kaum hatte sie sich angezogen, da verließen sie die Bäder und schritten über einen weitläufigen mit Gras bewachsenen Innenhof, in dessen Mitte sich ein großer steinerner Springbrunnen befand, zum Hauptgebäude zurück.
„Und, was machen wir jetzt?“, fragte Alika, um das Schweigen, das zwischen ihnen herrschte zu durchbrechen. Eine Weile schien es, als würde Yago nicht antworten, doch dann erklärte er: „Ich bringe dich zum Unterricht. Je früher du mit deiner Ausbildung beginnst, desto besser.“
„Schade“, seufzte sie, was ein verwirrtes Runzeln auf Yagos Stirn trieb. „Ich dachte, du würdest mir euer ganzes bescheidenes Häuschen zeigen.“ Unverständnis zeigte sich in seinen Augen.
Inzwischen waren sie zu einer großen Tür gelangt, vor der sie anhielten. Yago hob eine Hand um anzuklopfen, doch dann überlegte er es sich anders und wandte sich noch einmal an das Mädchen, das gelangweilt mit dem rechten Fuß auf den Boden trommelte und die Hände vor der Brust verschränkt hatte.
„Custos Saverola ist einer der angesehensten Männer an dieser Schule. Tritt ihm also bitte mit Respekt gegenüber.“
Alika zog eine Augenbraue hoch. „Respekt ist etwas, das man sich verdienen muss.“
Missbilligend schnaubte ihr Begleiter: „Die Hochmütigen kommen nicht weit im Leben. Man hat dir etwas Besonderes geschenkt und du trittst es mit Füßen. Wenn du so weiter machst, wirst du hier nicht weit kommen.“
Mit diesen Worten wollte er an die Tür klopfen, doch diese wurde in eben diesem Moment aufgerissen und das Gesicht eines Jungen mit wilden braunen Locken und dunklen Augen streckte sich ihnen entgegen.
„Custos Saverola bittet euch, euren Streit auf später zu verlegen. Er möchte mit der Ausbildung des neuen Tiros so schnell wie möglich beginnen.“
Fast schien es, als wolle Yago etwas erwidern, doch dann entschied er sich dagegen, neigte leicht den Kopf und wandte sich ruckartig um.
„Du scheinst aber doch schon ziemlich weit gekommen zu sein.“, konnte Alika sich nicht verkneifen, ihm hinterher zurufen, woraufhin er seinen Schritt beschleunigte.
Mit einem gespielten Seufzen wandte sie sich dem Jungen zu, der ihr die Tür aufhielt. „Na, dann sollten wir schleunigst beginnen, damit es möglichst bald vorbei ist.“
Er sah sie nicht einmal an, sondern starrte in die Richtung, in der Yago verschwunden war. Schließlich schüttelte er den Kopf und richtete ihren Blick auf sie. „Du hast ihn gerade beleidigt, oder?“, flüsterte er, wobei er sich verstohlen umsah.
Ohne seinem Beispiel zu folgen, erklärte Alika laut: „Ach was, ich habe ihn nur aufgezogen, das ist alles.“ Damit stieß sie ihn zur Seite und trat durch die Tür in den Raum, in dem sie bereits erwartet wurde.
*
Schweigen begrüßte sie, durchbrochen vom gelegentlichen Schnaufen derjenigen, die den Atem nicht länger anhalten konnten. Auf den ersten Blick zählte Alika sieben Jungen im Alter zwischen zehn und vierzehn Jahren.
Auf einer tribünenartigen Erhebung am anderen Ende des rechteckigen Raumes, stand ein großer, schlanker Mann, gekleidet in ein sackartiges braunes Gewand, das durch einen Gürtel an der Hüfte zusammengehalten wurde. In Händen hielt er einen dicken, langen Stock. Der Blick seiner aufmerksamen blaugrünen Augen traf Alika und er schien sie aus der Entfernung von oben bis unten zu mustern.
Schließlich ließ er den Stock sinken, stieg von der Tribüne und schritt auf das Mädchen zu. Erst jetzt fiel ihr das bereits vollständig ergraute Haar des Mannes auf, das er streng zurück gebunden hatte.
„Schließ doch bitte die Tür, Vincent.“ Seine Stimme war ruhig und angenehm, sodass man den Worten einfach lauschen musste.
„Du musst wohl unser neuer Tiro sein“, wandte er sich direkt an Alika, die zustimmend nickte.
„So, so“, murmelte er, während er sie umkreiste und begutachtete wie ein Wolf, der im nächsten Moment zuschnappt. Misstrauisch wie sie nun einmal war, ließ Alika den Alten nicht aus den Augen, beobachtete jede seiner Bewegungen und drehte sich mit ihm mit.
Und das zu recht, denn im nächsten Moment wirbelte der Stab durch die Luft und zischte auf die Füße des Mädchens zu. Ungelenk sprang dieses hoch in die Luft, nur um dann von einem Stoß in den Bauch überrascht zu werden, der sie aus dem Gleichgewicht brachte, sodass sie nur mit Mühe auf den Füßen zu stehen kam.
„Reflexe sind vorhanden, könnten aber besser sein.“
Plötzlich stieß er einen durchdringenden Schrei aus, der Alika zusammenzucken ließ. Sogleich traf sie ein Schlag in die Seite.
„Etwas schreckhaft“, bemerkte er und setzte die Inspektion fort. Hin und wieder stocherte er mit seinem Stab nach ihr, doch diesmal gelang es ihr, seinen eher halbherzig ausgeführten Angriffen auszuweichen.
Er blieb stehen und klopfte mit dem Stock ein paar Mal auf den Boden. Dann warf er einen Blick über die Schulter zu seinen übrigen Schülern, die völlig lautlos das Geschehen beobachteten.
Erleichtert atmete Alika auf. Diese Behandlung gefiel ihr gar nicht.
Kaum, dass sie jedoch einen Augenblick ihre Aufmerksamkeit auf andere Dinge gerichtet hatte, da wirbelte Custos Saverola herum und stoppte seinen Schlag knapp vor ihrem Kopf. Nur ein Lufthauch streifte ihre Haut. Alle ihre Muskeln waren angespannt. Dieser Kerl war verrückt.
„Wachsam ist sie auch nicht. Da haben sie mir ja einen schönen neuen Tiro geschickt. Es scheint, als hättest du endlich einen würdigen Konkurrenten bekommen, Vincent.“
„Schwachsinn“, kommentierte Alika und funkelte den Lehrer wütend an. „Du schlägst mit einem Stock um dich und gibst mir nicht einmal die Möglichkeit, mich angemessen zu verteidigen.“
Gleichzeitig schienen alle im Raum den Atem anzuhalten. Der Junge mit dem Lockenkopf erblasste sichtbar und starrte sie ungläubig an, doch das kümmerte sie nicht im Geringsten.
„Gib mir eine Waffe und ich zeige dir, was ich kann“, forderte sie, was ein erstauntes Raunen auslöste, das erst verstummte, als Saverola die Hand hob.
„Bevor ich dir eine Waffe aushändige, Tiro“, solltest du lernen, wie du dich hier zu verhalten hast.“
Genervt verdrehte das Mädchen die Augen. „Bei euch muss immer alles so kompliziert sein. Nun gut, kläre mich auf. Was habe ich jetzt wieder falsch gemacht?“
Als würde er gar nicht auf ihre Worte achten, wandte er sich an den Jungen, den er Vincent genannt hatte. „Mach noch ein paar Aufwärmübungen mit ihnen“, wies er ihn an. „Das kannst du ja inzwischen einigermaßen.“
Hastig nickte der Junge und trat zu der Gruppe, die wieder mucksmäuschenstill geworden war. „Also gut, …“
„Alika“, half sie ihm aus.
Er setzte sich langsam in Bewegung.
„Komm mit“, forderte er sie auf, als sie sich nicht von der Stelle rührte. Widerwillig folgte sie seiner Anweisung.
Langsamen Schrittes gingen sie an der Wand des Raumes entlang. Erst nachdem mehrere Sekunden, wenn nicht gar Minuten, verstrichen waren, begann er wieder zu sprechen. „Mir ist klar, dass das dein erster Tag ist. Deshalb verzichte ich vorerst auf eine Bestrafung.“
„Bestrafung?“, brauste Alika auf. „Ich habe doch…“
Ein strenger Ausdruck trat auf sein Gesicht, das zuvor noch völlig ruhig und ausgeglichen gewirkt hatte. „Unterbrich mich nicht, wenn ich spreche. Das ist das erste, was du für heute lernst. Wenn jemand das Wort hat, hast du kein Recht, es ihm wegzunehmen.“
„Na gut“, seufzte sie, woraufhin er den Kopf schüttelte.
„Solcherlei nichts sagende Äußerungen sind ebenfalls unangebracht. Dein Mund sollte sich nur öffnen, wenn du etwas Vernünftiges zu sagen hast. Ansonsten solltest du das Schweigen bevorzugen. Generell solltest du dich in Zurückhaltung üben. Deine Zunge scheint mir etwas zu locker zu sitzen.“
Ein zorniges Funkeln glomm in ihren Augen auf und ihre linke Augenbraue wanderte immer weiter nach oben, doch sie erwiderte kein Wort.
Es würde schon noch der Zeitpunkt kommen, an dem sie ihm sagen konnte, was sie von alledem hielt. Doch vorerst hatte sie den Bogen wohl schon genügend gespannt. Sie musste ihn schließlich nicht gleich am ersten Tag zum Reißen bringen.
„… und wenn du mit mir redest, wirst du mich gefälligst angemessen ansprechen, verstanden. Selbst in der Unterstadt muss man doch schon einmal von Höflichkeit gehört haben.“
„Höflichkeit?“, murrte Alika, allerdings so leise, dass er sie nicht hören konnte. „Unterwerfung trifft es wohl eher.“
Fragend blickte er sie an, doch sie wiederholte ihre Worte nicht, sondern starrte nur entschlossen zurück.
„Das wäre vorerst alles“, meinte er dann und hielt im Gehen inne. Er warf einen Blick auf die Gruppe, die Trockenübungen mit ihren Kampfstäben machte, die Vincent ihnen vorzeigte.
Mit mehrmaligem Klatschen in die Hände unterbrach er die Trainierenden. „Lasst es gut sein für heute.
Eine Glocke ertönte und als wäre eine unsichtbare Decke von ihnen genommen worden, begannen die Jungen zu sprechen und zu scherzen. Unter lautem Gelächter verließen sie den Raum. Ihre Übungswaffen ließen sie einfach liegen.
Gerade als Alika ihnen folgen wollte, wurde sie von Saverola zurück gerufen. Unwillig drehte sie sich noch einmal zu ihm herum. „Ich habe es mir anders überlegt. Unter Einbeziehung dessen, das du Yago gegenüber geäußert hast, hast du doch eine Strafe verdient.“
„Natürlich“, schnaubte Alika und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. „Und die wäre?“, fragte sie laut.
„Hilf Vincent beim Aufräumen der Halle. Das sollte für’s erste genügen. Mit diesen Worten verschwand er durch eine zweite Tür, die dem Mädchen bisher noch gar nicht aufgefallen war. Während sie genervt die Augen verdrehte, schritt sie auf den Lockenkopf zu, der gerade damit beschäftigt war, die Stöcke in einem eigens dafür angefertigten Fach zu verstauen, das sich direkt in einer der Wände befand.
„Ist der immer so anstrengend?“, fragte sie den Jungen, der daraufhin einen der Stöcke fallen ließ. Mit einer geschickten Bewegung fing sie ihn auf und reichte ihn an ihn zurück.
„Ich…“, stammelte er, schloss das Fach und ging auf ein paar dicke Matten zu, die am Boden lagen. „Es…Er…Meistens“, brachte er schließlich hervor.
„Gesprächig bist du nicht gerade“, stellte Alika laut fest, während sie ihm dabei half, die Matten zur Seite zu schieben und übereinander auf zu stapeln.
„Niemandem tut es gut, sich mit Custos Saverola anzulegen“, sagte er schließlich. Dann eilte er zur Tür hinaus und ließ Alika stehen.
„Auch gut.“
Kopfschüttelnd verließ sie die Halle. Diese Wächter schienen alle irgendwelche Probleme zu haben und ihre Schüler standen ihnen wohl in nichts nach.
„Das wird noch spaßig werden“, murmelte Alika und schritt einen Gang entlang, ohne zu wissen, wohin dieser sie letztendlich führen würde.
© Fianna 15/02/2012