Prolog
Königreich Rivarnon, vierzehnter Tag des August im Jahr des Falken 1453
Die Welt hat sich verändert.
Allerdings nicht gerade zum Guten. Der Krieg zwischen den Brüdern des Königshauses hält immer noch an. Ihr Zwist hat weite Landstriche verwüstet, Dörfer und Städte entvölkert und auch noch das letzte bisschen Hoffnung auf ein besseres Leben ausgelöscht. Gehofft wird nur noch, dass man den Tag und die Nacht überlebt und dann auch noch den nächsten Tag und die nächste Nacht.
Jeder Mensch ist einsam, egal wie viele in seiner Nähe sind, denn insgeheim betet er, dass es der Nachbar ist, der den plündernden Horden zum Opfer fällt und nicht er selbst.
Ich habe Eltern gesehen, die ihre Kinder verkaufen, um wenigstens zu etwas Geld zu kommen.
Denn Kinder sind begehrt.
Im Osten wird das Reich von einer Armee bedroht, deren Vorrat an Menschenfleisch nur all zu bereitwillig aufgefüllt wird. Man hört von Ghulen, Nachtmahren, Boggarts und anderen Dämonen, die des Nachts Friedhöfe plündern und den Menschen Angst einjagen. Niemand weiß, was sie wollen, oder wer sie anführt, doch es gehen Gerüchte um, denen zufolge sich Geisterbeschwörer in den Reihen der Geisterarmee befänden.
Aber darum geht es mir nicht.
Ich schreibe dies alles nur aus einem einzigen Grund. Um die Hoffnung zurückzubringen. Denn vor fünfzehn Jahren trat ich eine Reise an, die mein Leben von Grund auf veränderte. Ich will euch also vom tapferen Prinz Glen erzählen, der auszog eine bessere Welt zu finden, von der klugen Mira, deren Finger so flink waren wie ihre Zunge und von meiner Wenigkeit, dem naiven Mönch, der seitdem verzweifelt versucht mit der Welt wieder ins Reine zu kommen.
Dies ist unsere Geschichte. Möge sie euch ein Lichtblick sein in diesen dunklen Zeiten.
Kapitel 1 - Vorzeichen
Wieder war es ein heißer Tag gewesen. Keine einzige Wolke hatte am Himmel gehangen.
Nun jedoch zog im Westen ein Gewitter auf. Düstere Wolken ballten sich zusammen. Am Horizont blitze es bereits. Es war schwül und roch nach Regen.
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich allerdings andere Sorgen. Man hatte mir eine Nachricht zukommen lassen. Irgendetwas war geschehen und mir wurde die Schuld dafür gegeben. Ich sollte mich auf schnellstem Wege in meine Kammer begeben und dort bleiben, bis jemand zu mir käme und mir die Situation erklärte.
Obwohl ich mir keiner Schuld bewusst war, hatte ich ein schlechtes Gewissen. Um ehrlich zu sein hatte ich schon eine Vorstellung, was man mir vorwerfen könnte. Tags zuvor hatte ich nämlich Stalldienst gehabt und wegen des ganzen Stresses hatte ich vergessen nach dem Ausmisten die Boxen mit Stroh zu füllen. Das war ein Fehler, der durchaus eine Strafe wert war, aber wieso sollte ich in meine Kammer gehen? Normalerweise wurden einem Strafen im Speisesaal, vor allen anderen, auferlegt.
Gedankenversunken öffnete ich die Tür zu dem Zimmer, das ich mit zweien meiner Brüder teilte. Es war leer. Natürlich. Zurzeit befanden sich alle im Speisesaal und waren in bester Laune, da ein weiterer anstrengender und heißer Arbeitstag zu Ende ging.
Ich setzte mich auf mein Bett und grübelte vor mich hin.
Ein Räuspern ließ mich aufschrecken.
Suchend sah ich mich im Raum um und entdeckte eine Gestalt, die auf einem Stuhl in einer dunklen Ecke saß. Der Unbekannte hatte den Stuhl nach hinten gekippt und wippte damit vor und zurück.
„Hast du meine Nachricht erhalten?“
Nun vollends verwirrt stand ich auf und zündete ein paar Kerzen an. „Was … Glen?! Was im Namen des Herrn macht Ihr hier?“
„Hast du meine Nachricht etwa nicht gekriegt?“, fragte der junge Mann, dem das tiefschwarze schulterlange Haar fransig in die Augen hing und kippte den Stuhl wieder gerade.
Ich ließ mich auf dem Stuhl ihm gegenüber fallen. „Eure Nachricht? Ihr habt mir diese Botschaft gesandt?“ Nach kurzem Überlegen fügte ich hinzu: „Seid Ihr von Sinnen? Ich dachte ich hätte etwas angestellt und würde bestraft werden.“
Glen lachte und seine blauen Augen blitzten vergnügt auf, wie sie es immer taten, wenn ihm ein Streich geglückt war. „Jetzt reg dich ab, Aaron. Ich muss etwas Wichtiges mit dir besprechen und das war die einzige Möglichkeit dich allein anzutreffen ohne Verdacht zu wecken.
„Verdacht wecken? Wovon sprecht Ihr überhaupt?“
„Ich werde das Königreich verlassen.“
Vor Fassungslosigkeit brachte ich kein Wort heraus und starrte den jungen Prinzen einfach nur ausdruckslos an. Dieser erwiderte meinen Blick entschlossen.
Erst als einige Zeit verstrichen war, löste sich meine Zunge. „Ihr …Ihr wollt… aber weshalb?“
Ruckartig stemmte der Prinz sich in die Höhe und begann damit im Zimmer auf und ab zu schreiten. „Kommst du dir nicht auch manchmal eingesperrt vor?“ Er hielt an und klopfte mit seiner rechten Hand an eine der steinernen Wände. „Seit nunmehr siebzehn Jahren lebe ich hier und seit ich denken kann, hat sich nicht das Geringste verändert. Ein Tag gleicht dem anderen, weder Menschen noch Umgebung sind mir unbekannt. Es muss doch noch etwas anderes geben.“
„Weiß Euer Vater denn über Eure Pläne Bescheid?“, fragte ich, obwohl ich mir sicher war die Antwort bereits zu kennen.
Glen verdrehte genervt die Augen. „Er würde das nicht verstehen.“
„Ihr seid der Thronfolger, Glen. Ihr könnt nicht einfach so verschwinden. Allein ist es da draußen gefährlich.“
„Wer sagt, dass ich alleine gehe“, erwiderte er und ein breites Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.
Nichts Gutes ahnend erhob ich mich und schaute ihn schief an. „Ich mag es nicht, wenn Ihr so grinst. Das hat uns noch jedes Mal Ärger beschert.“
„Jetzt komm schon, Aaron. Du wirst doch nicht auf ewig Bücher abschreiben und auswendig lernen wollen.“
„Natürlich will ich das“, vor Erregung lief nun ich auf und ab. „Glaubst Ihr ich wäre zum Spaß dem Orden beigetreten? Das ist meine Berufung, meine Lebensaufgabe.“
Mit festem Griff hielt der Prinz mich an und blickte mir bestimmt in die Augen. „Du bist noch nicht einmal zwanzig und soweit ich weiß, hast du die Stadtmauern noch nie überschritten. Und du willst mir ernsthaft klar machen, dass dich gar nicht interessiert, was es da draußen alles gibt?“
„Da draußen existiert nichts, das wir nicht auch hier haben.“ Ich riss mich los und ließ mich auf meinem Bett nieder. „Ihr könnt Euer Volk nicht einfach im Stich lassen. Vor allem nicht in diesen unruhigen Zeiten. Wartet doch wenigstens, bis die Streitereien zwischen Eurem Vater und Eurem Onkel beigelegt sind, ich bitte Euch. Übereiltes Handeln hat noch niemandem genützt.“
„Ich kann nicht noch länger warten“, sagte Glen, während er sich der Tür zuwandte. „Ich dachte du wärst mein Freund, Aaron, aber da scheine ich mich getäuscht zu haben. Ich hoffe du wirst hier glücklich. Leb wohl und möge das, woran auch immer du glaubst ein Augen auf dich haben.“
Mit diesen Worten öffnete er die Tür und bevor ich noch etwas erwidern konnte, war er verschwunden.
*
In dieser Nacht plagten mich Albträume.
Gesichtslose Wesen kamen und gingen, griffen nach mir, zogen mich mit sich in einen Strudel aus Schwärze, aus dem ich nicht mehr entkommen konnte und in dem ich ganz langsam zu versinken begann. Die Welt um mich herum war grau, trist und … völlig leer. Sie bestand aus formlosen Schatten, die waberten und wogten, zerfielen und sich erneut zusammensetzen um mich zu ersticken.
Schweißgebadet schreckte ich immer wieder hoch, wälzte mich in meinem Bett umher und versuchte Ruhe zu finden, doch es wollte mir einfach nicht gelingen. Daher stellte ich meine erfolglosen Versuche ein, zog mich an und verließ leise die Kammer.
Vor den Mauern der Abtei tobte ein Unwetter. Der Wind peitschte den Regen gegen die bunt verglasten Fenster, an denen die Tropfen wie Tränen nach unten rollten. Immer wieder erhellten Blitze die Nacht, während ich durch die leeren Gänge huschte und bei jedem Donnergrollen erschrocken zusammenzuckte.
Leisen Schrittes eilte ich zur kleinen Kapelle, die direkt an die Schlafgemächer anschloss. Die alte Tür quietschte als ich sie aufstieß. Ehrfurchtsvoll senkte ich den Kopf und betrat den kreisrunden Raum, der nur von ein paar wenigen Kerzen erhellt wurde.
Die Luft war stickig, aber kühl, sodass ich fröstelte als ich mich auf die Knie niederließ, direkt vor dem Schrein, auf dem die Finger des Heiligen Servatus, ruhten. Diese Kapelle, die nur selten von anderen aufgesucht wurde, war in den letzten Jahren zu einer Art Zufluchtsort für mich geworden. Hier konnte ich meine oftmals wirren Gedanken ordnen, um Beistand bitten oder einfach nur mit mir allein sein. Die Geschichte des Heiligen Servatus, der sich, obwohl aus reichem Hause stammend, um die Ärmsten der Armen gekümmert hatte, hatte mich schon immer in ihren Bann gezogen. Für seine felsenfeste Treue seinem Gott gegenüber, hatte man ihn zu Zeiten der großen Verfolgungen gefangen genommen und unter Folter zum Widerruf seiner Lehren gezwungen, in denen er vor allem die Staatsgewalt scharf kritisiert hatte. Jeden Finger hatte man ihm einzeln abgeschnitten, doch er hatte all den Grausamkeiten standgehalten, sodass sie ihn letztendlich mit drei seiner Anhänger in einem Moor ertränkt hatten.
Ein junger Mann fand schließlich die Fingerknochen, die Servatus im Zuge der Folter abgetrennt worden waren, nahm sie an sich und gründete ein Kloster. Inzwischen war Servatus aber in den Hintergrund getreten und von neuen Heiligen ersetzt worden. Nur noch die wenigsten kannten seine Geschichte.
Ich war einer davon.
Eine Kerze zischte und erlosch, sodass es in einer der Ecken deutlich dunkler wurde, doch ich ließ mich dadurch nicht stören. Ich fühlte, wie ich innerlich ruhiger wurde und wollte mich durch nichts mehr zur Unrast verleiten lassen.
Doch das Schicksal schien mir keine Ruhe gewähren zu wollen.
Die Flamme einer zweiten Kerze ging aus. Gleich darauf auch eine dritte und eine vierte. Innerhalb von wenigen Augenblicken war stockfinster. Obwohl ich die Augen geschlossen hatte, bemerkte ich dies und hob die Lider.
Umständlich erhob ich mich und blinzelte in die Runde. „Gibt es denn so was?“, flüsterte ich und schickte mich an die Dochte erneut zu entzünden, doch ich kam gar nicht erst dazu einen Feuerstein zu suchen.
Ein Sirren erklang und übertönte sogar noch das Toben des Sturmes. Schmerzerfüllt hob ich meine Hände an die Ohren, doch das konnte das Geräusch nicht abschirmen. Im dunkelsten Winkel der Kapelle, hinter einer Säule, schien etwas zu zucken.
Angestrengt kniff ich die Augen zusammen, um es besser sehen zu können. Langsam bewegte ich mich rückwärts auf den Ausgang zu. Das musste ein Traum sein. Was auch sonst? Jetzt verfolgten mich meine Nachtmahre schon in die Realität. Viel schlimmer konnte es wohl kaum werden.
Ein Blitz erhellte den kreisrunden Raum und im selben Moment krachte es so laut, dass die Scheiben erzitterten und ich mich von einer Druckwelle an die Wand gedrückt fühlte. Schneller als ich blinzeln konnte, hatte sich mir etwas genähert, das ich in meinem ganzen vorherigen Leben noch nicht gesehen hatte und auch nie hatte sehen wollen.
Vor Angst hielt ich den Atem an.
Das ist alles nur ein Traum. Nur ein Traum. Ein Traum.
Immer wieder flüsterte ich diese Worte laut vor mich her, doch das schien das Wesen nicht im Geringsten zu beeindrucken. Wie Gestalt angenommene Schwärze stand es vor mir, einen wabernden Arm gegen meine Brust gepresst und die seltsam hellblau funkelnden Augen zu gefährlichen Schlitzen verengt. Nase oder Mund konnte ich nicht erkennen, doch das hinderte es nicht daran zu sprechen.
„Sei gegrüßt, Mensch“, schnarrte es, wobei seine Stimme den ganzen Raum erfüllte, von den Wänden widerhallte und ein Vibrieren in der Luft auslöste. Mein ganzer Körper erbebte und vor Angst hätte ich mir beinahe auf die Zunge gebissen.
Ein leises Wimmern entrang sich meiner Brust als das Wesen fester zudrückte. „Ihr seid schon seltsame Geschöpfe“, fuhr es zu reden fort. „So kühn, wenn es darum geht, über Dinge zu sprechen, von denen ihr keine Ahnung habt. Wenn es aber darum geht, etwas zu tun, das in eurer Macht stünde, dann kneift ihr und zieht den Schwanz ein, wie verängstigte Wölfe.“
Ein ekelhafter Geruch stieg mir in die Nase, als sich sein Gesicht dem meinen näherte.
„W…was…?“, brachte ich nur hervor, bevor es mich unterbrach. „Was ich bin? Das willst du doch wissen, oder?“, krächzte es. „Im Grunde ist es aber nicht von Belang, was wir sind. Was zählt ist, was wir tun, meinst du nicht auch?“ Ich war nicht dazu im Stande etwas zu erwidern, woraufhin mich das Wesen grob schüttelte. „Meinst du nicht auch?“ Hastig nickte ich zustimmend und betete dabei inständig, das das alles nur ein äußerst lebhafter Traum war, dass ich immer noch in meinem Bett lag und mich vor Angst hin und herwälzte.
Ein bösartiges Lachen erfüllte den Raum und eine Gänsehaut breitete sich auf meine Armen aus. „Ein Traum soll ich sein? Fühlt sich so etwa ein Hirngespinst an?“ Mit diesen Worten versetzte es mir einen wuchtigen Schlag, sodass ich hart auf den Boden knallte. Sofort wollte ich mich wieder aufrichten, aufspringen, die Tür auftreten und flüchten, doch schon war das Wesen über mir. Scharfe Klauen blitzten in der Dunkelheit auf und im nächsten Moment durchzuckte ein grausamer Schmerz meinen ganzen Körper und etwas Warmes tropfte von meiner linken Schulter.
Mit fahrigen Fingern tastete ich danach, doch schon traf mich ein weiterer Schlag und diesmal knallte ich so hart mit dem Kopf auf, dass sich meine ohnehin durch die Dunkelheit schon eingeschränkte Sicht noch verschlechterte.
„Ihr seid so dumm“, lachte das Wesen, von dem ich zu diesem Zeitpunkt überzeugt war, dass es ein Dämon sein musste. Ein Geschöpf der Dunkelheit, das gekommen war, um meine Seele mit sich zu nehmen, möglicherweise sogar um sich meinen Körper anzueignen und ich lag einfach nur da, wie betäubt und konnte nichts dagegen tun. Ich war wehrlos.
„Das war nur ein Vorgeschmack auf das, was kommen wird“, hörte ich die schnarrende Stimme ganz dicht an meinem Ohr. „Ich bin nur ein Bote, Sterblicher. Was mir folgt, wird dir noch viel weniger gefallen, glaube mir.“
Noch war mir nicht klar, wie wahr seine Worte werden sollten. Noch ahnte ich nichts von dem Unheil, das uns allen bevorstand. In diesem Augenblick als mir das Wissen zuteil wurde, das uns alle hätte retten können, war ich nicht stark genug, um dies zu erkennen. Zu diesem Zeitpunkt war das einzige, das für mich Bedeutung hatte, mein Leben und dieses hing an einem brüchigen Faden, der immer weiter gespannt wurde und im allernächsten Moment gänzlich entzwei reisen würde.
*
Noch lange lag ich in dieser Nacht so da, lauschte voller Grauen dem röchelnden Atem des Dämons und wartete auf den endgültig letzten Schlag, der mich aus diesem Leben reißen sollte. Doch, entgegen all meiner Erwartungen geschah nichts dergleichen.
Mehrmals vernahm ich ein Knirschen und Knacken, ein Schnaufen und Stöhnen, doch ich wagte nicht, den Kopf zu heben. Gelähmt vor Furcht drückte ich mich gegen den Boden, als könne ich im nächsten Moment damit verschmelzen. Die Augen hielt ich fest geschlossen. Erst ein grauenvoller Schrei, der mir durch Mark und Bein ging, veranlasste mich dazu, aufzuspringen und ehe ich zur Tür hinaus stürzen konnte, erkannte ich, dass ich allein war. Das Wesen, das den tiefsten Schatten der Dunkelheit entsprungen zu sein schien, war verschwunden. Geblieben waren einzig zwei Worte, die in großen Lettern an die Wand geschmiert worden waren:
WIR KOMMEN!
© Fianna 09/02/2012