Verfolgt von grauen Schatten lief er durch die Nacht. Vorbei an bedrohlich wirkenden Eichen, die mit ihren knorrigen Ästen nach ihm zu greifen schienen, während er von den Raben, die hoch am Himmel kreisten verhöhnt wurde. Ein Ast peitschte ihm ins Gesicht, hinterließ blutige Striemen und für einen Moment musste er die Augen schließen. Als er sie wieder öffnete und sich nach seinen Häschern umwandte, hatten diese ihn fast erreicht. Ihre Glieder schienen in die Länge zu wachsen und aus den Schemen wurden Gestalten mit fratzenhaften Gesichtern, die vor Hunger aufheulten. Sie hatten Blut geleckt.
Und alles was er tun konnte, war weiter zu laufen, über Wurzeln und Steine zu stolpern, sich wieder zu fangen und nicht an die grausamen Bisswunden zu denken, die diese Monster seinem Bruder zugefügt hatten.
Ein ohrenbetäubender Schrei erklang, ließ ihn zusammenfahren und genau in diesem Moment traf ihn etwas Schweres im Rücken und warf ihn zu Boden. Unvermittelt fuhr ihm ein grausamer Geruch in die Nase. Er vernahm noch ein schmatzendes Geräusch, spürte, wie ihm etwas Warmes die Wirbelsäule entlang hinab lief, bevor er endgültig das Bewusstsein verlor…
*
Die wärmenden Strahlen der Sonne weckten ihn aus dem Schlaf. Ruckartig schlug er die Augen auf und musste unwillkürlich niesen, woraufhin ihm ein grausamer Schmerz durch den ganzen Körper fuhr. Alles verschwamm und er brauchte einige Zeit, um sich wieder zu fangen. Keuchend hockte er im Bett und versuchte an nichts zu denken. Nur langsam vergingen die Krämpfe und er konnte wieder einigermaßen normal atmen.
Vorsichtig streckte er sich und stand dann seufzend auf.
Seine Beine waren noch immer schwach,
als wäre er tatsächlich gerade meilenweit gelaufen. Wie jeden Morgen trat er zuerst an das Kellerfenster heran, das sein einziger Zugang zur wirklichen Welt war und warf blinzelnd einen Blick nach draußen. Das einzige, das er sehen konnte, waren ein Teil des blauen Himmels, der Ausschnitt eines Baumes und ein kleines Büschel Gras. Seit Tagen hatte er nichts anderes mehr zu Gesicht bekommen, doch heute entdeckte er etwas Neues. Ein wenig abseits, gerade noch in seinem Blickfeld, schien jemand etwas verloren zu haben. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um es genauer sehen zu können. Nur ein paar Zentimeter entfernt lag, vom nächtlichen
Regen völlig durchnässt, ein kleiner brauner Teddybär, der ihn trotz der Unannehmlichkeiten, die er durchleben hatte müssen, aus freundlich lachenden Glasaugen ansah.
„Könnte ich doch nur so gleichgültig und emotionslos sein wie du“, murmelte er und wandte sich schließlich um. Sein Spiegelbild starrte ihn von der gegenüberliegenden Seite des Raumes her an. Seine Wangen waren eingefallen und unter seinen Augen waren dunkle Tränensäcke zu erkennen. Eine grausige Narbe zierte sein Gesicht von der linken Augenbraue bis zum Kinn und verlieh ihm ein verwegenes, fast schon furchteinflößendes Äußeres. Gelangweilt
blies er die Backen auf, sodass seine Züge nun einem Kugelfisch hätten ähneln müssen, doch dem war nicht so. Stattdessen begann sein Spiegelbild zu grinsen und zwar auf eine abgrundtief böswillige Art. „Ach komm schon, Neo“, sprach es und zwinkerte ihm verschwörerisch zu. „So langsam solltest du einsehen, dass das alles nur zu deinem Besten ist.“
Wütend stampfte der Angesprochene mit dem Fuß auf, ballte die Fäuste und trat einen Schritt auf den großen Spiegel zu. „Ihr habt kein Recht, mich hier festzuhalten! Ich habe euch nicht das Geringste getan!“
„Aber das könntest du“, erklärte sein
Gegenüber gelassen und lachte schelmisch. „Du hast ja keine Ahnung, wozu du in der Lage bist.“
Neos Augen sprühten geradezu vor Hass. Hätten Blicke töten können, so wäre er in diesem Moment wahrscheinlich selbst zugrunde gegangen. Schnaubend begann er damit im Raum auf und abzugehen. Dabei fielen ihm tiefe Kratzspuren in den Wänden seines Gefängnisses auf. Stirnrunzelnd trat er näher und betrachtete sie eingehend. Halb getrocknetes Blut klebte am Stein.
„Was…“, flüsterte er und drehte sich dann abrupt zu seinem Gesicht um. „Was ist heute Nacht passiert?“, fragte er und ließ sich auf dem Stuhl nieder, der vor
der Wand stand, in die der Spiegel eingelassen worden war.
„Das musst du nicht wissen“, gab dieser unbeeindruckt zurück.
„Wenn ihr mich schon hier festhaltet, dann könnt ihr mir doch wenigstens verraten, was mit mir geschieht? Ich habe keine Lust mehr, mir Rätsel von dir anzuhören und mich von Albträumen geplagt auf dem Bett herumzuwälzen. Was hofft ihr in meinen Gedanken zu finden? Weshalb quält ihr mich so?“ Zornestränen traten ihm in die Augen und bei jeder seiner Fragen schlug er mit der Faust gegen die Wand und zwar so fest, dass seine Knöchel zu bluten begannen.
„Es nützt dir nichts, dich zu verletzen.
Du kannst froh sein, dass wir dich aufgenommen haben. Die hätten dich zerstückelt, gerädert, gevierteilt, möglicherweise sogar verbrannt, wenn sie erst herausgefunden hätten, was du bist.“
Schnaubend erhob Neo sich. „Verbrannt? Was glaubt ihr eigentlich wo, oder wann wir sind? Hexenverbrennungen gibt es nicht mehr. Die Menschen haben dazugelernt.“
„DAS GLAUBST ABER AUCH NUR DU“, erklang plötzlich eine Stimme in seinem Kopf, die ihn nur noch wütender machte.
„Du!“, brüllte er in dem Wissen, dass ein einziger Gedanke ausgereicht hätte, doch er musste seinem Ärger Luft machen,
ansonsten würde er ihn innerlich auffressen. „Tritt mir gefälligst unter die Augen, wenn du mit mir sprichst, damit ich dir eine verpassen kann! Du verdammter …!“
Ein Energiestoß schoss durch seinen Körper, lähmte ihn für einen kurzen Augenblick und schleuderte ihn anschließend mit voller Wucht gegen die gegenüberliegende Wand. „WAGE ES NICHT, SO MIT MIR ZU SPRECHEN, MENSCH!“
Vor Neos Augen tanzten bunte Punkte umher. Sein Geist war wirr und er konnte sich nicht bewegen. Wie festgeklebt verharrte er an der Wand, von einer unsichtbaren Kraft gehalten,
die ihm den Brustkorb zuschnürte. Er bekam kaum noch Luft.
„DU HAST DIR DEIN SCHICKSAL SELSBT ZUZUSCHREIBEN“, fuhr die körperlose Stimme fort. „DU MUSSTEST DICH IN DINGE EINMISCHEN, DIE DICH NICHTS ANGEHEN. DU HAST UNS GEWECKT UND NUN MUSST DU MIT DEN KONSEQUENZEN LEBEN.“
Von einem Moment zum anderen wurde es im Raum unvorstellbar heiß. Die Luft begann zu vibrieren und war kaum noch zu atmen. Neo, der der Ohnmacht ohnehin schon ziemlich nahe war, schloss gequält die Augen und stieß ein leises Stöhnen aus.
Dann ließ der Druck nach und die
unnatürliche Hitze verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Kraftlos sackte er in sich zusammen und verharrte minutenlang in dieser unbequemen Position, beobachtet von seinem hämisch grinsenden Spiegelbild.
„Soll ich dir dein Horoskop vorlesen?“, fragte dieses nun, doch Neo rührte sich nicht. „Ich entsinne mich gelesen zu haben, dass es heute für dich heiß werden könnte.“ Ein humorloses, schadenfrohes Lachen erklang, doch auch darauf reagierte der Angeschlagene nicht.
„Jetzt komm schon, das wirst du ihm doch nicht übel nehmen. Schließlich war er es der dich gefunden hat, mitten auf
der Autobahn liegend. Wenn er nicht gewesen wäre, dann wärst du jetzt tot.“
„Das wäre auch besser so“, knurrte Neo und richtete sich langsam in eine sitzende Position auf. Irgendetwas an ihm hatte sich verändert. Äußerlich war es nicht zu erkennen, doch seine Seele hatte soeben Schaden genommen. Etwas in ihm war endgültig zerrissen, zersprungen wie ein zerbrechlicher Glaspalast und hatte etwas freigelassen, das auf immer hätte eingesperrt bleiben sollen. Jedenfalls hätten manche so gedacht.
Ein wilder, entschlossener Ausdruck trat auf sein Gesicht und mit einem Ruck erhob er sich, baute sich zu seiner vollen
Größe auf und trat auf den Spiegel zu.
„Neo?“ Sein Ebenbild schien plötzlich beunruhigt zu sein. „Neo, was machst du da?“, fragte es, als der Mann mit einer Hand ausholte. „Du kannst mich nicht zerstören. Hast du schon vergessen, was das letzte Mal passiert ist, als du es versucht hast?“ Die Stimme klang unsicher, doch der Mann schien sie nicht einmal wahrzunehmen.
Als hätte er alle Zeit der Welt, hielt er seine Hand ein paar Sekunden in der Schwebe. Dann ließ er sie nach vorne schnellen. „Ihr hattet eure Chance!“, brüllte er und seine Stimme erfüllte den ganzen Raum.
Ein Klirren erklang und sein Gesicht
zersprang in tausend kleine Scherben, die sich im ganzen Raum verteilten, seine Haut streiften und ihm blutige Wunden zufügten. Eine davon traf sein Auge, doch er bemerkte es nicht. Halb geblendet trat er mit dem Fuß zu und im nächsten Moment erklang ein ohrenzerfetzendes Kreischen. Neos Arm – und Nackenhaare stellten sich auf, doch es geschah nichts. Anstelle des Spiegels tat sich eine Tür auf, die der Mann rücksichtslos auftrat, ohne erst zu versuchen sie auf gewöhnliche Weise zu öffnen.
Dahinter erstreckte sich ein langer, weißer Gang, der in gespenstisches Licht getaucht war. In einiger Ferne glaubte er
das Geräusch einer Sirene zu vernehmen.
Ziellos schritt er den Korridor entlang, entschlossen bis zum letzten Atemzug für seine neu gewonnene Freiheit zu kämpfen. Schließlich gelangte er in einen hell erleuchteten Raum. Aus weit aufgerissenen Augen starrten ihn zwei Frauen an. Eine hielt eine Waffe in der Hand und zielte auf den, der auf sie zukam. „Sofort stehen bleiben“, befahl sie, „oder ich schieße.“ Ihre Hand zitterte und in ihren Augen stand abgrundtiefe Angst geschrieben. Die zweite versuchte krampfhaft sich so klein wie möglich zu machen.
Neo ignorierte sie beide.
Schnurstracks schritt er auf den einzigen
Ausgang zu.
„Stehen bleiben“, habe ich gesagt“, schrie die Frau mit überschlagender Stimme. Neo konnte ihre Angst fast riechen. Ein Schuss löste sich und die Kugel schoss auf den Ausbrecher zu. Innerhalb von Hundertstel Sekunden drehte der sich herum, fing das Geschoss aus der Luft und schleuderte es mit solcher Wucht zurück, dass es nicht nur den Körper der Frau durchschlug, die geschossen hatte, sondern auch den derjenigen, die versucht hatte, sich zu verstecken.
„Ihr hättet mich einfach ziehen lassen sollen“, murmelte er und stieß die nächste Tür auf. Sonnenlicht empfing
ihn und blendete ihn im ersten Augenblick. Vogelgezwitscher drang an seine Ohren, doch das Geräusch wurde vom Rattern eines Hubschraubers durchbrochen. Neo hob den Blick und sah nach oben. Sie würden ihn nicht einfach so gehen lassen. Das wusste er. Schnellen Schrittes lief er los, doch als er an dem Baum vorbeikam, den er von seiner Zelle aus hatte sehen können, blieb er noch einmal stehen, wobei sein Blick auf den Teddybären fiel, der dort im Gras lag. Zögernd ging er darauf zu und hob ihn auf.
Ein Lachen veranlasste ihn dazu, sich herumzudrehen. Gerade eben war ein kleines Mädchen um die Ecke gebogen
und kam schnurstracks auf ihn zu. Innerlich spannte er sich an, als sie ihn anlachte und glücklich strahlend vor ihm stehen blieb.
„Hände in die Höhe und umdrehen!“, ertönte da eine Stimme aus einem Lautsprecher. Unschlüssig blickte Neo sich um. Von rechts näherten sich drei Männer mit schusssicheren Westen, während über ihm ein Hubschrauber kreiste.
„SIEHST DU ES JETZT EIN, NEO! DU WIRST NIE FREI SEIN. DEINE KRANKHEIT WIRD DICH AUF EWIG VERFOLGEN. DU BIST IHR HILFLOS AUSGELIEFERT.“
„Das ist nicht meine Krankheit“,
erwiderte Neo bestimmt. „Ihr seid es, die mich krank machen, ihr!“ Ein unmenschliches Brüllen entrang sich seiner Brust. Von hinten hatten sich zwei Männer an ihn herangeschlichen und hatten sich gerade zum Sprung bereit machen wollen, als er sich zu ihnen umdrehte und dem ersten mit nur einer Hand das Genick brach. Den anderen, der soeben panisch die Flucht ergreifen wollte, packte er am Arm und zerrte ihn zu sich heran. Dann schnürte er ihm mit seiner Hand die Luft ab, bis er erstickt war. Während diesem ganzen grausigen Geschehen war das Mädchen vor ihm gestanden und hatte ihn aus großen Augen angestarrt.
Doch es war nicht wirklich Angst, die sich in ihrem Blick spiegelte, sondern grenzenloses Unverständnis.
Neo wandte sich ihr zu.
„Lassen Sie das Mädchen in Ruhe“, rief eine Stimme, doch er überhörte sie und trat auf es zu. In seinen Augen blitzte der Wahnsinn auf. Doch das Kind blieb völlig regungslos stehen, die Augen auf sein Gesicht geheftet und sagte kein Wort.
„So spritz ihm doch endlich einer dieses verdammte Alraunenserum!“
Langsam streckte er eine Hand aus, auf das Mädchen zu.
„Schießen“, erschallte ein Schrei und beinahe zeitgleich zischten Kugeln aus
gleich sechzehn Waffen auf den Ausgebrochenen zu. Jede einzelne traf ihr Ziel. Neo bäumte sich auf, schnappte nach Luft und hätte eigentlich sofort in sich zusammensacken müssen, doch dies geschah nicht. Unter höchster Willensanstrengung hielt er sich auf den Beinen und brachte die angefangene Bewegung zu Ende. Wortlos, während ihm eine einzelne Träne übers Gesicht rollte, hielt der dem Mädchen den Teddybären hin, auf den irgendwie ein Tropfen Blutes gelangt war.
Das Mädchen streckte die Hand danach aus und kaum hatte es das Stofftier an sich genommen, da verließen Neo alle Kräfte und er fiel vor ihr zu Boden.
Alle Geräusche um ihn herum verstummten, während sich ihm Dutzende von Männern näherten, in der Angst, er könne sich wieder erheben und sie alle zusammen in den Tod schicken. Manche traten nach ihm, spuckten ihn an, beschimpften ihn.
In einigen Metern Entfernung fuhr eine Schwebebahn vorbei und hielt unvermittelt an. Niemand stieg aus, doch sie verharrte, als würde sie auf etwas warten, oder auf jemanden.
„HIER ENDET SIE NUN, DEINE REISE“, erklang noch einmal die körperlose Stimme in Neos Kopf, kurz bevor er endgültig aus diesem Leben ging.
*
So hatten sie ihn letzten Endes doch noch geholt, die Schatten seiner Kindheit. Von allem Anfang an war er geprägt gewesen, hatte eine ungewöhnliche Kraft in ihm gewohnt, die von vielen gefürchtet und von einigen wenigen begehrt worden war. Ihm selbst hatte sie nichts als Unheil gebracht, Unheil und Albträume, die sein Gehirn vernebelten und ihn zu einem willenlosen, von Schmerzen geplagten Wesen gemacht hatten.
Und niemanden hatte es gekümmert.
Denn diejenigen, die sich fürchten, kennen kein Mitleid und die, die die nach
Macht streben, sind darüber erhaben.
Zum Schluss bleibt einem nur das, was jeder hat, das aber nicht von allen verstanden wird:
Der Wert des eigenen Entschlusses.
Das Wissen im Tode frei zu sein.
© Fianna 05/02/2012