Bücher sind fad
„Bücher sind fad!“, findet meine Enkelin und räumt schnell alle Bücher, die sie zu Weihnachten bekommen hat, in die unterste Lade ihres Schreibtisches. Dabei haben wir uns so bemüht – ihre Mutter und ich – wirklich schöne und für ihr Alter passende Bücher auszuwählen.
Zugegeben, für ´Die schönsten Sagen des klassischen Altertums" ist sie vielleicht mit ihren knapp neun Jahren doch noch zu jung. Doch weder ´Die schönsten Märchen aus dem Tierreich´ noch ´Ein Blick in Omas Geschichtenkiste´ können sie wirklich begeistern. „Da gibt es ja keine bunten Bilder“, lautet ihr kurzer Kommentar. Auch die ´Märchen der Gebrüder Grimm´ blättert sie nur kurz durch und schon verschwinden sie in der Lade. ´Märchen und Geschichten´, einen wirklich reich illustrierten, handlichen Sammelband alter und neuer Märchen, hat sie nicht einmal richtig ausgepackt. Gerade damit wollte ich ihr eine besondere Freude bereiten, denn das Buch enthält auch viele Teddygeschichten und mit Teddybären hat sie früher immer sehr gerne gespielt. Nein, Bücher sind wohl doch nicht das Richtige für sie. Ihr finsterer Blick spricht Bände. Bei der nächsten Gelegenheit fliegen sicher alle in den Müll, kommt mir in den Sinn.
Ich bin etwas enttäuscht. Warum denn dieses sonst so aufgeweckte Kind so gar kein Interesse an Märchen und Geschichten zeigt, ist mir ein Rätsel. Was hätte ich in ihrem Alter für ein Buch gegeben, doch damals in der Nachkriegszeit zählten für mich auch Bücher zu den unerreichbaren Luxusgütern. Meine Mutter war froh, wenn sie mich nicht hungrig ins Bett stecken musste, und ich zumindest für den Winter halbwegs passende Schuhe hatte – den ganzen Sommer über lief ich damals sowieso barfuss. Für Bücher Geld auszugeben – unvorstellbar.
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„Schade, ich dachte dir würden die Bücher gefallen und wir könnten gemeinsam das eine oder andere Märchen daraus lesen.“
„Na ja, wenn du unbedingt willst, aber zuerst musst du mir vorlesen,“ lenkt sie jetzt bereitwillig ein. „Weißt du, selber lese ich nicht so gerne. Fernsehen gefällt mir besser.“
„Einverstanden! Ich lese das erste Märchen vor. Mit welchem Buch beginnen wir?“
„Ich weiß nicht. Such dir eines aus, Oma! Hast du, als du noch klein warst, auch immer so viele Bücher vom Christkind bekommen?“
„Leider nicht. Als ich so alt war, wie du, besaß ich kein einziges Märchenbuch. . Es war eine bittere Zeit. Damals sah es bei uns genau so aus, wie auf den Bildern, die das Fernsehen jeden Tag in den Nachrichten zeigt - Steine, Trümmer, Soldaten. Es gab in den Geschäften nichts zu kaufen, ja es gab fast keine Geschäfte. Viele Schaufenster waren mit Brettern vernagelt, da die Glasscheiben ja längst zerbrochen waren und Glas um neue Scheiben einzuschneiden war nirgends aufzutreiben, ja und vor allem – es gab noch kein Fernsehen.
Meine Märchen waren die Geschichten, die mir meine Großmutter abends, wenn wir alle schon in den Betten lagen, leise erzählte. Meistens Erinnerungen an ihre eigene, schwere Kindheit. Weißt du, sie war ein Waisenkind und hatte keine Verwandten. Sie hatte keine Spielsachen, ja oft nicht einmal ein eigenes Bett und genug zu essen. Sie konnte sehr spannend erzählen und ich freute mich jeden Tag schon auf den Abend und auf die nächste spannende Geschichte. Sie erzählte mir von ihren bösen Pflegeeltern, die sie fast täglich schlugen und von den schwarzen Ziegen, bei denen sie im warmen Stall schlafen durfte. Weil sie tagsüber mit den Ziegen auf die Weide gehen musste, konnte sie auch nicht regelmäßig die Schule besuchen. Nur manchmal schlich sie sich morgens heimlich aus dem Haus, um in die Schule zu gehen, denn dort gab es täglich eine warme Mahlzeit und eine nette Lehrerin, die sich sehr um sie bemühte. Dieser guten Frau hatte sie es letztendlich auch zu verdanken , dass sich die Fürsorge einschaltete und sie zu netteren Pflegeeltern kam, zu Holzfällern. Die saßen abends um ein Lagerfeuer, tranken aus großen Krügen Wein und erzählten lustige Geschichten. Wenn sie genug getrunken hatten, begannen sie zu singen und tanzen, oft bis spät in die Nacht. Manchmal erzählte sie auch Geschichten aus dem Waisenhaus, doch das waren meist traurige Geschichten.
Mein erstes eigenes Buch war kein Märchenbuch, sondern das Lesebuch der ersten Volksschulklasse. Meine Mutter hatte es übertragen gekauft – ein neues wäre zu teuer gewesen – es war aber noch gut erhalten. Jeden Tag habe ich mehrmals darin geblättert, ich war ganz fasziniert von den bunten Bildern und wollte unbedingt sofort lesen lernen. Das erste Bild sehe ich noch deutlich vor mir. Es war ein großer Apfelbaum mit vielen Äpfeln und darunter stand eine Leiter. So lernten wir das kleine und das große A schreiben.“
„Und woher kennst du dann die meisten Märchen? Hast du überhaupt jemals ein eigenes Märchenbuch gehabt, Oma?“
„Oh ja. Ich erinnere mich noch ganz genau an mein erstes eigenes Märchenbuch. Ich bekam es an meinem zehnten Geburtstag. Es war ein wunderschönes Buch mit vielen Bildern. Schneewittchen, Rotkäppchen, Hänsel und Gretel und noch viele andere Märchen gab es darin. Jeden Tag las ich mindestens ein Märchen, ich habe nämlich immer sehr gerne gelesen. Ich glaube, das Buch liegt noch immer auf unserem Dachboden. Wenn du willst, kann ich ja einmal nachsehen.“
„Oh ja, Oma bitte suche es. Liest du mir dann das Märchen vor, das dir am besten gefallen hat, am allerbesten? Und jetzt erzähle mir bitte eine von den schönen Geschichten, die dir deine Großmutter immer abends im Bett erzählt hat. Bitte! Bitte!“
„Na, komm her zu mir, meine kleine Schmeichelkatze. Wir machen es uns hier in der Sitzecke gemütlich.“ Ich setze mich auf das Sofa und nehme mein kleines, großes Mädchen fest in den Arm. Leise beginne ich zu erzählen:
„Es war einmal vor vielen, vielen Jahren ein kleines Mädchen, das hieß Antonia. Als Antonia ungefähr so alt war wie du jetzt, lebte sie vielen anderen Kindern zusammen in einem großen Waisenhaus, denn sie hatte keine Eltern mehr...