Episode 1 - Tor der Wünsche
„Noch nie von gehört“, gestand Joy schniefend. Kyrill reichte ihr ein Taschentuch und begann seine Erklärung.
„Angeblich soll an jedem 31. Tag des Monats um genau 06:13 ein Tor erscheinen, das einen in eine andere Welt bringt, wo einem die unbewussten Wünsche erfüllt werden.“
„Was für ein Müll“, platzte es förmlich aus Joy heraus. Sie putzte sich kräftig die Nase und meinte:
„Ein Tor, das einem Wünsche erfüllt? Hört sich an wie vorpubertäres Geschwätz.“
„Sagt gerade die Richtige…“, murmelte Kyrill und atmete erleichtert, als sein Geflüster in ihrem Niesen unterging.
„Hast du was gesagt?“
„Die Sache hat einen Haken. Man bleibt für genau 12 Minuten in der anderen Welt… Doch erstens kehren nicht alle zurück. Und jene, dich es geschafft haben zurückzukehren, sind verändert. Teils völlig neue Personen, die zugeben, dass ihre Wünsche erfüllt wurden, sich aber im gleichen Atemzug wünschen, dass sie das Tor nie betreten hätten.“
„Ein Tor, das einen dazu bringt, seine Wünsche zu bereuen?“
„Scheint so.“
„Hmm…“
„Interessiert?“
„Als ob. Aber das ist eine gute Gelegenheit dir zu beweisen, dass das alles nur Mist ist. Wenn du das alleine machst, trau ich dir noch zu, dass du mir was vorschwindelst, um mir einen auszuwischen.“
„Ist das wirklich so?“, Kyrill sah sie mit einem wissenden Ausdruck von der Seite an. Fast augenblicklich plusterte sich Joy auf und meckerte:
„Natürlich! Ich glaube nicht an so einen Unsinn. Das ist Kinderkram!“
„Sonderlich erwachsen hast du dich vorhin nicht verhalten.“
„Kyrill“, ihr Blick und Stimme waren drohend, „Katzen sind etwas anderes. Die sind einfach zu süß!“
Dann nieste sie wieder heftig und Kyrill meinte ungerührt, noch immer mit jenem wissenden Lächeln:
„Also dann treffen wir uns übermorgen um 6 Uhr am Spielplatz beim alten Wald? Da soll das Tor angeblich erscheinen.“
Joy sah ihn noch einmal kritisch an, schloss dann die Augen und nickte.
„Du wirst schon sehen was du davon hast. Nämlich nur meinen Zorn so früh aufstehen zu müssen.“
„Das werden wir sehen. Und wenn ja, dann kann ich damit leben. Von dir bin ich schlimmeres gewohnt.“
Mit schwarzen Stiefeln, die ihr bis zu den Waden reichten, einer dunkelblauen Jeans und einer dicken Winterjacke kämpfte sich Joy ihren Weg durch die Felder zu dem alten Spielplatz, der schon lange von niemanden mehr benutzt wurde. Die Holzgestelle der Schaukeln und Rutschen waren verwittert und drohten bei der kleinsten Belastung in einander zu fallen, die Wippen existierten bereits nur noch in Form von zwei durchgebrochenen Holzstücken und die Fläche des Sandkasten wurde bereits von den kniehohen Gräsern der Umgebung zurückgefordert. Die Sonne war gerade erst dabei aufzugehen und tauchte damit den gesamten Spielplatz in ein rötliches Zwielicht, das nur durch den Wald im Hintergrund, ein einnehmendes schwarzes Monster, unterbrochen wurde.
Kyrill lehnte bereits an dem Gestell der Schaukel und wartete auf sie. Als er sie entdeckte, breitete sich ein zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht aus.
„Du bist fünf Minuten zu früh“, begrüßte er sie.
„Leider. Ich konnt die ganze Nacht nicht schlafen und bin jetzt nur hier, weil ich mich auf diesen Blödsinn eingelassen habe.“
„Du hättest auch noch versuchen können zu schlafen. Gestört hätte es mich nicht.“
„Hmpf! Versprochen ist versprochen.“
„So so…“
„Was so so?“
„Du bist nicht ehrlich.“
„Was? Wieso sollte ich das nicht sein? Glaubst du etwa, ich würde doch an den Kram glauben? Das kann doch nicht dein Ernst sein! Ich bin nur hier, damit du mir keinen Mist erzählst. Nichts weiter… Mehr nicht, hast du gehört! Und wisch dir das doofe Grinsen aus dem Gesicht!“
„Immer wenn du lügst, um etwas zu vertuschen, fängst du an zu puffeln“, schmunzelte Kyrill und ließ Joy damit verdattert blinzeln, bis sie ihm energisch entgegensetzte:
„Puffeln? Was soll das denn bitte sein? Ich glaub nicht an den Kram. Ich bin nur hier, damit du mir nichts vormachen kannst!“ Dann glitt Kyrills Blick über ihre geröteten Wangen und roten Ohrläppchen, was sein Grinsen nur noch weiter vergrößerte. Joy bemerkte seinen Blick und wollte gerade anfangen sich zu rechtfertigen, als Kyrill ihr zuvorkam und meinte:
„Es ist gleich Zeit. Irgendwo hier sollte das Tor erscheinen. Und zwar ziemlich genau in einer Minute.“
Joy stemmte ihre Hände in die schmalen Hüften, bestrafte ihn noch mit einem Blick und betrachtete dann angestrengt das offene Gelände. Kyrill ging darauf auf die Schaukeln zu und erklärte:
„Angeblich solls hier hinter den Gestellen auftauchen… Noch 30 Sekunden. Ich bin mal gespannt.“
Schweigend folgte Joy ihm und griff nach seiner Hand, sobald sie ihn erreicht hatte. Über die Schulter warf Kyrill einen ruhigen Blick auf ihr blasses Gesicht, dessen Augen beschämt auf den Boden gerichtet waren. Für einen kurzen Moment betrachtete er sie eingehend und sah dann wieder nach vorne. Dabei umschloss er ihre zerbrechlichen Finger mit einem sanften, aber festen Griff. Dicht hinter ihm folgte Joy und erst als ein dunkles Licht auf dem Feld auftauchte, blieb er stehen. Mit versteinerten Gesichtszügen beobachtete er, wie sich eine Kugel aus dunkelbraunem Licht aus der Erde herausschälte. Sie wirkte dabei wie ein Wassertropfen, zerbrechlich und empfindlich. Die Oberfläche wellte sich, wie ein kleiner See und doch wusste Kyrill, dass sie massiv und hart wie Stein war. Joy zog scharf die Luft ein und versteckte sich dicht hinter seinem Rücken. Ihre Augen waren weit aufgerissen und fest auf die Lichtkugel gerichtet. Dann spürte er ein leichtes Zittern, das ihren Körper erfasste. Sanft drückte er ihre Hand, wartete einen Augenblick und ging dann weiter auf die Kugel zu. Joy klammerte sich darauf mit beiden Händen an seine Hand und folgte ihm widerwillig.
„Neh Kyrill, lass uns abhauen. Das ist unheimlich. Auch wenn es ein Trick ist, ich hab Angst“, flüsterte sie panisch gegen seinen Rücken. Doch gerade als er antworten wollte, veränderte sich die Kugel. Es schien als würde sie platzen. In Zeitlupe löste sich die Spannung der Oberfläche und das Licht rauschte in die Breite. Dann ging es alles ganz schnell. Die braune Masse erstrahlte plötzlich in einem grellen Gelb. Joy stieß einen spitzen Schrei aus und drückte sich gegen Kyrill, der die Augen zusammenkniff, um etwas erkennen zu können. Einen Wimpernschlag später erlosch das Licht fast vollständig. Alles, was übrig blieb, war ein schwach glimmendes Gebilde von zwei Metern Höhe und etwa einem Meter Breite. Die Spitze der Tür, war es, die Kyrills Aufmerksamkeit zuerst fesselte. Es hatte die Form einer altertümlichen Sanduhr. Doch anstelle von Sand schwebte im oberen Behälter ein einziger Augapfel, während die zweite Kammer einen knochigen Kiefer enthielt, der ebenfalls der Schwerkraft trotzte. Kyrill brauchte einige Augenblicke, um sich von dem Anblick loszureißen und zu erkennen, dass der Rest des Gebildes eine Tür darstellte. In der Mitte, etwa auf seiner Augenhöhe, war ein Fenster aus milchigem Eingelassen, hinter dem hektisches Spiel bunter Farben stattfand. Darunter befand sich eine Klinke, die mit einem sanften, blauen Glimmen lockte.
„Was zum…“, stieß Lyra schockiert hervor, als sie über Kyrills Schulter lugte und ihn damit aus seiner Starre riss. Sein Blick wanderte zu ihr und er meinte mit rauer Stimme:
„Sieht so aus, als hätte ich Recht gehabt.“
„Dann lass uns gehen. Bitte Kyrill, ich hab ein ganz schlechtes Gefühl“, flehte ihn Joy an. Doch dann ertönte eine tiefe, hallende Stimme:
„Das ist eine dumme Idee, Mädchen. Ergreif die Chance und deine Wünsche werden dir erfüllt. Willst du diese Gelegenheit wirklich verstreichen lassen?“
Erschrocken schrie Joy auf, zuckte hinter Kyrills breitem Rücken zusammen. Dann lugte sie wieder vorsichtig, am ganzen Leib zitternd, über seine Schulter und suchte nach der Quelle der Stimme. Als ihr Blick auf die Sanduhr fiel, ergriff die Leichenblässe Besitz von ihrem Gesicht. Der Augapfel war geradewegs auf sie gerichtet und der fleischlose Kiefer vollführte den makabren Tanz eines lautlosen Lachens. Unbewusst stützte sie sich an Kyrill ab, damit ihre Beine nicht unter ihr nachgaben. Dieser merkte es, schluckte einmal, ballte die Fäuste und fragte:
„Bist du das Tor der Wünsche?“
Mit einer ruckartigen Bewegung fokussierte der Augapfel Kyrill.
„So ist es. Man nennt mich auch Desidera. Soll ich dir deine Wünsche erfüllen, Junge?“ Passend zu den Worten veränderte der Kiefer die Abfolge und Geschwindigkeit seines Tanzes. Und trotzdem hatte Kyrill das unwirkliche Gefühl, dass die Knochen nicht die Quelle der Stimme waren.
„Was passiert, wenn ich ja sage?“, bohrte Kyrill weiter, ohne die gesamte Tür aus den Augen zu lassen. Seine Muskeln waren bis zum Zerreißen angespannt.
„Ich erlaube dir zu passieren, in die Welt, wo das Unmögliche wahr werden kann. Deine tiefsten Wünsche werden dort erfüllt.“
„Meine Tiefsten, sagst du? Woher weiß ich, was das für welche sind?“
Plötzlich stoppten die Bewegungen des Kiefers. Kyrills Augenbraunen zuckten, als er das bemerkte. Doch so schnell, wie die Knochen aufgehört hatten, fingen sie auch wieder an zu tanzen.
„Das kann ich dir nicht sagen. Kennst du dich nicht gut genug, um dir diese Frage beantworten zu können?“, erwiderte das Tor. Kyrills Lippen verzogen sich zu einem Lächeln und dann entspannten sich seine Muskeln. Sofort warf Joy ihm einen besorgten Blick zu.
„Du willst doch nicht etwa…?“, flüsterte sie fragend und noch immer blass. Darauf drehte sich Kyrill komplett zu ihr um und löste langsam den Klammergriff ihrer Hände. Damit gaben Joys Knie endgültig nach. Doch Kyrill reagierte, fing ihren Sturz ab und ließ sie langsam auf ihre Knie sinken. Dann legte er ihr ihre Hände in den Schoss und legte seine beruhigend darauf.
„Vertrau mir. Warte hier. Wenn die Geschichte wahr ist, und alles sieht danach aus, als wäre sie es, bin ich in genau 12 Minuten wieder hier und trage dich wie eine Prinzessin nach Hause.“
Fassungslos starrte Joy ihn an. Tränen traten in ihre Augenwinkel, ihre Lippen formten stumm Worte und sie schüttelte nur hilflos den Kopf. Kyrill lachte leise, fuhr ihr einmal zärtlich durch die kurzen Haare und drehte sich dann um. Doch dann gewann sie ihre Fassung zurück und rief verzweifelt:
„Du weißt nicht, was passieren wird! Ich will nicht, dass du dich veränderst! Ich will nicht, dass du vielleicht gar nicht mehr zurückkommst! Bleib gefälligst hier!“
Ihre Worte erreichten Kyrill. Er biss sich auf die Lippe, zögerte, entschied sich dann aber doch dafür die Klinke herunter zu drücken. Ein Schwall aus Licht strömte ihm entgegen, umschmeichelte ihn liebevoll und verschluckte ihn im nächsten Moment vollständig.
„Kyrill!“, schrie Joy, doch die Tür fiel nur lautlos in Schloss und ließ sie alleine im Zwielicht zurück. Fassungslos, schluchzend und zitternd starrte sie die Klinke.
„Mädchen“, ertönte dann wieder die Stimme, „Willst du wirklich nur warten?“
Joy schaute auf und begegnete dem Blick des Augapfels. Ein Schauer durchfuhr sie und ließ sie frösteln. Dennoch schwieg sie.
„Wünschst du dir nicht, ihm zu folgen? Ihn zurückzuholen?“
Zuerst zögerte sie, doch dann wandte sie ihren Blick ab und flüsterte:
„Natürlich will ich das… Aber…“
„Warum sitzt du dann dort?“
„Weil… Weil… Er hat gesagt ich solle warten…“
„Er bedeutet dir viel, nicht wahr?“
„Ich… will nicht, dass er sich verändert.“
„Dann geh ihm nach.“
„Aber…“
„Deine Wünsche sind auch wichtig. Willst du wirklich dein Verlangen unter seine Forderungen stellen?“
Diesmal schwieg Joy.
„Dabei wusste er nichts, als er seine Forderung an dich gestellt hat…“
„Was meinst du?“, fragte sie sofort und blickte wieder auf, nur um den Kiefer wieder tanzen zu sehen.
„Die Leute kommen nicht zurück aus einem Grund… Sie bestehen die Herausforderung nicht. Niemand hat jemals gesagt, dass die Erfüllung der Wünsche keinen Preis hätte.“
Joy blinzelte, bis die Bedeutung der Worte zu ihr durchdrang. Dann stand sie langsam auf und näherte sich mit zitternden Beinen der Tür. Die Stimme lachte. Der Kiefer tanzte. Der Augapfel, drehte sich um sich selbst und tanzte dabei auf und ab. Joy griff nach der Klinke. Das Lachen wurde lauter. Ihr Herz zog sich zusammen. Doch ehe sie zögern konnte hatte sie die Tür bereits geöffnet und wurde von einem Schwall aus Licht in das Tor hineingezogen.