Episode 1 - Das Tor der Wünsche
„Es ist eine Geschichte. Und jede Geschichte braucht Protagonisten“, äffte Joy den alten Mann mit gerümpfter Nase nach. Währenddessen balancierte sie mühelos auf einem Steinzaun, der die angrenzenden Vorgärten von der Straße trennte. Jeder Schritt ließ die Spitzen ihrer relativ kurzen roten Haare wippen. Nach einem kurzen Schweigen, in dem sie das Gesicht ihres Begleiters musterte, fragte sie:
„Glaubst du den Mist etwa?“
Kyrill ließ sich mit seiner Antwort Zeit, worauf sie eine ahnende Grimasse zog. Zuerst sah er nur zu Joy hoch, kratzte sich dann am Kopf und betrachtete gedankenverloren den Himmel. Dann schnaubte er amüsiert, zuckte mit den Schultern und meinte:
„Warum nicht? Der alte Mann schien sich seiner Sache ganz sicher zu sein.“
„Kyrill!“, stieß Joy darauf vorwurfsvoll aus und sprang von dem Zaun herunter, weil sie die Straße überqueren mussten. Dabei achtete sie sorgfältig darauf, dass ihr Begleiter nichts von dem sah, das sich unter dem Faltenrock ihrer Schuluniform befand. Ihr Blick kehrte in die Waagerechte zurück und traf somit geradewegs auf Kyrills Brust.
„Das ist doch nicht dein ernst? Dass du dich für diesen Hokuspokus interessierst, kann ich ja noch nachvollziehen. Aber das kann doch gar nicht wahr sein! Dämonen, die sich aus Ideen entwickeln? Unsinn!“
„Gott ist auch nur eine Idee. Und trotzdem töten, klagen, freuen und fürchten die Menschen sich in seinem Namen. Seine Gestalt ist real in den Ideen der Leute. Und das obwohl er auch nur eine Idee, eine Geschichte ist“, hielt Kyrill gut gelaunt dagegen. Trotzig schob Joy ihre Unterlippe vor und erwiderte:
„Seit wann bist du bitte ein Gottesanhänger? Selbst wenn es viele Gläubige gibt, die seine Existenz für bewiesen halten, warum gibt es dann keine konkreten Beweise? Richtig. Weil es ihn nicht gibt! Das sind alles Hirngespinste.“
Kyrill schmunzelte, sah zu Joy herab, musterte sie einen Moment eindringlich, sodass ihr ein fragendes „Was?“ entschlüpfte. Doch er schmunzelte nur wieder, lenkte seinen Blick nach vorne und ging schweigend neben ihr her. Eingeschnappt senkte sie ihren Kopf und schaute ihn schmollend an.
„Jetzt ignorierst du mich? Bist du am Ende deiner Weisheit angelangt?“ Doch alles er ihr gab, war ein amüsierter Blick. Sein Schweigen hielt an.
„Jetzt kommt schon! Kyrill!“, forderte sie ihn auf. Darauf schmunzelte er nur wieder und lächelte schweigen.
„Du weißt genau, dass ich es hasse, wenn du das machst!“, beschwerte sich Joy. Nach einem weiteren Schweigen, meinte Kyrill schließlich, noch immer lächelnd:
„Die Auswirkungen sind real. Was auch immer der Grund ist. Die Dämonen, wie auch immer du sie definierst, sind real. Zumindest im Kopf und Herzen der Menschen. Das kannst du auch nicht bestreiten.“
Froh über seine Antwort erwiderte Joy:
„Dann sind es aber keine Wesen, die nachts umherschleichen und die Menschen in Angst und Schrecken versetzen. Es sind ganz einfach Einbildungen. Zufälle und bestimmte Situationen werden so ausgelegt, dass sie zu den Geschichten passen. Ein Dämon ist geboren. Nur eine wahnwitzige Idee.“
„Vielleicht. Vielleicht auch nicht.“
„Also glaubt du doch dran?“
„Ich weiß nicht…“, kurz schwieg er, dann suchte er Joys Blick,
„Willst du es herausfinden?“
„Heh?“, stieß sie verblüfft aus und blieb für einen Moment wie angewurzelt stehen. Unbeirrt ging Kyrill weiter und wartete, bis sie wieder mit wehenden Haaren aufgeholt hatte.
„Wie meinst du das?“, fragte sie skeptisch.
„Ich…“, doch ehe Kyrill seine Gedanken weiter ausführen konnte, ertönte ein leises Miauen aus der nächsten Seitengasse. Sofort blieb Joy stehen, ihr Blick durchbohrte die Dunkelheit der kleinen Straße und machte dort ohne Probleme die Quelle des leisen Geräuschs aus. Ein kleines, rot-grau getigertes Kätzchen lugte dort aus einem Karton hervor, der von einem überfüllten Mülleimer heruntergefallen war. Noch währen Kyrill ihrem Blick zu folgen versuchte, hatte sich Joy schon in Bewegung gesetzt und kniete sich mit glänzenden Augen vor den Karton.
„Nicht schon wieder…“, murrte Kyrill und folgte ihr. Sie war gerade dabei vorsichtig die Hand auszustrecken, um das kleine Wesen zu streicheln ohne es zu verscheuchen, als er sich hinter Joy gegen die Steinwand lehnte. Dann wischte er sich die widerspenstigen schwarzen Haare aus der Stirn und mahnte:
„Übertreib es nicht wieder. Das letzte Mal durfte ich dich ins Krankenhaus tragen, weil du das arme Tier dazu gezwungen hast sich zu wehren, weil du es beinahe zu Tode geknuddelt hast.“
„Jaja, diesmal halte ich mich zurück…“, schlichtete Joy geistesabwesend, vollends darauf konzentriert das kleine Kätzchen nicht zu verscheuchen. Neugierig schnupperte es an ihrem Finger und im nächsten Moment sprang es heraus, um seinen Kopf gegen ihre Handfläche zu drücken. Joy stieß quietsche glücklich und fing an das flauschige Fell hingebungsvoll zu streicheln.
„Du kriegst Ausschlag. Und Juckreiz“, prophezeite Kyrill, während er sie beobachtete. Doch Joy ignorierte ihn, schnappte sich darauf das Kätzchen und nahm es auf ihren Arm, um es an sich zu drücken.
„Du lernst es nie, oder?“, fragte Kyrill kopfschüttelnd.
„Aber guck sie dir doch mal an. Das Fell ist so unglaublich flauschig! Ich könnt den ganzen Tag mit Jasmin knuddeln“, rief sie vergnügt aus.
„Jasmin? Haben wir vor zwei Wochen nicht genau die gleiche Katze aufgelesen?“
„Was? Nein!“, rief Joy entsetzt aus, wirbelte schwungvoll zu Kyrill herum und klärte ihn auf:
„Die von vor zwei Wochen war Rudi. Der Kloß war niemals ein Weibchen. Außerdem hatte war er allgemein ein bisschen größer als Jasmin und hatte kleinere Augen. Wahrscheinlich ist Jasmin auch noch um einiges jünger, als Rudi. Außerdem hatte er einen grauen Fleck genau auf der Spitze des rechten Ohrs und Jasmin…“
Doch dann wurde sie von Kyrill unterbrochen, der beschwichtigend die Hände hob und meinte:
„Schon gut, schon gut. Ich habs verstanden.“
Joy antwortete mit einem fröhlich bejahenden „Hm!“ und widmete sich wieder den Streicheleinheiten der schnurrenden Katze. Dann wanderte ihr Blick aber plötzlich zu Kyrill. Die stumme Aufforderung, die in ihren Augen lag, ließ ihn laut aufstöhnen.
„Das ist jetzt nicht dein Ernst? Schon wieder?“
„Jap, der Supermarkt ist direkt um die Ecke. Diesmal brauchst du nicht durch die halbe Stadt hetzen.“
„Niemals.“
„Och komm schon. Nur noch dieses eine Mal.“
„Das hast du beim letzten Mal auch schon gesagt. Und bei dem Mal davor auch und davor auch und…“
„Bieeeette, Kyrill. Du hast dann auch etwas gut bei mir. Bitte!“
„Ngh…“
„Bitte, bitte, bitte!“
Joy sah ihn flehend an, hob das Kätzchen, das Kyrill ebenfalls mit großen Augen ansah, vor ihren Ausschnitt und bearbeitete Kyrill weiter. Diesem entglitt schließlich ein resignierendes Seufzen.
„Okay, warte hier… Ich bin schon weg.“
„Juhu, du bist ein Held!“, rief sie erfreut aus und fing wieder an intensiv zu knuddeln.
Zehn Minuten später kam Kyrill mit einer Einkaufstüte zurück, in der sich eine Packung Milch und zwei Flaschen Wasser befanden. Schniefend und mit roten Augen begrüßte ihn Joy:
„Du bist super!“ Mit dem Wasser spülte sie eine flache Dose, die als provisorische Schale dienen sollte aus und füllte sie anschließend mit der Milch. Sofort sprang das Kätzchen darauf an und fing freudig an zu schlecken. Joy kniete daneben und beobachtete das kleine Tier vergnügt. Kyrill stellte sich neben sie und reichte ihr stumm die Wasserflasche. Joy nahm sie zuerst nicht, sondern sah nur ein weiteres Mal flehend zu ihm herauf. Darauf wanderte jedoch nur eine seiner Augenbrauen nach oben. Sie seufzte resignierend, nahm ihm die Flasche ab, brachte ein bisschen Abstand zwischen sich und ihren kleinen Schützling und fing an sich grob mit dem Wasser zu waschen. Wie zur Bestätigung fing sie dabei heftig an zu niesen. Auch ihre Nase wurde aktiv und drohte ihr geradewegs davonzulaufen.
„Es ist genug“, meinte Kyrill, als Joy das Tier zum Abschied noch einmal drücken wollte.
„Aber… Aber… Aber…“, doch das Niesen verhinderte, dass sie den Satz zu Ende führte.
„Nichts aber. Sonst liegst du dank deiner Allergie morgen wieder flach.“ Geknickt füllte Joy die Dose ein letztes Mal auf und trottete dann mit traurigem Blick zurück zu Kyrill.
„Es ist mir wirklich ein Rätsel, wie du so in Katzen vernarrt sein kannst. Besonders, wenn die dich für Tage ins Bett bringen können“, schmunzelte Kyrill.
„Aber genau deswegen! Weil wir wegen der Allergie Zuhause keine Katzen halten dürfen, muss ich jede Chance nutzen, die sich mir bietet!“, erklärte sie eifrig, was in einem lauten Niesen endete. Doch ehe Kyrill sie weiter tadeln konnte, fragte sie:
„Was meintest du vorhin? Was wollen wir herausfinden?“
Sofort breitete sich ein breites Grinsen auf Kyrills Gesicht aus.
„Stopp das. Das ist gruselig“, merkte Joy kritisch, aber ohne jeglichen Nachdruck an.
„Kennst du schon das Gerücht vom Tor der Wünsche?“