Kurzgeschichte
Bitte, vergesst mich nicht

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"Bitte, vergesst mich nicht"
Veröffentlicht am 13. Januar 2012, 28 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: Eigenfotographie
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Über den Autor:

Ich ...bin Österreicherin ...studiere Archäologie, Germanistik und Geschichte ...vertrage Kritik, solange sie begründet und ehrlich ist ...lese quer durch viele Genres ...glaube anders als Max Frisch und ähnlich wie Bert Brecht dass Literatur sehr wohl (wenn auch nur in geringem Maße) dazu beitragen kann, gesellschaftiche Veränderungen zu erwirken
Bitte, vergesst mich nicht

Bitte, vergesst mich nicht

Bitte, vergesst mich nicht

Stille.

Durchbrochen nur vom gelegentlichen Schluchzen meiner Mutter. Seit Tagen dasselbe.

Vater schweigt in seiner Trauer, meine Schwester sperrt sich in ihrem Zimmer ein, mein Bruder hängt die ganze Zeit mit seinen Freunden herum und Mutter weint lautlos.

Ich stehe daneben und sehe zu. Sie können mich nicht sehen, doch ich sehe sie und ich weiß auch was sie denken, was sie fühlen; ich teile ihren Schmerz.  

Ihre Gedanken machen mir mehr zu schaffen als meine eigenen. Deshalb bin ich auch hier.

Mit federleichtem Schritt gehe ich um den Tisch und setze mich neben meinen Vater. Seine Gedanken quälen mich am meisten.

Ich lege ihm die Hand auf die Schulter. Er spürt sie nicht, wird sie nie mehr spüren, doch  sein Geist fühlt meine Gegenwart. Er weiß es nicht. Er weiß nichts im Vergleich zu dem was ich weiß. Jetzt. Wie gerne würde ich ihm die Augen öffnen. Ihm sagen: He, es geht mir gut. Das einzige was mir hier zu schaffen macht, sind eure Schmerzen.

Aber ich kann es nicht. Ich weiß jetzt so vieles, doch die Barriere, die zwischen mir und ihm besteht ist undurchdringbar für den Körper und alles was damit verbunden ist. Nur meine Seele kann zu ihm, kann sich mit seiner verbinden und ihm Trost spenden.

Vergebung. Das ist es was er braucht. Dabei gibt es nichts zu vergeben. Ich lege ihm die andere Hand auf die Stirn. Nun ist meine Seele eins mit der seinen. Für einen Augenblick, der für ihn nur Sekunden dauert, während er sich für mich wie ein ganzes Leben anfühlt.

In diesem Augenblick erkennt mein Vater, dass ich hier bin.

Der menschliche Verstand sucht sich für dieses Berühren der Seelen, für dieses Verschmelzen der Persönlichkeiten, etwas Alltägliches, das die Sinne des Menschen täuscht, dessen Seele sich mit einer anderen verbindet. Manche Menschen sehen, wie sich eine Tür bewegt, andere fühlen einen Lufthauch, einige sehen, wie sich der

Vorhang langsam löst, oder wie die Pflanzen sich langsam zur Seite neigen.

Tief im Inneren wissen die Menschen, was dies bedeutet. Zumindest wissen sie, dass jemand bei ihnen ist, der ihnen wichtig war. Wüssten sie mehr würde das ihren Verstand zerstören, deshalb geschehen auch diese seltsamen, aber doch irgendwie alltäglichen Dinge.

Ich weiß nicht, was mein Vater in dem Moment gehört, gesehen, oder gefühlt hat, als sich unsere Seelen verbanden. Jedenfalls ist er aufmerksam geworden. Jetzt ist es mir möglich ihn zu erreichen. Durch meine Seele, die mit seiner verbunden ist.

Ich gebe ihm das einzige, wozu ich in der Lage bin. Das einzige, das ihm helfen kann.

Einsicht und gute Erinnerungen.

Die Menschen neigen dazu sich nur an das zu erinnern, was sie sich vorwerfen, wenn sie jemanden verloren haben. Sie erinnern sich nur daran, was sie nicht hätten tun sollen, dabei geht es doch gar nicht darum. Es geht nie um das, was man nicht hätte tun sollen. Es geht immer nur um das, was man tut.

Am Anfang fällt es schwer das zu verstehen, doch mit der Zeit kommt die Erkenntnis. Dazu bei trägt auch die Vereinigung der Seelen.

Nur Einsicht ist noch wichtiger, als gute Erinnerungen.

Nur die Einsicht hilft uns zu vergeben, doch bevor uns vergeben werden kann, müssen wir uns selbst vergeben. Das ist der schwierigste Teil und ich sehe, wie es meinen Vater quält.

Er kann sich nicht selbst vergeben, dabei wäre es so einfach.

Nicht er ist es gewesen, der dem anderen aufgefahren ist. Er ist weder zu schnell gefahren, noch alkoholisiert gewesen, was man von dem anderen nicht behaupten kann.

Meine Seele leidet unter den Schmerzen, die mein Vater sich selbst bereitet. Ich selbst habe keine Sorgen mehr. Nur die Sorgen derer, die mir wichtig sind, lasten auf mir. Deren Sorgen, Schmerzen und Vorwürfe.

Eines schlimmer, als das andere.

Mein  Vater will es einfach nicht verstehen. Er gibt sich die Schuld; gibt sich die Schuld, nicht auf die Straße geachtet zu haben, was nicht wahr ist. Ich war dabei. Ich weiß, was geschehen ist. Ich weiß auch wie es

geschehen ist, doch das tut hier nichts zur Sache. Dieses Wissen ist einer anderen Seele vorbestimmt. Einer Seele, die bald denselben Ort mit mir teilen wird.

Mein Vater beginnt zu begreifen. Endlich. Für ihn ist die Berührung schon längst vorbei. Er spürt nur noch den Nachklang meiner Seele.

Er hat begonnen zu verstehen. Noch ist er nicht bereit dazu, doch er wird es bald sein. Auch wenn es Jahre dauert. Er wird es einsehen. Ich werde mich so lange gedulden.

Langsam nehme ich die Hand von seiner Stirn und damit löse ich auch meine Seele von der seinen. Mit meiner Seele nehme ich auch einen Teil des Kummers, der sein Innerstes schwärzt. Von hier aus sehe ich, wie seine Seele sich erleichtert ausdehnt und wieder

damit beginnt ihm zu helfen, zu heilen. Er wird es schaffen. Ich weiß es. Er ist stark.

Die andere Hand nehme ich nun von seiner Schulter.

Ich stehe auf und trete vor meine Mutter. Immer noch weint sie.

Vorsichtig wiederhole ich den Vorgang.

Doch ihr Innerstes will sich vor mir verschließen. Sie zuckt zurück. Das Schluchzen setzt aus. Aus großen Augen sieht sie sich im Raum um, als glaube sie, ich könne im nächsten Moment vor ihr erscheinen. Aber so sehr ich mir auch wünsche, ihr dies zu gewähren, so steht es doch nicht in meiner Macht. Es würde ihr nur noch mehr Schmerzen bereiten. Für einen kurzen Moment fällt der Panzer um ihre Seele

und die meine schlüpft in sie hinein.

Würde ich noch Luft brauchen, so würde sie mir jetzt wegbleiben. Ihr Schmerz, ihre Trauer und vor allem ihr Zorn, treffen mich wie ein Hammerschlag.

Ihr Innerstes ist tief erschüttert. Sie hat ihren Glauben verloren; den Glauben an alles Gute in der Welt, an das Gute in den Menschen, den Glauben an das Leben, an die Liebe.

Liebe bedeutet Schmerz. Es hat schon immer Schmerz bedeutet. Das musste sie all zu früh schon erfahren, als ihr Vater an ihrem achten Geburtstag starb. Bis zum Schluss hat sie die Hoffnung nicht aufgegeben, hat gebetet, geweint, Hoffnung geschöpft, nur um dann wieder enttäuscht zu werden.

Und nun, da sie erneut gelernt hat, Vertrauen

in die Liebe zu setzten, ist ihr wieder jemand genommen worden, an dem ihr Herz gehangen hat. Wieder ist sie enttäuscht worden, vom Leben, von der Welt, von Gott, von den Menschen.

Meine Kräfte reichen fast nicht aus, um ihr vielfach zerbrochenes Herz zu heilen. Ihre Seele ist krank, hat den Kampf gegen das vermeintlich Unvermeidliche aufgegeben. Sie klammert sich an den Glauben, dass es Gott gibt und dass es mir nun besser geht, doch es fällt ihr schwer daran zu glauben. Denn, welcher Gott lässt den Tod eines Kindes zu? Welcher Gott tötet ein Kind und lässt denjenigen am Leben, der dessen Tod verschuldet? Welcher Gott lässt sich dann auch noch gerecht nennen?

Besorgt erkenne ich, dass ihr ganzes Selbst zu zerbrechen droht und ich kann nichts dagegen tun. Sie selbst sträubt sich. Ich dringe nicht zu ihr durch. Doch ich darf nichts unversucht lassen, sonst ist ihr Leben auf immer zerstört und das könnte ich einfach nicht ertragen.

Noch einmal bündle ich all meine Kraft und lege alles hinein, was ich ihr geben kann. Dabei weiß ich, dass ich ihr ihren Glauben nicht zurückgeben kann. Sie muss ihn selbst wieder finden. Doch ich kann ihr etwas anderes hinterlassen. Etwas ganz Kleines, das mit der Zeit wachsen und Wurzeln schlagen wird.

Hoffnung.

Dies ist das einzige, das sie auf den richtigen

Weg zurückführen kann. Denn Hoffnung ist der Ursprung von allem. Das ganze Leben ist auf ihr aufgebaut. Nur aus Hoffnung kann neuer Glaube erwachsen, wenn der Mensch stark genug ist und wenn er andere hat, die ihm helfen, die ihn nicht fallen lassen.

Deshalb ist der Mensch auch alleine nicht lebensfähig. Er braucht jemanden, der ihn stärkt, der ihm auch in der schlimmsten und dunkelsten Zeit seines Lebens ein kleines Licht zeigt. Denn auch, wenn es manchmal nicht so aussieht, so gibt es doch überall, wo Dunkelheit herrscht, einen kleinen Lichtschimmer. Schließlich ist Schwärze erst durch Licht definierbar, was allerdings auch umgekehrt Geltung hat.

Mehr kann ich nicht für sie tun. Aber meine

Zuversicht ist groß. Es wird schwer werden, für sie und für alle, die ihr nur Gutes wollen, aber ich glaube, dass sie es schaffen kann. Ich weiß, dass sie es schaffen kann. Es gibt so viele gute Menschen, die ihr helfen werden und diese sind stark. Letztendlich ist jeder stark, der spürt, dass er einem anderen beistehen muss und deshalb, heilen meist auch jene Seelen, die auf entsetzlichste Weise und unzählige Male zerrissen wurden.

Langsam, ganz langsam ziehe ich mich zurück. Zeit hat für mich zwar keine Bedeutung mehr, doch ich weiß, wann ich vorsichtig sein muss.

Für einen kurzen Moment verharre ich und sehe noch einmal meine Eltern an. Die Dunkelheit, die meinen Vater vor meinem

Kommen umgeben hat, ist schon von zahlreichen hellen Flecken durchsetzt. Von leuchtenden Sternen. Mir ist, als sehe ich ein Abbild des Abendhimmels, nur, dass von Zeit zu Zeit ein neuer Stern entsteht.

Möglicherweise ist das ganze Universum ja nur die Aura eines traurigen, schmerzerfüllten, Wesens, das hin und wieder Hoffnung schöpft, wenn eine Sternschnuppe über den Himmel zieht, oder, wenn irgendwo auf einer Welt ein Mond aufgeht. Vielleicht ist die Sonne ja nichts anderes als die Hoffnung vieler, die Gestalt angenommen hat, um auch anderen Freude zu bringen.

Ich weiß, dass ich weiter muss. Ich spüre es. Es gibt noch drei Menschen, die mich brauchen. Auch wenn sie es nicht wissen.

Durch die verschlossene Tür trete ich in das Zimmer meiner Schwester ein. Sie schläft einen unruhigen Schlaf.

Auf ihrem Gesicht erkenne ich eingetrocknete Tränen. Von ihr unbemerkt setze ich mich neben sie auf das Bett und sofort beruhigt sich ihr wirrer Geist. Behutsam lege ich ihr eine Hand auf die Stirn und dringe tief in sie ein.

Sie macht sich Vorwürfe. Schwere Vorwürfe. Wir sind nie gut miteinander ausgekommen, haben ständig gestritten. Auch an meinem letzten Tag. Dabei wollte sie das nicht. Sie wollte sich mit mir aussöhnen, doch ich habe es nicht zugelassen, fühlte mich immer wieder von ihr gekränkt und ungerecht behandelt. Und nun muss sie wegen meiner Sturheit

diesen Schmerz erleiden. Ich habe nicht gewusst, dass sie so denkt. Dabei hätte ich es sehen müssen. Ich hätte nur meine Augen und vor allem mein Herz öffnen müssen, um es zu sehen. Ich hätte ihr nur einmal zuhören müssen; länger als zwei Minuten. Anstatt sie immer wieder mit schroffen Worten abprallen zu lassen, hätte ich mit ihr reden sollen.

Jetzt ist es zu spät. Für uns beide. Doch für sie ist dieses Wissen schlimmer, als für mich. Denn sie muss mit dem Glauben leben, ich hätte sie gehasst. Sie muss mit dem Glauben leben, ich würde glauben, dass sie mich hasst. Wir waren so dumm; so unbeschreiblich dumm. Ich habe ihr viel bedeutet. Natürlich. Wie sollte es auch anders sein? Sie hat immerhin auch mir viel bedeutet;

sie bedeutet mir immer noch viel. Egal, was alles zwischen uns gestanden haben mag. Es gibt viel mehr, was uns verbunden hat.

Ich versuche ihr das klar zu machen. Ich hasse sie nicht. Ich weiß, dass sie mich nicht hasst. Sie hat sich keine Vorwürfe zu machen. Letztendlich sind wir alle nur menschlich. Wir machen Fehler. Es ist traurig und lächerlich zugleich, dass wir uns das erst eingestehen wollen, wenn es bereits zu spät ist.

Aber ihr Herz ist jung. Es wird weiter schlagen. Vielleicht bedächtiger und reifer, aber unvermindert stark. Es wird sich selbst heilen. Mit der Zeit.

Mit einem letzten, traurigen Gedanken, verlasse ich ihr Zimmer, verlasse ich das Haus, in dem ich so kurze Zeit gelebt habe, in

dem ich so viel Schönes, manch Trauriges und doch so Wunderbares erlebt habe.

Ich komme nicht zurück. Nie wieder.

 

In kürzester Zeit stehe ich neben einem kleinen Tisch in einem Lokal. Das Licht ist gedämpft. Die Gespräche rundherum werden leise geführt. Unbemerkt trete ich hinter den Stuhl meines Bruders. Einsilbig unterhält er sich mit seinen Freunden, die versuchen ihn aufzumuntern. Er versucht zu lachen, doch es klingt, gezwungen, schuldbewusst. Noch bevor sich meine Seele mit der seinen verbindet, weiß ich, was ihn beschäftigt, was ihn quält. Er glaubt, er muss stark sein. Er glaubt, er darf sich seine Trauer nicht ansehen lassen. Immer schon war er ein

glücklicher, optimistischer Mensch, der nicht all zuviel Zeit mit dem Vergangenen verbrachte. Doch diesmal ist es anders. Er macht sich selbst vor, er hätte es bereits verarbeitet, doch gleichzeitig weiß er, dass es nicht so ist. Er fühlt sich schuldig, weil er versucht, sein vorheriges Leben weiterzuführen. Aber genau das ist es, was er tun muss. Sie alle müssen es tun, werden es tun müssen. Vergangenes muss irgendwann zurückgelassen werden. Ansonsten ist ein Weiterleben nicht möglich.

Die Welt hört nicht einfach auf sich zu drehen, auch wenn es sich für manchen so anfühlen mag. Würde die Erde jedes Mal anhalten, wenn eine Seele sie verlässt, dann würde sie auf ewig still stehen. Außerdem ist man mit

seiner Trauer nie allein. Im selben Moment, in dem man selbst trauert, trauert mindestens ein weiterer. Schmerz ist nicht nur bei einem allein. Wo einer Schmerzen empfindet, leidet auch ein anderer. Das ist traurig, aber wahr.

Ich bin froh, dass mein Bruder versucht, weiterzuleben. Seine Seele hat den Kampf nie aufgegeben, auch wenn sie kurzfristig an Kraft und Schwung verloren hat. Jetzt weiß ich auch, dass sie alle es schaffen werden. Gemeinsam. Sie haben sich und zusammen sind sie stark. Stärker, als einer allein.

Sie werden es schaffen.

In diesem Wissen, verlasse ich den letzen Teil meiner Familie und lasse sie alle hinter mir. Nun gibt es nur noch eines, was ich tun muss.

 

Alles um mich herum ist weiß. Die Wände, der Boden, die Fensterrahmen, die Bettlaken, das Gesicht des Mannes, der auf einem weißen Bett liegt. Ein unstetes Piepen erfüllt die Luft.

Seine Augen sind geschlossen. Sein Atem geht stoßweise.

Um ihn nicht zu erschrecken, räuspere ich mich.

Er schlägt die Augen auf.

Ein unangenehmer Dauerton stört die Stille. Gleich darauf fliegt eine Tür auf. Krankenschwestern stürzen herein; ein Arzt.

Doch die Unruhe stört uns nicht. Ich ergreife ihn an einer Hand und führe seine Seele fort, während die Menschen alles versuchen, um sie in seinen Körper zurückzuholen. Er folgt mir ohne Widerworte. Er weiß wer ich bin. Er

weiß, was ich weiß. Und es quält ihn, dieses Wissen. Es quält ihn, wie keinen zweiten, denn er erwartet keine Vergebung. Er glaubt sie nicht verdient zu haben. Er ist sich seiner Fehler bewusst. Er ist es der den Schmerz von so vielen erst verursacht hat.

Nur wegen ihm glaubt mein Vater, er wäre Schuld an meinem Tod.

Nur wegen ihm hat meine Mutter ihren Glauben verloren.

Nur wegen ihm kann ich mich nie mit meiner Schwester versöhnen.

Nur wegen ihm läuft mein Bruder vor seinen Gefühlen davon.

Nur wegen ihm bin ich hier.

Nur wegen ihm muss seine Frau auf ihren Ehemann verzichten.

Nur wegen ihm müssen seine Kinder nun ohne einen Vater aufwachsen.

Nur wegen ihm hat die Welt einen Moment den Atem angehalten, da auch sie nicht begreifen konnte, was geschehen ist.

Nun erwartet er, dass ich ihn hasse. Ich muss ihn hassen. Er hasst sich selbst.

Doch ich bin schon länger hier. Ich weiß es besser. Ich kann ihn nicht hassen. Niemand kann das. Jeder Mensch hat das Recht auf Vergebung, wenn er nur aufrichtig bereut. Und hier, in der Leere, die doch so voll ist, in der Stille, die so laut ertönt; hier kann ich bis in den tiefsten Winkel seiner Seele sehen und diese krümmt sich vor Verzweiflung, vor Schuldgefühlen. Sie glaubt auf ewig verloren zu sein, gehasst von allen, von jedem

verurteilt; zu Recht, wie er glaubt.

Ich nehme auch seine zweite Hand. Seine Seele erschaudert bei meiner Berührung. Doch dann keimt Verständnis in ihr auf. Verständnis und Unglauben.

Ich vergebe ihm, alles. Ich vergebe dem Menschen, der nun einmal Fehler macht, auch wenn er es besser wissen sollte. Ich vergebe ihm, weil er aufrichtig glaubt, keine Vergebung zu verdienen, weil er weiß, dass er die Welt von einem Moment auf den anderen für viele Menschen zu einem schrecklichen Ort gemacht hat.

Ich vergebe ihm, weil ich möchte, dass auch ihr ihm vergebt. Ich weiß, wie schwer es euch fallen mag. Er hat großes Unheil gebracht, doch er hat dafür bezahlt. Jeder bezahlt

letztendlich für seine Taten.

Gemeinsam mit ihm verlasse ich das Krankenzimmer, in dem die Ärzte ihn bereits aufgegeben haben; verlasse ich das Krankenhaus; verlasse ich die Stadt, die Welt. Ich kehre dorthin zurück, von wo ich einmal gekommen bin, von wo wir alle kommen und wohin wir alle zurückkehren werden, am Ende unserer Tage.

Solange ich noch hier bin möchte ich euch nur noch um zwei Dinge bitten.

Jetzt, im Moment eures Schmerzes, werdet ihr es vielleicht nicht verstehen, doch es ist wichtig, für mich.

Bitte, lasst die Welt nicht zu einem Ort des Schweigens werden. Es ist so still dort, wo ich hingehe und ein Lachen fliegt weiter als

tausende von traurigen Sätzen.

Deshalb bitte ich euch: Sagt etwas, irgendetwas, was bis zu mir dringen kann, sodass ich euch nicht vergesse.

Und zuletzt: Bitte, vergesst mich nicht. Denn solange ihr hin und wieder an mich denkt und mich in euren Herzen tragt, solange werde ich auch bei euch sein. Und irgendwann werden wir uns wieder sehen.

Ihr müsst nur fest daran glauben.

 

 

 

 © Fianna Sommer 2011

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Fianna
Ich
...bin Österreicherin
...studiere Archäologie, Germanistik und Geschichte
...vertrage Kritik, solange sie begründet und ehrlich ist
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...glaube anders als Max Frisch und ähnlich wie Bert Brecht dass Literatur sehr wohl (wenn auch nur in geringem Maße) dazu beitragen kann, gesellschaftiche Veränderungen zu erwirken


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Brubeckfan Auch beim Wiederlesen ist das starker Tobak. Eine umwerfendes Engelchen, eine bezaubernde Idee, wie mit Furchtbarem fertig zu werden wäre, kluge Betrachtungen zwischendurch, und alles gut aufgebaut.
"Einen Menschen verlieren" kann man ja außerdem auch allgemeiner verstehen, nicht nur durch den Tod, und dann hat man evtl. denselben Salat zu überstehen.
Liebe Fianna, mein Favorit hat das Update des Forums überlebt, aber etwas Kleingeld überweise ich Dir heute.
Viele Grüße.
Gerd
Vor langer Zeit - Antworten
Fianna Über solche Worte freue ich mich immer :-)

Ein großes Dankeschön für's Lesen, den Kommentar und natürlich die Coins!

Liebe Grüße
Anna
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Bellinka Schön geschrieben :) berührt mich sehr
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Fianna Das hört man immer gerne :-)

Danke dir für's Lesen und Kommentieren!

Liebe Grüße
Anna
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Zentaur wunderschön und sehr gefühlvoll hast du uns deine Gedanken mitgeteilt.

lg Helga
Vor langer Zeit - Antworten
Fianna Freut mich, deinen Geschmack getroffen zu haben :-)

Dankesehr für's Lesen und den Kommentar!

Liebe Grüße
Anna
Vor langer Zeit - Antworten
NORIS Dieses Buch hat mich wieder tief berührt ... was Du da schreibst, ist schon lange in meinem Herzen verankert, besonders die letzte Seite.
Das Thema an sich ist nicht einfach, aber Du hast es so wundervoll für die Leser bearbeitet, dass jeder sich nach dem Lesen bereichert fühlen kann.
LG Heidemarie
Vor langer Zeit - Antworten
Fianna Freut mich, dass du es so siehst...und wieder mal vielen Dank für deine stets ermutigenden Kommentare!

Liebe Grüße
Anna
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NORIS Ich danke Dir für Deine Antwort und die Coins!
LG Heidemarie
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baesta Tiefgründiger, fast sphärischer Text, ein Wagnis und es ist Dir gut gelungen.

Liebe Grüße
Bärbel
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