Erschrocken fuhr Alika auf dem Absatz herum. Sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, wegzulaufen, weshalb sie auch keinen Gedanken an eine Flucht verschwendete. Stattdessen überlegte sie, wie sie den Mann, der jetzt auf sie zukam, unschädlich machen könnte, ohne dass jemand anderes es mitbekäme.
„Wo willst du denn hin, mitten in der Nacht?“, fragte er nun und blieb nur einen Schritt vor ihr stehen.
„Nach draußen“, gab Alika trotzig zurück.
Mit diesen Worten wandte sie sich um und schritt einfach den Flur entlang.
„Du wirst das Gebäude nicht verlassen können“, rief der Mann ihr hinterher, doch er folgte ihr vorerst nicht.
Erst als sie um die nächste Ecke gebogen war, hörte sie seine Schritte. Doch auch das brachte sie nicht mehr aus der Ruhe. Wenn er sie wirklich hätte aufhalten wollen, hätte er es sicherlich schon längst getan.
Alika verlangsamte ihren Schritt.
Erstens, weil sie nicht wusste, wohin sie eigentlich musste und zweitens, weil sie neugierig war. „Was willst du eigentlich von mir?“, fragte sie ohne die Stimme zu erheben, da sie wusste, dass der andere nicht weit entfernt war.
Eine Antwort ließ nicht lange auf sich warten. „Du…ich biete dir eine einmalige Gelegenheit.“
Stirnrunzelnd blieb Alika stehen und wandte sich um. „Was für eine Gelegenheit?“
Der Mann hielt wiederum in einem Schritt Entfernung an. „Dir ist etwas gegeben, das dich von anderen grundlegend unterscheidet.“
Fragend hob sie eine Augenbraue. „Und das wäre?“
„Das ist nicht so einfach zu erklären, aber ich biete dir die Möglichkeit, deine Fähigkeiten zu schulen.“
Sie stieß ein verächtliches Schnauben aus, gefolgt von einem Lachen. „Fähigkeiten? Ich habe nichts dergleichen, was geschult werden müsste. Du scheinst mich mit jemandem zu verwechseln.“ Mit einem belustigten Kopfschütteln setzte sie sich langsam erneut in Bewegung.
„Ich weiß, was ich gespürt habe“, beharrte der Mann, „und du müsstest es ebenso wissen. Schließlich hast du es am eigenen Körper erfahren.“
Die Gedanken überschlugen sich in Alikas Kopf. Ja, sie hatte etwas gespürt und es hatte ihr Angst gemacht. Wer war dieser Mann, dessen Gedanken für sie völlig unzugänglich waren? War das die Chance auf die sie immer gewartet hatte? War das der Ausweg, den sie immer gesucht hatte? Was aber würde man von ihr verlangen im Gegenzug für diese Hilfe? Und wie sah diese Hilfe überhaupt aus?
„Was ist der Haken an der Sache?“
„Es gibt keinen Haken“, erwiderte der Mann und schloss zu ihr auf. „Du müsstest dich nur an ein paar Regeln halten.“
Misstrauisch runzelte das Mädchen die Stirn? „Regeln? Was für welche?“
„Spielt das denn eine Rolle? Ich biete dir immerhin die Gelegenheit von der Straße wegzukommen, dein ärmliches Leben hinter dir zu lassen.“
Woher wusste er …?
„Was lässt dich glauben, dass ich das will?“, fragte sie mit zurückkehrendem Trotz. Doch das beeindruckte den Mann nur wenig.
„Letztendlich ist es deine Entscheidung, aber lass dir gesagt sein, dass du deine Gabe nicht mehr lange vor deinen Mitmenschen verbergen kannst, wenn du nicht lernst, wie du sie unter Kontrolle hältst. Und wenn sie erst einmal herausgefunden haben, wer du wirklich bist, wird dir die überwiegende Masse der Bevölkerung nicht mehr wohl gesonnen sein. Sie werden Jagd auf dich machen.“
„Soll das eine Drohung sein?“
„Nein.“ Bedächtig schüttelte er den Kopf. „Es ist eine Warnung. Allein hast du so gut wie gar keine Chance zu überleben. Wenn dir etwas an deinem Leben liegt, solltest du unser Angebot annehmen. Zumindest vorübergehend.“
Nun wurde Alika unsicher. Meinte er es tatsächlich ernst? Oder hatte er einfach nur Vergnügen daran, ihr Hoffnung zu machen, nur um diese dann im nächsten Moment wieder zu zerschlagen?
Sie musste eine Entscheidung treffen.
Bevor sie jedoch irgendetwas erwidern konnte, sagte der Mann plötzlich: „Vergiss nicht, dass ich dir das Leben gerettet habe. Du schuldest mir noch etwas und ich bitte dich inständig, uns wenigstens eine Chance zu geben, dir zu helfen. Du kannst uns später immer noch den Rücken kehren, wenn du glaubst, dass das nicht das richtige für dich ist.“
Nach längerem hin und her rang sie sich schließlich durch zu fragen: „Was soll ich tun?“
Ein einnehmendes Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Schwarzhaarigen aus. „Zuerst einmal genügt es, wenn du mir deinen Namen nennst.“
„Alika“, erwiderte diese. „Alika Arp.“
*
Das andauernde Läuten einer Glocke riss sie aus ihren Träumen.
Als sie die Augen aufschlug, war es bereits hell im Zimmer, sodass sie alles genau erkennen konnte. Sobald sie das Fenster entdeckt hatte, ging sie darauf zu, schob den leichten hellblauen Vorhang zur Seite und öffnete es.
Ein warmer Wind wehte herein.
Neugierig betrachtete Alika die neue Umgebung und stellte überrascht fest, dass sie sich in einem Gebäude des oberen Viertels der Stadt befinden musste. Das erkannte sie nicht nur daran, dass dieses und die Bauwerke rundum von enormer Größe und Kunstfertigkeit waren, sondern auch an den sauberen Straßen und den elegant gekleideten Menschen, die hektisch über das Pflaster eilten. Auch den Gestank nach Schweiß, Jauche und Blut, der in den unteren Vierteln allgegenwärtig war, gab es hier nicht.
Sie hob den Blick gen Himmel, der wolkenlos blau war. Ein paar Rauchschwalben ließen sich vom Wind durch die Lüfte tragen.
Ein Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht.
Das Zuschlagen einer Tür ließ sie herumfahren. Jemand hatte das Zimmer betreten. Es war ein junger Mann. Sein hellbraunes Haar hatte er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und in seinem Gesicht zeigte sich der Ansatz eines Bartes. Ungeniert musterte er Alika mit seinen grauen Augen.
Jene starrte unbewegt zurück.
„Man hat mir aufgetragen, dir alles zu zeigen“, sagte er mit einer solchen sanften Stimme, die perfekt zu seinem ausgeglichenen Gesichtsausdruck passte. „Mein Name ist Yago Rennecke.“
Offensichtlich wartete er nun darauf, dass sie ihm auch ihren Namen nannte, doch diesen Gefallen tat sie ihm nicht. Stattdessen trat sie an ihm vorbei und meinte: „Dann lass uns gehen.“
Für einen kurzen Moment glaubte Alika Verwirrung in den Augen ihres Gegenübers zu erkennen, doch ehe sie sicher sein konnte, hatte er sich wieder in der Hand.
„Ich würde vorschlagen, dass wir zuerst zu den Bädern gehen, damit du dich waschen kannst.“
„Sehe ich etwa so unansehlich aus?“, gab Alika mit gespielter Kränkung zurück, folgte ihm aber, als er ihr die Tür aufhielt. „Oder stinke ich etwa?“
Yago ging nicht weiter darauf ein, sondern starrte einfach nur starr geradeaus, während er sagte: „Ich werde sehen, ob ich dir auch saubere Kleidung beschaffen kann. Bis sie dir deine Uniform angefertigt haben, wird einige Zeit vergehen.“
„Uniform?“, wiederholte Alika wenig begeistert und unterzog ihren Führer einer genaueren Betrachtung.
Er trug eine einfache braune Stoffhose und ein leichtes dunkelgrünes Hemd, das vorne geschnürt war. Darüber hatte er eine braune lederne Weste gezogen. Seine Füße steckten fast bis zu den Knien in dünnen rotbraunen Wildlederstiefeln.
„Jeder Tiro erhält eine eigens für ihn angefertigte Ausrüstung. Wir sind hier alle gleich.“
Stirnrunzelnd schloss Alika zu ihm auf. „Tiro? Was soll das sein?“
Überrascht blieb Yago stehen und musterte das Mädchen erneut. „Ich dachte du hättest bereits mit Custos van Grass gesprochen.“
„Wenn du von dem sprichst, der mich überredet hat, hier zu bleiben, dann stimmt das. Ich habe mit ihm gesprochen, aber erklärt hat er mir nicht all zu viel.“
Nachdem er das Mädchen noch eine Weile nachdenklich betrachtet hatte, schritt er weiter, woraufhin sie ihm folgte.
„Du befindest dich hier in einer Ausbildungsstätte für …Menschen, die besondere Kräfte besitzen. Entscheidet sich jemand für eine Ausbildung an dieser Schule, so beginnt er auf der untersten Stufe als Tiro, also als Anfänger.“
„Was sind das für besondere Kräfte, von denen du sprichst?“, unterbrach Alika seine Erklärungen, doch Yago schüttelte abwehrend den Kopf. „Das sollen dir die Lehrer erklären. Was du allerdings von Anfang an wissen solltest, ist, dass das Ziel dieser Ausbildung das Erreichen des Ranges eines Custos ist. Wenn wir uns als würdig erweisen, wird man uns in die Gemeinschaft der Custodien aufnehmen. Dann werden wir selbst zu Wächtern.“
Der Stolz des jungen Mannes war nicht zu überhören.
Erst nach einer längeren Pause, in der sie schweigend nebeneinander hergingen, fragte Alika: „Wächter wovon?“
Zuerst schien Yago verwirrt zu sein, doch dann hellte sich seine Miene auf. „Wächter des verlorenen Pfades“, erklärte er bereitwillig und schien zu glauben, damit alles gesagt zu habe, was es zu sagen gäbe.
Doch das Mädchen war immer noch nicht schlauer als zuvor. „Wer bewacht denn einen Weg? Und dann auch noch einen, der bereits verloren ist?“ Sie schnaubte verächtlich, was ihr einen bösen Blick von Seiten Yagos einbrachte.
„Der verlorene Pfad ist nicht irgendein Weg. Er ist die Grundlage unserer Philosophie. Nach ihm richten wir unser ganzes Leben aus. Wenn du das schon nicht verstehst, wirst du hier nicht weit kommen.“
„Das hat nichts mit verstehen zu tun“, bemerkte Alika. „Es ist einfach nur dumm, an so etwas zu glauben. Das Leben spielt nach seinen eigenen Regeln und jemand, der vorgibt, einem bestimmten Pfad zu folgen, ist ein Heuchler.“
© Fianna 16/12/2011
Kenshin Ich bin weiterhin zufrieden. Du klärst einige Fragen, schaffst aber zugleich aber auch schnell neue Spannung. Enziger Kritikpunkt: Der Anfang des zweiten Abschnittes: ich hätte mir da wirklich einen Satu gewünscht wie: Sie hatten sich nach dem Bad auf den Weg in die obere Viertel gemacht. Irgendetwas was und diesen Umgebungswechsel beschreibt. Das kam für mich etwas zu überraschend aber ansonsten freue ich mich auf den nächsten Teil und auf ihre magischen Kräfte :=) |