Schicksal
Starr vor Angst lag ich in einem Straßengraben. Der Schnee, die Kälte und meine durchnässte Hose machten mir nichts aus. Ich bemerkte es nicht einmal.
Meine ganze Aufmerksamkeit war dem Himmel gewidmet. Überall flackerten Lichter auf, dicht gefolgt von einem Ohrenbetäubendem Donnern. Vor einigen Monaten hatte ich noch gehofft, dass der Krieg endlich ausbrechen würde. Ich hatte es satt, ständig mahnende Briefe vom Arbeitsamt zu bekommen. Ich hatte es satt, mir ständig Kerzen kaufen zu müssen, weil mir die Städtische Stromgesellschaft den Strom schon dreimal abgestellt hatte. Ja, ich hatte es sogar satt, ständig Zuhause rumzusitzen und mich in die Welt der Konsolenspiele zu teleportieren, denn nach dem Leben verloren auch sie langsam den Reiz des Abenteuers. Mir fiel auf, dass ich einfach nicht in diese Welt gehörte. Zu früh und zu hastig bin ich von Zuhause, von meiner Mutter und ihrem unausstehlichem Freund ausgezogen, um endlich mein Leben zu leben. Ich hätte mehr von Ihnen lernen müssen...
Doch jetzt, wo der Krieg wie ein Hammerschlag fiel, vermisste ich das alles.
Ich sehnte mich nach meiner schön warmen Wohnung und nach den Besuchen auf dem Arbeitsamt. Ich sehnte mich sogar danach, im trüben Kerzenschein Bücher zu lesen.
3 Wochen lang war ich nun schon alleine unterwegs und ernährte mich von Müll und toten Tieren, immer auf der Flucht vor den Kanonen.
Irgendwie hatte ich mir den Krieg anders vorgestellt.
Über mir donnerte es noch immer. Meine Angstschreie wurden von den Flugzeugen und von den Bomben, die in der nahe gelegenen Stadt einschlugen, übertönt. Das war schon die zweite Bombardierung der Stadt innerhalb von einem Monat. Der örtliche Widerstand dürfte damit wohl endgültig gebrochen sein.
Dann sah ich in der Ferne ein Licht aufflackern. Eine bewohnte Hütte!
In der Hoffnung, dort etwas Essbares zu finden, rappelte ich mich mit schlotternden Knien auf und rannte. Meine Lungen brannten und die Kälte machte das Atmen schwer, doch ich rannte weiter.
Das laute Donnern um mich herum ließ mein Adrenalin bis ins Unermessliche steigern. Ich wollte nicht sterben, nicht so.
Ich kam dem Licht immer näher.
Gut.
Wo Licht ist, da ist auch Sicherheit, dachte ich mir.
Nun rannten meine Beine wie von selbst. Ich verspürte keine Anstrengung, keine brennende Lunge, keine Kälte mehr.
Dann, endlich, es erschien mir wie Ewigkeiten, erreichte ich die Hütte. Es war eine alte einstöckige Holzhütte, die man eigentlich nur aus Horrorfilmen kannte.
Doch etwas hielt mich davon ab, einfach so hereinzuplatzen, um nach Essen zu fragen.
Ohne es zu bemerken, bewegte ich mich auf leisen Sohlen auf das Fenster neben der Tür zu.
Was ich da sah, schnürrte mir die Kehle zu. Ich taumelte vor Schreck, fiel fast auf die Knie.
Ich sah einen Mann, der wild grinsend vor einer gefesselt liegenden Frau stand. Er war etwa mitte dreißig, kräftig gebaut, zotteliges, langes schwarzes Haar und einen langen Bart. In seinem Gesicht zeigte sich eine Wildheit, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Zuletzt hatte ich diese Wildheit auf einem Foto bei Wikipedia gesehen, als ich mir den Eintrag über Charles Manson durchlas.
"Sooo," schrie der Bärtige "dann wolln wir ma sehn, wie gut du bist!"
Als er Hand an Sie legen wollte, wehrte die Frau sich mit allen Mitteln und schrie " NEEIN! Bitte, ich habe Essen, Unterkunft, Geld, du kannst alles haben!!!"
"Aber ich nehm mir doch grad, was ich haben will" erwiderte der Mann ohne jegliches Gefühl in seinen Worten. "Hör mal, kleene. Ich bin nich grad der hübscheste und hatte schon lang keine Frau mehr zwischen meinen Schenkeln. Entweder du versuchst es zu genießen oder eben nich."
Während der Bärtige dabei war, Ihre Hose auszuziehen, wurde mir fast übel. Der Krieg dauerte jetzt schon 2 Monate, aber so etwas hatte ich noch nie erlebt.
Ich war kurz davor, einfach wegzurennen, aber irgend etwas in mir hielt mich dort. Es war mein Gewissen.
Konnte ich damit leben, eine Frau im Stich zu lassen? Konnte ich dann je wieder mein eigenes Spiegelbild sehen? Das war meine Chance, zu zeigen, dass ich kein nutzloser Feigling bin.
Das war meine Chance, zu zeigen, dass ich doch in diese Welt gehöre.
Während ich den Gedanken fasste, nicht wegzulaufen, merkte ich, wie mir noch mehr Adrenalin ins Blut schoss. Dann kamen noch mehr Gedanken hinzu.
Wie sollte ich den Bärtigen überrumpeln? Wie könnte ich überhaupt erstmal ins Haus gelangen? Die Tür war sicher versperrt.
Der Bärtige hatte es geschafft, ihr die Hose auszuziehen. Die Frau schrie, aber niemand ausser mir und dem Bärtigen konnte Sie hören.
Jetzt musste ich schnell handeln. So viel Adrenalin. Adrenalin. Adrenalin. Adrenalin...
Ich konnte nun nicht mehr klar denken. Ich war nicht mehr Herr meiner Sinne.
Ohne irgendetwas dagegen zu unternehmen, nahm ich Anlauf und sprang durch das Fenster.
Als der Bärtige erschrocken zurücksprang, war es schon zu spät für ihn.
Ich sprang mit einem Tempo, wie ich es nicht erwartet hatte, auf Ihn zu und warf Ihn nieder.
Mein Körper gehorchte mir nun nicht mehr. Er tat, was er tun musste.
Meine Hände schnürrten seine Kehle zu, sodass er nicht mehr atmen konnte.
Erinnerungen umfingen mich. Mein halbes Leben schien an mir vorbeizurauschen, während ich die Kehle des Bärtigen immer fester zudrückte.
Ich als Kind, wie ich mit dem Kinderwagen fuhr und mich überschlug...
Ich als Kind, wie ich mit meinem Vater jeden zweiten Sonntag sämtliche Burgen deutschlands besuchte...
Ich als Kind, das erste mal mit dem Fahrrad unterwegs...
Der Bärtige schlug um sich, traf mich einige male im Gesicht, aber das machte mir nichts aus.
Ich fühlte nichts mehr...
Ich alsJugendlicher, das erste mal eine Zigarette in der Hand...
Ich als Jugendlicher meine erste große Liebe im Blickfeld....
Ich als Jugendlicher beim Bestehen meiner Prüfung und der daraus resultierenden unendlichen Freude...
Nun traf mich der Bärtige ein letztes mal an der Schläfe, dann war es aus.
Er hörte auf, zu atmen.
Wie aus einem Traum erwacht , schreckte ich auf.
Vor mir lag ein Mann, der vor kurzem noch gelebt hat.
Mein Adrenalin begann, sich zurückzuziehen, als ob seine Aufgabe nun erfüllt sei.
langsam wurde mir bewusst, dass ich zum ersten mal einen Menschen getötet habe.
Ein Schwindelgefühl machte sich in mir breit, dass mich zwang, mich irgendwo abzustützen, um nicht in Ohnmacht zu fallen.
Der Schmerz kam. Meine Schläfe pochte.
Die Frau hatte sich inzwischen hastig Ihre Hose wieder angezogen und kniete sich nun neben mir nieder. Benommen fing ich Ihren Blick ein. Blaue Augen...Sie schien nun ruhiger zu sein.
"Danke" flüsterte Sie, "Ich glaube, du hast gerade mein Leben gerettet..."
Ich wollte etwas sagen. Wenigstens irgendein Wort.
Aber nichts wollte über meine Lippen kommen.
Dann umfing mich Dunkelheit.
Ich wollte einfach nur schlafen, egal wo, egal wie.
Das letzte, was ich von Ihr hörte, waren 4 Worte, die mein Leben und den Krieg selbst für immer verändern sollten. Von dem Zeitpunkt an wusste ich, wo mein Platz in der Welt war.
Ich bin nicht einfach geboren worden, um zu leben, nein. Ich bin wegen des Krieges geboren worden. Zum allersten mal in meinem Leben ergab alles für mich einen Sinn. Die Zeit war gekommen, mich zu beweisen...
"Du bist mein Held...."
Nach diesen Worten fiel ich in einen tiefen und ruhigen Schlaf.
-Wenn ich aufwache-, dachte ich mir, -wird alles nie mehr so sein, wie früher....-