Romane & Erzählungen
Kayla - Kapitel III

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"Kayla - Kapitel III"
Veröffentlicht am 16. Oktober 2011, 34 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Kayla - Kapitel III

Kayla - Kapitel III

Beschreibung

Die Geschichte, die uns durch die Woche begleitet hat...

Kayla:

Sie schlich durch den Flur, hielt inne, horchte. Niemand da. In der Küche brannte Licht, also war ihre Mutter nicht weit weg. Sie schlüpfte in den hellen Raum, war mit zwei Schritten beim Schrank, öffnete ihn und griff nach der Blechdose ganz hinten. Sie kramte ein paar Münzen heraus, stellte sie zurück und verliess die Küche wieder. „Wo habe ich die Schuhe?“, überlegte sie sich, während sie die Jacke vom Haken nahm. Die Türfalle bewegte sich. Sie schlüpfte rückwärts ins Zimmer neben der Garderobe. Sie hörte wie jemand ins Haus kam, seine Jacke aufhängte – als die Schuhe gegen die Wand flogen wusste sie, wer es war. Er war schon zu Hause. Ihre Gedanken rasten. Ihre Schuhe standen vor der Tür, er hatte sie bestimmt gesehen. Und sobald er aus der Küche kam, würde er sich auf die Suche nach ihr machen. Da sie keinen Schlüssel hatte, hatte es wenig Sinn, aus dem Fenster zu springen. Sie horchte wieder. Er ging an der Tür vorbei. Also würde er sie zuerst in ihrem Zimmer unten im Keller suchen. Sie holte tief Luft, öffnete die Türe – der Flur war leer. So leise und so schnell sie konnte, schlüpfte sie hinaus, war mit wenigen Schritten bei der Haustüre, öffnete sie ganz leise – und zog die Tür genau so leise hinter sich zu. Kayla warf einen Blick auf die Uhr. Noch zehn Minuten. Sie rannte los. Rannte den ganzen Weg bis sie Jakob und Naemi sehen konnte. Es waren die einzigen Menschen weit und breit. Jakob hob den Kopf und sah sie.

„Kayla!“, rief er und winkte. Naemi sah in ihre Richtung und winkte ebenfalls. Sie schüttelte den Kopf und musste plötzlich lachen. Das alles war einfach zu komisch. Ihre Schritte wurden langsamer, bis sie nur noch schlenderte. Ihr Blick auf die beiden gerichtet. „Das ist ein Fehler in der Geschichte“, murmelte sie vor sich hin, „ich habe Freunde.“ Als sie näher kam, sah sie, dass beide ein Buch in ihren Händen hielten. Sie hatten ihre Köpfe gesenkt und lasen. Kayla runzelte die Stirn. „Was lesen die da?“, fragte sie sich.

Plötzlich riss jemand an ihren Haaren. „Wo willst du denn hin?“, zischte er ihr ins Ohr. Der Schmerz fuhr ihr stechend durch den Kopf und ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Er zerrte sie in die andere Richtung – Naemi und Jakob waren in ihre Bücher vertieft. Kayla seufzte leise. Er liess sie unvermittelt los und stiess sie vorwärts, dass sie beinahe hingefallen wäre – in jenem Augenblick traf sie die Entscheidung. Sie rannte los. Hinein in eine enge, dunkle Gasse, sie kannte sich gut genug aus, um auf Umwegen zum Schloss zu kommen. Sie hörte wie er etwas rief, doch sie konnte ihn nicht verstehen. Das Blut rauschte in ihren Ohren, die Füsse hämmerten über das Kopfsteinpflaster. Wieder bog sie ab. Er war vielleicht schneller als sie, aber sie war wesentlich flinker und wendiger. Und sie bezweifelte, dass er klettern konnte. Sie warf einen kurzen Blick zurück, bevor sie wieder abbog. Seine Schritte hallten von den Wänden, sehen konnte sie ihn nicht. Weiter durch die Gasse, wieder abbiegen und dann sah sie die Mauer. Sie rannte im selben Tempo weiter auf die Mauer zu, sprang kurz vorher ab und hielt sich an zwei Eisenringen fest, die etwa auf zwei Meter Höhe in die Mauer eingelassen waren. Kayla fragte sich jedes Mal, weshalb diese Ringe hier waren, welchen Zweck sie einst hatten. Gekonnt schwang sie ihre Füsse auf die zwei hervorstehende Steine – immer noch hallten seine Schritte. Sie drückte sich hoch, griff nach der Kante, zog sich weiter hinauf, rollte über die Kante und liess sich auf der anderen Seite zu Boden fallen. Von dieser Seite her war die Mauer deutlich weniger hoch. Sie stand auf einer kleinen Terrasse – an deren anderen Ende konnte sie wieder hinunter springen in einen Garten, von dort führte eine Treppe zu einer Gasse die sie von der Seite zu Naemi und Jakob führen würde. „Lass sie noch da sein!“, betete sie, obwohl sie nicht wusste zu wem. Bevor sie sprang hörte sie ihn fluchen. Sie lächelte und machte sich auf den Weg.

 

„Psssst!“, machte sie, Naemi hörte sie und drehte den Kopf. „Was…?“, Kayla hielt den Finger auf den Mund, die Augen weit aufgerissen.

„Ich weiss ja nicht, Naemi, aber…“

„Kommt SOFORT herüber!“, zischte Kayla, „bevor er euch sieht!“

„Der Typ da?“, Jakob zeigte die Strasse hinunter während er zu ihr in den Schatten der Gasse kam. Naemi folgte ihm dicht auf den Fersen.

„Folgt mir!“, sagte Kayla und führte sie durch die Gassen auf die untere Seite der Hauptstadt. Die beiden anderen folgten ihr, keiner sprach ein Wort. Als sie auf einen grossen Platz heraus traten spannte sich der Himmel dunkel über ihnen und auf dem Platz leuchteten Tausende kleine Lampen. Kayla sah von Naemi zu Jakob.

„Sieht aus, als hätte ich ein kleines Problem.“, flüsterte sie.

„Das dachte ich mir.“, kommentierte Jakob. „Sonst wären wir ja nicht auf einer Flucht oder? Doch worin besteht dein Problem?“

Kayla sah ihn stumm an.

„Kayla, wer ist das?“, Naemi zeigte mit dem Finger in die Richtung aus der sie gekommen waren.

„Der zweite Mann meiner Mutter.“

„Warum läufst du vor ihm davon?“, fragte sie weiter.

„Weil…“, Kayla schwieg. Sie dachte fieberhaft nach, was sie sagen konnte.

„Es ist eben dein Stiefvater, nicht wahr?“, half ihr Jakob. Sie nickte.

„Was geschieht, wenn er dich erwischt?“, wollte Naemi wissen. Jakob und Kayla starrten sie einen Moment verblüfft an. Soweit sie wussten kam Naemi aus einer intakten, heilen Familie.

„Glaubt ihr etwa ich bin blöd?“, sie sah zuerst zu Kayla und dann zu Jakob. „Ihr habt geglaubt, dass ich keine Ahnung habe nicht wahr?“

„Na ja. Wir dachten nicht, dass du – dass du…“, er wusste nicht wie er es sagen sollte.

„Weil es bei mir zu Hause nicht geschieht, heisst das nicht, dass es im Haus nebenan auch nicht geschieht.“ Naemi nahm Kaylas Hand. „Das sagt meine Mutter uns immer wieder.“ Kayla nickte. „Kluge Frau“, dachte sie. Jakob sprach es aus. „Deine Mutter ist eine kluge Frau!“

Naemi nickte. „Also?“, sie sah Kayla in die Augen.

„Er wird mich vermutlich einsperren.“, antwortete sie.

„Wo und wie lange?“, wollte Jakob wissen.

„Unter dem Fussboden im Sarg. Vermutlich bis ich verhungert bin. Und er wird die anderen kontrollieren, damit sie mich nicht raus lassen können.“

„Was nimmt denn der für Drogen?“, Jakob pfiff leise.

„Du kannst also nicht nach Hause?“, Naemi dachte schon weiter.

„Ja. Nein. Ich meine – ich kann nicht zurück. Ich…“ sie schluckte, „ich will nie mehr dahin. Doch wohin soll ich sonst?“

„Du kommst mit zu mir.“, sagte Naemi.

„Und deine Mutter? Dein Vater?“, wollte Jakob wissen.

„Wisst ihr“, Naemis Blick wanderte zwischen ihnen hin und her, „ich habe euch vorhin gesagt, was meine Mutter uns immer wieder sagt. Und das heisst konkret, dass wir nur Hilfe bei jemandem bekommen, der so was sagt. Meine Mutter erwartet das irgendwie von mir. Dass ich jemandem der Hilfe braucht, diese Hilfe auch gebe. Und da wir noch keine Erwachsenen sind…“, sie hob die Schultern. Jakob nickte.

„Ja. Gut. Verstanden.“

„Wie alt bist du eigentlich?“, wollte Naemi wissen.

„Ich bin fast 17.“

„Müsstest du dann nicht schon mit der Schule fertig sein?“, fragte Kayla.

„Sollten wir uns nicht auf den Weg machen, bevor uns der Wahnsinnige findet?“, fragte er zurück. Kayla grinste. „Das war richtig gut“, dachte sie. Naemi zog an ihrem Ärmel.

„Lasst uns gehen!“, die beiden anderen folgten ihr. Kayla fiel auf, dass Naemi sich auf dieser Seite so gut auskannte, wie sie sich selbst in der Altstadt auskannte. Und ihr fiel auf, dass auch Jakob sehr genau zu wissen schien, wo sie waren. „Woher kommst du?“, fragte sie sich in Gedanken. „Und wer bist du?“ Sie sah in von der Seite her an. Naemi lief auf der anderen Seite, auch sie hatte den Kopf gedreht. Ihre Augen trafen sich. „Sie denkt dasselbe wie ich!“, dachte Kayla. „Und jetzt wird es fast schon kitschig!“, sie grinste vor sich hin und sah wieder nach vorne. Naemi und sie mussten fast rennen um neben Jakob zu bleiben.

„Hier lang“, sagte Naemi und bog ab. Sie folgten einer Treppe die durch einen kleinen Wald führte. Als sie heraus traten, konnten sie schon die ersten Häuser erkennen. Sie folgten dem Waldrand bis sie zu einer Feuerstelle kamen. Naemi zeigte nach unten. „Da wohnen wir!“. Unter ihnen lag ein Dach mit zwei riesigen Fenstern. „Ganz genau ist das mein Zimmer“, fuhr sie fort, „darunter gibt es zwei Stockwerke. Ich mag diesen Anblick… es sieht aus, als würde ich in einem Zauberhaus leben.“ Sie sah die beiden anderen kurz an. Jakob lächelte und Kayla schluckte mühsam. Am liebsten hätte sie laut gelacht, so absurd kam ihr das alles vor. Dennoch hatte sie denselben Gedanken, als sie das Dach vorhin zum ersten Mal sah. Sie dachte, dass man in diesem Haus unter diesem Dach geborgen und beschützt war.

„Lasst uns runter gehen“, sagte Naemi und ging voran. Jakob winkte Kayla vor sich und ging direkt hinter ihr. Der Weg war steil und rutschig. Sie war froh, als er nach ihrem Arm griff und festhielt als sie um ein Haar gefallen wäre. Naemi wartete unten auf sie, führte sie rund um das Haus herum zum Keller-Eingang.

„Wir haben alle Schuhe hier unten. Es gäbe oben auch eine Türe, aber da dürfen wir nur rein, wenn wir saubere Schuhe haben – und das haben wir leider selten.“, Naemi zeigte auf ein Schuhgestell. „Stellt sie dahin… und hier habt ihr Pantoffeln…“, sie reichte ihnen Gästeschuhe. „Die Jacken hier hin“, sie deutete auf eine Garderobe. Kayla und Jakob folgten ihren Anweisungen stumm. Als sie fertig waren, folgten sie Naemi die Wendeltreppe hoch und betraten einen hellen, grossen Wohnraum. „Setzt euch“, sagte sie, „Durst?“ Die beiden nickten. „Bin gleich zurück.“

Kayla sog die Luft hörbar ein, Jakob pfiff leise. Sie sahen sich kurz an, lächelten und setzten sich auf das riesige blaue Sofa. Er schnappte sich einige Kissen und baute sie rund um sich herum zu einer Mauer auf. Kayla sah ihm grinsend zu.

„Kayla? Jakob?“, Naemi kam nicht alleine zurück.

„Das ist meine Mom. Manuela.“, Jakob erhob sich sofort. „Die beste Freundin von Ilona!“, sagte er. Manuela nickte und lächelte ihm zu. Auch Kayla hatte sich erhoben.

„Du bist also Kayla.“, sagte Manuela. Ihre Hand war warm, der Druck fest aber freundlich.

„Ja. Ich bin Kayla.“, nickte sie.

„Wir werden reden müssen.“, fuhr Manuela fort. Kayla nickte. „Gut. Aber erst mal kannst du hier bleiben. Ich muss mich um das Abendessen kümmern, zu dem ihr natürlich beide eingeladen seid. Macht es euch gemütlich.“, damit drehte sie sich wieder um, lächelte ihrer Tochter zu und ging durch den Raum zurück in die Küche.

„Schnittiges Haus“, meinte Jakob und liess sich wieder ins Sofa sinken.

„Sag ich ja. Ein Zauberhaus!“, grinste Naemi, „du wirst es mögen Kayla!“. Dann versanken sie in tiefes Schweigen. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach – „ich könnte wetten wir denken alle das Gleiche“, dachte Kayla während sie die beiden so unauffällig wie möglich beobachtete. Sie schraken alle drei  auf, als Manuela sie zu Tisch rief. Jakob schüttelte leicht den Kopf und Naemi blinzelte verwirrt.

„Wir müssen reden!“, raunte er. Die Mädchen nickten. „Vor allem über die Bücher!“, Kayla runzelte die Stirn. Genau… da waren noch Bücher…

 

Nach dem Essen gingen sie in Naemis Zimmer. Dort holte Jakob drei Bücher aus seiner Tasche. Er sah kurz ins erste Buch und gab es Naemi. Das zweite legte er vor sich hin und das dritte reichte er Kayla.

„Also.“, begann er, „Ich werde wohl erklären müssen, wer ich bin und woher ich die Bücher habe…“, die Mädchen sahen ihn an.

„Ich…“, er räusperte sich, „ich lebte mit meiner Mutter am anderen Ende der Stadt. Als sie vor drei Jahren starb, war ich plötzlich alleine. Da war zwar eine Frau, die dafür sorgte, dass ich regelmässig ass und frische Kleider hatte. Ich hätte ein zu Hause gehabt, hätte ich es gewollt. Doch ich war wütend auf Gott, dass er mir meine Mutter genommen hatte. Ich war gerade mal 14 Jahre alt. Meine Wut richtete sich gegen alle und jeden, vor allem gegen mich selbst. Ich begann damit, so viel Alkohol zu trinken bis ich nichts mehr fühlte. Trieb mich auf der Strasse herum und hatte tolle Freunde. Nun folgt der Klassiker. Absturz, Dummheit, neue Chance – genau so lief es. Ich erzähle euch vielleicht irgendwann, was ich getan habe, aber nicht heute. Ich wurde erwischt und zu Sozialarbeit verdonnert. In einem Altenheim. Die ersten Tage waren schlicht und einfach die Hölle. Ich erspare euch auch diesen Teil. Weil er nicht der Wahrheit entspricht. Aber das musste ich zuerst erfahren, begreifen und akzeptieren. Auch klassisch – es geschah an einem Nachmittag im Sommer. Die seltsame Dame aus Zimmer 123 wollte gerne in den Garten gebracht werden. Die Pflegerinnen nannten sie so. „Die seltsame Dame“, sagten sie, „ist schon über 100 Jahre alt – still, genügsam und zufrieden lebt sie vor sich hin.“ Man wies mich an, ihr in den Stuhl zu helfen, sie in den Garten zu fahren. Sie würde nicht mit mir sprechen, aber ich sollte trotzdem in ihrer Nähe bleiben. Also machte ich das. Ich folgte dem Weg zum Rosengarten, da sagte sie mit total klarer Stimme: „Bring mich zum Kräutergarten, Jakob!“. Ich war erstaunt, natürlich, brachte sie aber zum Kräutergarten.

„Hier hört uns keiner“, sagte sie, als ich sie neben die Bank gestellt und mich selbst darauf gesetzt hatte.

„Ich habe dich beobachtet, Jakob. Und ich weiss, dass du der richtige bist.“ Wie ihr euch vorstellen könnt fand ich das schon ein bisschen beängstigend. Ich meine… sie ist – sie war eine uralte Frau die in einem Zimmer vor sich hinvegetierte. Sie sagte, dass ich mich irren würde. Als ob sie meine Gedanken gehört hätte. Dann erzählte sie mir von ihrem Ururenkel – dessen Tochter sie nur einmal in ihrem Leben gesehen hätte. Ur-Ur-Ur-Enkelin um das genau zu definieren. Ich rechnete im Kopf aus, wie alt sie sein musste. Da sagte sie, „ich war 16 als ich meine Tochter bekam. Sie war 16 als sie ihre Tochter bekam. Dieses Mädchen liess sich ein bisschen mehr Zeit, sie war 18 Jahre alt, als sie ihren Sohn bekam. Dieser wurde mit 22 Vater – und dieses Mädchen ist nun 13 Jahre alt. Wenn du mitgerechnet hast, bin ich noch keine Hundert Jahre alt.“ – Tatsächlich war sie „erst“ 93 Jahre alt. Ich fragte wie die Pflegerinnen darauf kommen zu sagen, sie wäre über 100 Jahre alt, wenn sie doch sicher Akten hatten. Es lag daran, dass diese „seltsame Dame“ schon seit vielen Jahren hier war. Seit ihre Enkeltochter und deren Freund sie ins Asyl verbannt hatten. „Sie dachten ich wäre verrückt“, sagte sie, „deshalb haben sie mich weg gesperrt und vergessen!“ Das wäre ihr aber völlig gleichgültig gewesen. Sie war sogar froh darum. „Ich war verrückt!“, dabei lächelte sie. „Als der Junge zur Welt kam, erfuhr ich durch Zufall davon. Und ich wusste, dass die Linie unterbrochen war. Die Erstgeborenen waren immer Mädchen. Plötzlich ist da ein Junge! Damals hätte ich nicht geglaubt, dass es genau dieser Junge sein würde, der das Geheimnis weiter tragen könnte und das auch noch tun würde. Doch genau so geschah es. Eines Tages stand er in meinem Zimmer. Er hat mir nie gesagt, wie er zu mir gefunden hat – ich wollte es auch nicht wissen. Weil es einfach so sein musste.“ Von da an hätte sie ihn das alte Wissen gelehrt. „Und jetzt bring mich zurück, Jakob. Ich bin müde!“, sie sagte kein Wort mehr. Ich hatte hundert Fragen – doch sie schwieg. Erst ein paar Tage später sprach sie wieder mit mir. Das war der Tag an dem sie mir von Kayla erzählte. Und der Schachtel die ich auf keinen Fall öffnen durfte. Und sie erzählte mir von den Büchern, die ich holen soll, zwei Tage nachdem ich Kayla die Schachtel gegeben hätte. Und das habe ich getan. Hier sind sie. Die Bücher.“

Kayla starrte ihr Buch an. „Das ist ein Roman!“, sagte sie.

„Ja. Dachte ich auch. Zuerst. Doch dann sah ich, dass das nicht so ist. Mach es mal auf.“

Kayla hob den Deckel, schielte hinein, schlug das Buch ganz auf und hob es hoch um genauer zu sehen.

„Da steht ja etwas!“, murmelte sie.

„Ja. Da steht jede Menge. Nur lesen können wir es nicht!“, sagte Naemi.

„Wir haben vorhin als wir auf dich gewartet haben, versucht irgendetwas zu verstehen“, fuhr Jakob fort. „Das einzige, was ich verstehe ist wem welches Buch gehört. Deines“, er deutete auf Kaylas Buch, „wurde mit der roten Feder geschrieben. Ihres mit der Blauen Feder und meines mit der Gelben. Es ist eine Geheimschrift – die wir in der kurzen Zeit noch nicht entziffern konnten.“

Kayla betrachtete die Zeichen. „Und wir sind die Einzigen, die das sehen?“

„Ja. Ich habe es Alex gezeigt und Ilona. Und Sven.“, er grinste, „keiner hat was gesehen. Also müssen sie mit den Federn geschrieben worden sein.“

„Wer hat sie geschrieben?“, fragte Naemi und sah dabei Kayla an. Diese zuckte mit den Schultern. Drehte das Buch herum, drehte es auf den Kopf, „jemand der das Ganze ziemlich verdreht und verschlüsselt hat – als ob es noch jemanden geben würde, der es lesen könnte und all das ein grosses Geheimnis wäre.“, sie hob den Kopf.

„Wie auch immer“, sagte Jakob und erhob sich, „ich muss jetzt gehen. Morgen bist du dran, Naemi… wenn wir schon Freunde sind, will ich auch einiges über euch wissen.“

„Sag mal Jakob“, sagte Kayla, „du wirkst aber irgendwie nicht wie ein versoffener Strassenköter.“ Er grinste sie an. „Das bin ich auch nicht mehr. Aber das erzähle ich euch ein andermal. Ich habe mein Leben wieder im Griff – dank dir, Kayla…“ – er drehte sich um und verliess das Zimmer. Die Mädchen sahen sich an. Auf Naemis Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Kayla legte den Kopf ein wenig schief und erwiderte das Lächeln vorsichtig.

„Besondere Namen“, flüsterte Naemi. Kayla nickte. „Aber eine vollkommen schräge Geschichte… ich frage mich, ob das alles Wirklich ist. Oder ob wir einfach verarscht werden… ob Jakob und du…“

„Nein! Denk das nicht Kayla! Wir verarschen dich nicht! Also… ich nicht. Und ich glaube auch Jakob nicht. Ich meine… das ist alles wirklich schräg und so, aber es… es passt zusammen. Irgendwie.“, sie hob hilflos ihre Hände, drehte die Handflächen nach oben. Kayla schwieg lange bevor sie sich wieder dem Buch zuwandte und meinte: „Wir sollten die Geheimschrift entschlüsseln und sehen, was da steht. Wenn die Geschichte gut sein soll, ist da etwas Wichtiges verborgen!“ Sie hob den Kopf und warf Naemi einen kurzen Blick zu. Diese nickte, schlug die Beine zu einem Schneidersitz, griff nach ihrem Buch, drehte es wie es Kayla vorher gemacht hatte und beugte sich mit gerunzelter Stirn darüber.

 

 

 

Naemi:

Irgendwann klopfte es an der Zimmertür, Manuela streckte den Kopf herein.

„Ihr solltet schlafen“, sie kam ganz herein, „habt ihr die Hausaufgaben überhaupt schon gemacht?“. Die beiden sahen sich kurz an.

„Ehrlich gesagt – nein.“, sagte Naemi.

„Ich bin mir sowieso nicht sicher, ob es schlau ist, wenn du morgen zur Schule gehst.“, meinte Manuela an Kayla gewandt. „Ich denke, man wird dich da suchen.“

„Das könnte noch länger der Fall sein. Ich kann doch nicht ewig der Schule fern bleiben!“, Kayla schüttelte den Kopf, „ich werde hingehen und halt vorsichtig sein.“

„Weißt du was das Problem dabei ist?“, fragte Naemi, „kein Mensch in deiner Klasse würde merken, dass du weg bist. Sorry, das ist jetzt hart, aber es ist nun mal so.“ Sie legte den Kopf ein wenig schief, als wollte sie sich entschuldigen. „Und – wir sind in drei verschiedenen Klassen, also können Jakob und ich auch nicht immer auf dich aufpassen.“, sie zuckte mit den Schultern. „Von daher…“

Kayla sah Naemi lange an, bevor sie sagte: „Du hast recht. Du hast vollkommen recht.“

„Dann können wir morgen damit beginnen, das alles irgendwie in Ordnung zu bringen. Du kannst nicht lange hier bleiben – es könnte für uns Konsequenzen haben, die wir nicht tragen können. Das heisst, wir müssen bald zu einer geeigneten Lösung finden.“

Kayla nickte. Naemi schluckte. „Muss das wirklich schon sein?“, wollte sie wissen.

„Ja. Das muss sein. Es ist auch für Kayla wichtig. Trotzdem musst du dafür sorgen, dass Kayla den Anschluss nicht verliert.“ Sie sah ihre Tochter an. Naemi nickte. „Ja. Mach ich.“

„Dann macht jetzt eure Hausaufgaben. Und dann geht schlafen!“ Die Mädchen gehorchten und legten ihre Bücher zur Seite. Manuela verliess das Zimmer.

„Na dann!“, seufzte Naemi, „sehen wir mal, was getan werden muss…“, sie stand auf und holte ihre Schultasche. Kayla grinste.

„Meine Schulsachen sind zu Hause. Wie übrigens alles andere auch. Ich hab keine saubere Wäsche…“, sie begann zu lachen. Sie lachte, bis ihr die Tränen über das Gesicht liefen und sie sich den Bauch halten musste. Naemi sah ihr einfach dabei zu, bis auch sie lachen musste. Und eigentlich war die Situation auch wirklich zu komisch.

 

Kayla:

„In welchen Fächern bist du stark?“, wollte Kayla wissen.

„Sprachen, Geschichte und Sport.“

„Klasse! Dann mache ich diese Aufgaben.“, sie grinste. „Damit wir wirklich was lernen dabei, versteht sich.“

„Oh nein! Ich muss Mathe machen? Komm schon Kayla… du machst Mathe und ich…“ – „Nein. Das bringt nichts. Ich kann es dir erklären – und du erklärst mir, was ich nicht verstehe. Positiver Nebeneffekt – wir lernen beides. Verstehst du?“

„Sag mal. Findest du das cool so vernünftig zu sein?“, Naemi sah sie irritiert an.

„Na klar.“, gab Kayla zurück, „genau so cool wie keine frische Unterwäsche!“

„Lass uns anfangen“, gab sich Naemi nach kurzem Schweigen geschlagen. Kayla nickte.

 

„Kayla! Du solltest schlafen! Es ist drei Uhr morgens!“, flüsterte Manuela von der Tür her.

„Ich kann nicht schlafen! Ich…“, Kayla schwieg. Manuela kam herein und trat neben sie.

„Was ist das?“, wollte sie wissen, sie beugte sich hinunter. „Was steht da?“, fragte sie. Kayla sah sie irritiert an. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass Manuela ihr sagen würde, dass sie das Buch verkehrt herum halte.

„Was?“, zischte Kayla leise, „Was genau meinst du?“

„Na das hier!“, Manuela tippte auf eines der handgeschriebenen Worte.

„Du kannst es sehen?“, flüsterte sie.

„Ja natürlich!“, nun war die Ältere verwirrt.

„Können wir draussen reden?“, fragte sie.

„Gehen wir in die Küche.“, antwortete Manuela. Kayla grinste. „Wie Naemi!“, dachte sie. „Nicht lange fragen sondern handeln!“, ihr wurde bewusst, dass sie Naemi und ihre Mutter wirklich mochte.

„Also?“, machte Manuela. Sie hatten sich an den Küchentisch gesetzt.

Kayla starrte sie an. Jetzt wo sie hier sassen, wusste sie überhaupt nicht, weshalb sie überhaupt mit ihr reden wollte. Sie hob die Schultern und liess sie wieder fallen.

„Aha.“, machte Manuela. Sie erhob sich,  holte zwei Gläser und eine Flasche Wasser.

„Dann“, sie öffnete die Flasche und goss die Gläser voll, „werde ich dir etwas erzählen, Kayla.“, sie setzte sich wieder hin und sah Kayla in die Augen.

„An einem Sommerabend trafen wir uns am See. Ilona, Susan, ich und…“, sie hielt inne, liess aber Kaylas Augen nicht los, „Joshua.“ Kayla blinzelte. Ihr Vater hiess Joshua.

„Dein Vater. Kayla. Wir kannten uns schon seit Kindertagen, wir vier. Ilona weißt du ja wer das ist und Susan war Jakobs Mutter.“, sie wartete ein paar Minuten, liess Kayla das Gehörte verdauen und fuhr dann fort: „Wir trafen uns, weil der erste von uns vieren heiraten wollte. Aus diesem Grund wollten wir die Schätze zusammenlegen und versiegeln. Denn das hatten wir uns geschworen als wir noch Teenager waren. Es war Ilona, die uns damals zu diesem Treueschwur brachte. Sie erklärte uns, dass wir in dem Moment in dem wir heiraten, andere Menschen werden. Erwachsene Menschen. Wir würden Kinder bekommen und keine Zeit mehr haben, unsere Kräfte und Fähigkeiten zu nutzen. Weil wir dann ein Gelübde abgeben – ein anderes Gelübde. Natürlich reichte uns das noch lange nicht, doch je länger wir ihr zuhörten umso deutlicher wurde uns klar, dass sie recht hatte. An jenem Abend also versiegelten wir die Schätze. Den Ring von Ilona, die Lederdose von Joshua, das Tuch von Susan und…“, sie lächelte leise, „die Dose von mir. Das alles kam in eine Aluminium-Kiste die wir dann vergruben. Lange Zeit glaubten wir, dass Joshua Susan heiraten würde. Doch das einzige, was Susan von ihm hatte, war ein Kind. Sie liebte ihren Sohn über alles, so wie sie Joshua ihr Leben lang liebte. Doch sie akzeptierte, dass er eine andere heiratete und wir blieben trotzdem Freunde. Einzig Ilona und ich blieben aber wirklich richtige Freunde. Susan musste wegen ihrer Arbeit auf die andere Seite der Stadt ziehen, Joshua und seine Frau verliessen sogar für ein paar Jahre das Land. Du wurdest in Indien geboren – als du etwa zwei warst, seid ihr zurückgekommen. Joshua und ich trafen uns ein paar Mal und einmal brachte er dich mit. Er sagte, dass das Geheimnis irgendwann erwachen würde. Ich kenne deine Mutter nicht wirklich gut. Einige Male hatten wir uns gesehen, mehr nicht. Das ging so schnell mit den beiden, da lag kennen lernen gar nicht wirklich drin.“

Kayla war blass. Ihre Augen glänzten fiebrig – aber sie sass Manuela reglos gegenüber.

„Alles in Ordnung?“, wollte Manuela leise wissen. Kayla zeigte keine Reaktion.

„Kayla?“

„Jakob ist mein Bruder.“, sagte Kayla tonlos.

„Dein Halbbruder.“

„Er ist mein Bruder. Genauso wie die anderen meine Schwestern sind. Ich habe einen grossen Bruder!“, Kayla lächelte, „ein gutes Gefühl wenn ich ehrlich bin!“

„Du erstaunst mich.“

„Warum?“

„Ich stelle gerade dein Leben auf den Kopf, erzähle von Geheimnissen… und…“

„…denke darüber nach, dass ich einen Bruder habe.“

„Ja.“

„Weiss er es?“

„Nein. Ich habe deinem Vater versprochen, dass du es als einzige von mir erfahren wirst. Was und wie viel du davon weitergibst, ist deine Entscheidung. Was ich aber tun werde, ist die Fragen zu beantworten, die sich daraus ergeben.“ Manuela sah Kayla ernst an.

„Ich muss den Code knacken.“, murmelte das Mädchen.

„Den Code?“ Manuela nickte zum Buch.

„Genau diesen. Ich glaube…“, sie hielt inne um nachzudenken, „ich glaube, da steht alles drin, was wir wissen müssen. Ich glaube, ihr habt nicht alles gewusst.“

„Warum meinst du?“

„Du kennst die Bücher nicht. Oder? Sie kommen von meiner Ur-ur-urgrossmutter. Ob sie das mit Jakob wusste?“

„Ich – ich habe keine Ahnung.“

„Eben. Also müssen sie von ihr kommen. Bedeutet das vielleicht, dass sie der Ursprung ist? Dass sie die erste Magierin der stummen Worte ist? Was für eine Magie soll das eigentlich sein?“

„Oh.“, machte Manuela und schwieg.

„Was für eine Magie ist das?“

„Eine mächtige, wenn man sie beherrscht.“

„Was kann sie?“

„Alles.“

„Alles?“

„Alles.“

„Na toll. Jetzt kann ich mir ganz genau vorstellen, was für eine Art Magie es ist.“

„Ich weiss.“

„Du weißt.“

„Ja. Aber du wirst alles erfahren Kayla. Alles zu seiner Zeit. Das erste, was wir nun zu tun haben, ist dich irgendwo unterzubringen. Und – den Code knacken. Und – die Kiste ausgraben. Ich glaube, du wirst diese Dinge brauchen.“

„Verrückt.“, Kayla grub ihr Gesicht in die Hände und schüttelte den Kopf. Sie hob ihn, blinzelte durch zwei Finger, „verrückt!“, nuschelte sie. Manuela lächelte.

„Jetzt geh ins Bett, Kayla.“

„Ich kann nicht schlafen!“

„Was wirst du tun?“

„Ich werde“, sie griff nach dem Buch, „den Code knacken. Ich habe da so eine Idee!“

„Dann lass ich dich mal. Ich muss noch zwei Stunden schlafen, sonst krieg ich den Tag nicht auf die Reihe.“

„Kein Problem.“

„Gute Nacht Kayla!“

Kayla hörte sie nicht mehr. Sie hatte das Buch aufgeschlagen, ihre Augen glitten über die Zeilen. Sie konnte die Antwort fast fühlen. Als ob sie es im nächsten Moment erkennen würde. Ihr Herz klopfte aufgeregt, die Buchstaben verschwammen leicht vor ihren Augen.

 

„Morgen!“, Naemi sah ihr über die Schulter. „Und?“

„Ich hab ihn.“

„Nein?“

„Doch. Aber nur meinen, befürchte ich. Du hast einen anderen.“

„Oh nein!“

Kayla beugte sich wieder über das Buch und schrieb weiter ab.

„Aber bis ich alles übersetzt habe, dauert es wohl noch eine Weile. Es ist sehr viel – und ich muss alles zweimal umdrehen.“

„Oh.“, machte Naemi. Kayla nickte.

„Kannst du Jakob eine Nachricht zukommen lassen?“

„Soll ich ein weisses Blatt aufhängen?“

„Nein. Nein.“, sie griff unter das Buch, „ich habe sie schon geschrieben. Er müsste sie nur bekommen.“

„Ah. Ja, kein Problem.“, sie drehte den gefalteten Zettel hin und her, „und was steht da drin?“

„Du darfst es lesen. Geht dich ja auch was an.“, Kayla grinste.

 

„Habe den Code, beginne mit der Ãœbersetzung. Ich denke, Naemis und deiner sind gleich aufgebaut wie meiner. Ich erkläre es euch heute nach der Schule – bei Naemi. Gruss Kayla.“

 

„Nach der Schule habe ich Training. Aber danach komme ich. Ich komme genau genommen einfach nach Hause.“

„Dann fangen Jakob und ich einfach schon an.“

Kayla erhob sich und ging zum Kühlschrank. „Hunger.“, brummte sie.

„Ich auch.“

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bloodredmoon

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