Die Geschichte, die uns durch die Woche begleitet hat...
Kayla:
Der Sommer wich langsam dem Herbst. Kürzere Tage, es wurde merklich kühler. Naemi und Kayla fuhren jede Woche einmal miteinander – doch in der Schule kannte Kayla Naemi nicht. Sie blieb bei der Ãœberzeugung, dass eine Freundschaft mit ihr nicht von grossem Vorteil war, weshalb Kayla Naemi nicht einmal grüsste. Es war erst zwei Tage her, als sie sich auf dem Flur trafen. Ihre Blicke kreuzten sich, und für einen kurzen Moment hatte Kayla das Gefühl, der Rest der Welt hätte sich aufgelöst um sich gleich wieder zusammen zu fügen.
Der Nieselregen schien sich durch jeden Stoff hindurch zu fressen, bis er auf warme Haut traf. Sie schüttelte sich ein bisschen und lief schnell weiter. In der Altstadt fand sie sich zurecht, wie zu Hause unter dem Fussboden. Wann immer sie konnte flüchtete sie hier her. Und wenn sie einfach ihre Ruhe wollte, lief sie die 398 Stufen hinauf zum Schloss. Dorthin wollte sie. In den Turm und ganz hinauf. Dort war niemand.
Kayla betrat den Schlossgarten durch das hintere Tor, wandte sich direkt nach links um der Mauer entlang zur Kellertür zu gelangen. Der Keller selbst war unbenutzt, weshalb die Türe nicht mehr geschlossen wurde. Doch von dort führte ein kurzer Tunnel direkt zum Turm. Eine Falltür, ebenfalls nicht verschlossen, konnte leicht angehoben werden. Hinauf war einfacher als hinunter. Selten nahm sie diesen Weg aus dem Turm hinaus. Es gab mehrere Möglichkeiten. Rein in den Turm kam man aber nur auf diesem Weg. Sie stieg wieder 398 Stufen hinauf, immer im Kreis herum. Vorbei an 25 kleinen Türen. Bis hinauf auf den obersten Boden.
Kayla durchquerte mit wenigen Schritten den Raum, riss die Türe auf die hinaus auf den Balkon führte. Sie trat an die Mauer, legte den Kopf in den Nacken und atmete tief ein.
„Hallo.“ Kayla fuhr erschrocken herum. Da sass ein Junge auf dem Boden. Lässig an die Wand gelehnt, grinsend an seine Kappe tippend.
„Ha…“, Kayla brachte keinen Ton heraus. Er grinste noch breiter und sprang mit einem Satz auf. Er kam auf sie zu, streckte ihr die Hand hin, „Hey. Ich bin Jakob.“
„Jakob.“, wiederholte Kayla, seine Hand ignorierend. „Heisst du wirklich Jakob?“
„Natürlich.“, er sah auf sie hinunter, seine grünen Augen blitzen schelmisch. Kayla wich einen Schritt zurück. „Na schön. Dann – Jakob… ich bin Emma.“
„Na na, junge Dame!“, er hob den Zeigfinger und wackelte damit hin und her, sie musste grinsen, „verarschen geht nicht. Ich weiss, dass du nicht Emma heisst.“
„Woher willst du wissen, wie ich nicht heisse? Du hast ja keine Ahnung, wie ich heisse!“
„Klug kombiniert!“, der Zeigefinger ragte hoch in die Luft, er machte ein Lehrergesicht. Sie musste lachen. Es sah einfach zu komisch aus. Plötzlich beugte er sich zu ihr und sagte, „doch ich kenne deinen Namen, schönes Kind. Du bist Kayla.“ Wieder streckte er ihr seine Hand hin – „freut mich, dich kennen zu lernen!“
Kayla starrte ihn immer noch an. Den Kopf schiefgelegt, die Stirn in tiefen Runzeln – die Augen verengt „woher kennt der meinen Namen?“, fragte sie sich. Sie war sich ziemlich sicher, ihn noch nie gesehen zu haben. Er war wahrscheinlich ein paar Jahre älter als sie.
„Woher kennst du meinen Namen?“, fragte sie ihn, nachdem sie ihre Stimme wieder gefunden hatte.
„Weil ich ein Geschenk für dich habe.“
„Du hast… du hast was?“
„Ein Geschenk von einer alten, sehr weisen Frau. Sie schickt mich, dir etwas zu geben – was eigentlich dir gehört. An sich ist es also auch kein Geschenk. Es gehört dir ja. Also muss ich dir etwas zurückgeben.“
Kayla begann zu lachen. „Klar.“, sagte sie, „Ausgerechnet ich bekomme etwas, was mir gehört, von einer alten weisen Frau! Was soll das? Was fällt euch noch ein, mich so zu quälen?“
„Du meine Güte! Auf welchem Trip bist du denn?“, fragte Jakob verblüfft.
„Na hör mal! Das klingt wie der Anfang von einem Fantasy-Roman!“
„Du…“, er schüttelte verwundert den Kopf, „du glaubst mir nicht?“
„Nein. Sorry. Nein, wirklich nicht. Das ist ein ganz gemeiner Scherz! Um ein Haar wäre ich darauf reingefallen!“, sie drehte sich um und sah über die Stadt die ihr zu Füssen lag. Er trat leise neben sie und legte eine Schachtel neben sie auf die Mauer, dann drehte er sich um und ging. Kayla schielte immer wieder auf die Schachtel, nahm sie aber nicht in die Hand. Irgendwann siegte die Neugierde. Langsam streckte sie die Hand aus. Berührte die Schachtel mit dem Zeigfinger – zog die Hand ein wenig zurück, streckte den Finger wieder aus, krabbelte langsam an die Schachtel heran. Bevor sie die Hand darum schloss, hielt sie einen Moment inne. Dann hielt sie die Schachtel in der Hand. Lange Zeit betrachtete sie den Deckel. Ein Wirrwarr von Zeichen und Linien hob sich glitzernd von einem kupferfarbenen Hintergrund ab. Je länger sie darauf starrte umso verwirrender erschien es ihr. „Fehler in der Geschichte“, brummte sie, weil das hier der Punkt gewesen wäre, an dem das Bild deutlich hätte werden müssen, damit sie irgendetwas verstehen würde. Und die Geschichte endlich anfangen würde. Stattdessen stand sie immer noch da oben und starrte auf den Deckel dieser Schachtel. Sie schüttelte den Kopf, „Reiss dich zusammen Kayla!“, schimpfte sie sich selbst leise, hob entschlossen den Deckel und sog überrascht die Luft ein.
Vor ihr lagen drei wunderschöne Stifte. Einer war blau, einer war rot und einer war gelb. Sie waren mit Steinen besetzt, die das Sonnenlicht reflektierten. Kayla hob die Schachtel.
„Da muss noch mehr drin sein“, dachte sie. Stellte sie wieder vor sich hin und betrachtete sie genau. An der Seite gab es zwei winzige Verschlüsse, die sie aufdrehen musste, dann konnte sie den Boden heraus heben. Darunter fand sie einen Brief – und Tintenpatronen. In der einen Hand hielt sie den Brief, mit der anderen fuhr sie in die Patronen und nahm eine Handvoll heraus um sie zu betrachten. In der Schachtel begann es zu rascheln, sie sah hinunter und sah, wie das Loch das sie gemacht hatte, wieder aufgefüllt worden war. Sie starrte die Schachtel ziemlich lange einfach nur an. Ihre Gedanken purzelten wild durcheinander. Plötzlich erinnerte sie sich wieder an den Brief. Sie sah auf die Tintenpatronen in ihrer Hand. „Wohin damit?“, fragte sie sich und steckte sie kurzentschlossen in ihre Jackentasche. In der Schachtel hatten sie keinen Platz mehr. Dann öffnete sie den Brief, faltete ihn auseinander und begann zu lesen.
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„Meine liebe Kayla!“ sie runzelte die Stirn, sie warf einen Blick auf das Ende des Blattes. Sie musste das Blatt umdrehen um eine Unterschrift zu finden. Da stand einfach nur „Gruss von mir!“ – „Na bravo!“, dachte sie. „Ich bekomme einen Brief und drei Stifte von Dir, obwohl die Stifte ja mir gehören….“, sie schüttelte den Kopf, und begann noch einmal mit dem Brief.
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„Meine liebe Kayla! Ich bin eine alte Frau. Du kennst mich nicht. Vielleicht aus deinen Träumen, vielleicht hast du auch schon ein Bild von mir gesehen. Ich bin deine Urururgrossmutter. Die Frau, die man vergessen hat – die Frau, die verrückt war. Da wo ich bin, mein Kind, da geht es mir gut. Trotzdem, es wird Zeit für mich, lebe wohl zu sagen und zu sterben. Bevor ich das tun kann muss ich aber die Federn wieder zurückgeben. Und dafür musste ich auf den richtigen Zeitpunkt warten, davon hängt sehr viel ab – weil die Federn sonst ohne Sinn und Wert sind. Doch wenn du diesen Brief liest, dann war es der richtige Zeitpunkt.
Diese Federn – sind aus reinstem Kristall. Die Hüllen sind pures Gold, die Steine darauf Rubine, Smaragde und Bernstein. Ihre Pracht zeigt sich aber nur dem wahren Besitzer. Alle anderen sehen einfache schwarze Füllfederhalter. Unauffällig.
Wie du dir nun denken kannst, haben diese Federn hier aber eine besondere Aufgabe. Einen besonderen Zweck. Und die Tinten – du hast bestimmt schon bemerkt, dass sie sich selbst auffüllen. Ich werde es dir erklären. Doch zuerst muss ich dir noch erklären, weshalb diese Federn dir gehören.
Dein Vater wollte immer Goldschmied werden, musste aber die Laufbahn des Anwaltes einschlagen, weil seine Eltern das so wollten. Als er sich in deine Mutter verliebte, erinnerte er sich an diesen Wunsch und begann selbst Schmuck zu zeichnen und herzustellen. Er besuchte Kurse und wurde immer besser. Als er ihr den Heiratsantrag machte, schenkte er ihr Ohrringe, eine Halskette mit einem wundervollen Herzanhänger, eine Armkette, einen Ring und eine Brosche. Zur Hochzeit bekam sie ein Diadem – und eure Geburten schmückte er mit unglaublichen Kunstwerken, die im Garten standen.
Ich habe all das leider nur auf Fotos gesehen – zu jener Zeit schien keiner sich an mich zu erinnern. Dachte ich jedenfalls. Eines Tages stand dein Vater vor mir.
„Oma.“, sagte er, „erzähl mir, wer du bist!“ – natürlich dauerte es seine Zeit, bis ich wirklich reden konnte. Das kennst du, nicht wahr Kayla? Es braucht so viel Mut, zu reden. Etwas von sich preis zu geben. Man ist dann verletzlich, wenn man sich öffnet. Aber er war sehr geduldig mit mir, er nahm sich sehr viel Zeit. Kam immer wieder. Dann brachte er dich mit. Du warst gerade vier. Er hatte dich auf dem Arm, stand in der Tür und sah mich mit einem wissenden Lächeln an. Er stellte dich auf den Boden und du kamst auf direktem Weg zu mir. Du hast ich angesehen und gesagt: „Sehe ich so aus wie du wenn ich alt bin?“ – ich habe deinen Vater angesehen und er hat gelächelt. In der Tat. Ich sah aus wie du, als ich ganz klein war. Und da war noch etwas. Die Magie. Dein Vater hat sie gesehen. Die Magie der stummen Worte. Ich habe sie. Er hatte sie. Und du hast sie. Er sagte mir irgendwann, dass er darum meine Geschichte hören wollte. Er wollte die Geschichte hinter der Geschichte hören, weil er wusste, dass er sie hören konnte.
Irgendwann beschloss er, für dich die Federn zu machen. Mit all seiner Liebe, seinem Stolz – mit all seinem Wissen schuf er die drei Federn. Eine ist für dich. Und die beiden anderen sollst du an deine Freunde verschenken. An deine besten Freunde. Und die besten sind diejenigen, die die Pracht sehen. Alle anderen sind es nicht. Nur wer die Pracht sehen kann, kann auch mit dieser Feder schreiben. Und nur wer damit schreiben kann, kann es auch lesen. Für alle anderen funktioniert der Füller nicht – und sie sehen nur ein weisses Blatt.
Und wer damit schreiben kann, kann all seine Gedanken in Worte fassen. Das sind die Magier der stummen Worte.
Wenn du den Brief zu Ende gelesen hast werde ich einschlafen – dankbar und zufrieden.
Du bist ein gutes Mädchen, Kayla. Hab Geduld!
Gruss von mir!“
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Kayla liess den Brief sinken. Der Nieselregen setzte wieder ein. Schnell stellte sie den Boden in die Schachtel zurück, legte den Deckel darauf, nahm die Schachtel und ging hinein. Sie setzte sich auf den Boden mit dem Rücken an einen Holzpfeiler gelehnt. Sie las den Brief noch einmal. Und noch einmal. Die Kälte kroch vom Boden herauf, zwang sie irgendwann nach Hause zu gehen.
Sie schlich sich hinein, krabbelte unter die Decke – die Schachtel hatte sie im Schrank versteckt, den Brief hatte sie unter dem Kopfkissen. Obwohl sie müde war, konnte sie nicht einschlafen. In ihrem Kopf drehten sich die Gedanken zu Schlaufen und Knoten. Sie drehte die Gedanken hin und her, warf sich im Bett hin und her. Irgendwann stand sie wieder auf, lauschte an der Tür. Es war still. Und dunkel. Sie holte ihre Taschenlampe hervor und kramte die Schachtel aus dem Schrank. Lange sah sie auf die Federn. Sie wusste seit dem ersten Moment in dem sie die Federn gesehen hatte, welche die ihre war. Dennoch konnte sie noch nicht danach greifen. Irgendetwas hielt sie zurück. Vielleicht die Frage, ob sie das wirklich wollte? Mehrfach hatte sie überprüft, ob sie wach war – oder ob sie träumte. Kayla wusste, dass sie wach war. Hellwach sogar. Und dass das alles wirklich geschah.
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Plötzlich wusste sie, was sie tun musste. Sie holte Papier, setzte sich auf den Boden, nahm ein Buch, legte ein Blatt darauf. Dann zog sie die Schachtel näher zu sich und nahm ihre Feder heraus. Sie fühlte sich überraschend leicht an. So als wäre es wirklich nur eine Feder. Kayla schraubte den Deckel ab. Die Feder war durchsichtig wie Glas, die Tinte ebenfalls. Sie senkte die Feder auf das Blatt. Sofort erschien ein blauer Punkt. Sie schrieb „Kayla“ – ein wunderschönes Blau hob sich vom Weiss ab. Sie runzelte die Stirn. Sie konnte es sehen. Konnten es andere wirklich nicht sehen? Wie konnte sie das überprüfen? Wem gehörten die beiden anderen Federn? Wer waren ihre Freunde – hatte sie Freunde. Sie sagte laut „Nein!“, und begriff im selben Moment, dass sie alle ihre Gedanken aufgeschrieben hatte. „Nun, damit überprüfe ich es sicher nicht“, dachte sie und griff nach einem weiteren Blatt. Sie schrieb „HALLO“ darauf. Dann schraubte sie den Deckel wieder auf die Feder, legte das Blatt in ihre Mappe, die Feder wieder in die Schachtel. Zuerst musste sie wissen, wer dieses „HALLO“ sehen konnte.
Sie schlüpfte zurück unter die Decke und schlief endlich ein.
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Naemi:
„Warum hängt da ein weisses Blatt Papier?“, fragte jemand. Naemi drehte den Kopf zum Anschlagbrett und sah das Blatt sofort. Aber es war nicht leer. Da stand in riesigen Buchstaben „HALLO“ – sie beobachtete die Leute, die am Anschlagbrett vorbei gingen. Alle sahen auf das Blatt, aber niemand schien die Buchstaben zu sehen. Manche zuckten die Schultern, manche gingen näher heran um das Blatt genau unter die Lupe zu nehmen. Doch niemand nahm es herunter.
„Ich geh noch kurz für kleine Mädchen“, sagte Naemi.
„Beeil dich, gleich beginnt der Unterricht.“, erwiderte jemand, Naemi hatte sich schon umgedreht und lief in Richtung der Toiletten. Nach dem Läuten wartete sie noch ein paar Minuten, dann trat sie wieder hinaus in den Flur. So leise wie sie konnte, ging sie wieder zurück zum Schwarzen Brett. Als sie um die Ecke bog, blieb sie stehen. Ein Junge stand davor und betrachtete das Blatt. Sie konnte nur sein Profil sehen, doch sie sah, dass er lächelte. Er drehte sich um und ging mit langen Schritten zum Ausgang. Sie sah ihm nach. Hatte er es gesehen? Sie setzte sich auf die Treppe und sah zum Brett hinüber. War da tatsächlich eine Stimme in ihrem Kopf? Die ihr sagte, dass sie genau wusste, was hier geschah? Sie schüttelte den Kopf. Das konnte nicht sein. Das bildete sie sich alles nur ein und es wurde Zeit im Unterricht zu erscheinen.
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Am Nachmittag, als Naemi nach Hause gegangen war, war das Blatt verschwunden. Doch am nächsten Morgen hing ein neues Blatt. Sie blieb stehen und las: „Wenn du es lesen kannst, dann nimm die Feder und schreib etwas.“ Naemis Blick wanderte zur schmalen Ablage unter dem Brett. Da lag ein prächtiger Stift. Sie ging näher und erkannte, dass es eine Füllfeder war. Sie wollte schon danach greifen, doch irgendetwas hielt sie zurück. Sie wusste, dass es nicht recht wäre, wenn sie den Füller berühren würde.
Naemi sah sich um, beobachtete wieder die Schüler rund um sie herum. Keiner schien lesen zu können, was da auf dem Blatt stand. Es schien auch, als ob keiner den Füller sehen könnte. Niemand zeigte auch nur einen Hauch einer Reaktion. Wie am Tag vorher wartete sie den Unterrichtsbeginn ab, um sich die Sache noch einmal anzusehen. Dieses Mal musste sie unbedingt ins Sekretariat.
Naemi sass wieder auf der Treppe und studierte das Blatt. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, worum es hier ging. Die Türe klapperte, sie drehte den Kopf zum Ausgang und sah denselben Jungen wie am Tag vorher. Er ging direkt zum schwarzen Brett, las die Nachricht, griff nach dem Füller, drehte den Deckel ab und schrieb: „Du kennst mich nicht. Aber ich dich.“ Er legte den Füller zurück und ging wieder. Naemi erhob sich und trat näher heran. Verwirrt las sie die Nachricht.
„Naemi? Kommst du bitte zum Unterricht?“ – der Deutschlehrer stand neben ihr und sah sie tadelnd an.
„Ja. Ja, natürlich. Ich bin schon unterwegs!“, sie lief neben ihm her, er öffnete die Tür, „Nach dir!“, und schob sie ins Zimmer hinein.
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„Hast du das Blatt auch gesehen?“, fragte Naemi und sah Kayla gespannt an.
„Welches Blatt?“, wollte diese wissen.
„Das am schwarzen Brett. Das weisse, wo…“, sie verstummte.
„Nein. Habe ich nicht. Was ist damit?“
„Da…“, sie ruderte mit der linken Hand durch die Luft, „da ist einfach ein weisses Blatt. Jemand hängt es auf und nimmt es wieder herunter.“
„Ein weisses Blatt?“, Kayla lachte, „einfach ein weisses Blatt?“
„Ja.“, Naemi seufzte. Also konnte es Kayla auch nicht sehen.
„Was ist mit diesem Blatt? Warum beschäftigt es dich?“, wollte Kayla nach ein paar Minuten wissen in denen sie schweigend nebeneinander her gefahren waren.
„Ach. Ich weiss nicht. Es ist nur… es ist… ich…“, sie schwieg wieder.
„Da steht nichts drauf?“
„Doch!“, platzte Naemi heraus.
„Was? Da steht was drauf?“, Kaylas Ton war spöttelnd.
„Ja.“, Naemi sah wieder zu ihr, „Ja. Da steht etwas darauf. Scheinbar bin ich aber die Einzige – halt nein, da ist noch jemand. Ein Junge. Wir können lesen, was da steht!“
„Du bist verrückt!“, Kayla schüttelte den Kopf. „Aber ich werde es mir ansehen.“
„Hah.“, machte Naemi.
„Was?“, wollte Kayla wissen.
„Ich habe da so eine Idee… wir sehen uns später! Bis dann!“ und schon bog sie um die Ecke. Sie wusste, dass Alex heute zu Hause war. Die Hauswirtschaftslehrerin war krank. Sie musste mit ihm sprechen. Musste wissen, ob er die Nachricht lesen konnte. In der Küchentür blieb sie wie angewurzelt stehen. Der fremde Junge sass am Tisch und plauderte mit Ilona. Als er Naemi sah, hielt er inne, grinste sie an. „Hey, ich bin Jakob!“, sagte er und zwinkerte mit dem Auge. Sie starrte ihn einfach nur an.
„Naemi?“, Ilona berührte ihren Arm, „siehst du gerade ein Gespenst?“
„So in etwa“, murmelte sie, „ich bin Naemi“, sagte sie dann lauter zu ihm. „Ich bin die Tochter von Ilonas bester Freundin.“
„Freut mich, dich kennen zu lernen! Ich bin ziemlich neu hier. Alex kümmert sich um mich.“ Naemi sah ihn lange an, „als ob man sich um dich kümmern müsste“, dachte sie. Es war wie immer der kleine Sven, der wie ein Tornado in die Küche einfiel und alle Aufmerksamkeit auf sich zog.
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Als Naemi die Schule verliess, waren Blatt und  Füller weg. Sie beschloss, am nächsten morgen früher in der Schule zu sein. Vielleicht konnte sie beobachten, wer das Blatt aufhängte.
Am nächsten Morgen wurde kein Blatt aufgehängt. Auch nicht am nächsten. Am dritten Tag sah sie Kayla draussen stehen. Sie schien mit jemandem zu reden, doch diesen Jemanden konnte Naemi nicht sehen. Sie blieb stehen und reckte den Hals. In diesem Moment drehte  Kayla  sich um und kam auf das Schulhaus zu,  die andere Person ging in Richtung Turnhalle. „Jakob.“, murmelte sie. „Also war die Nachricht wirklich von Kayla!“, dachte sie.
„Naemi? Kommst du?“, jemand zog an ihrem Ärmel, „was ist nur los mit dir? Du scheinst ständig irgendwo anders zu sein!“
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„Ich weiss, dass du das lesen kannst… deine Feder liegt bereit…“, Naemi trat an das Brett heran. An diesem Morgen lag eine andere Füllfeder auf der Ablage. Sie war blau. Naemis Lieblingsfarbe. Langsam streckte sie ihre Hand aus, um sie zu nehmen, zu öffnen und etwas auf das Blatt zu schreiben. Während sie darüber nachdachte, was sie schreiben sollte, flog die Feder über das Papier und hinterliess die Worte: „Ich weiss dass du es bist Kayla. Und Jakob. Warum können nur wir das lesen? Gruss Naemi.“ Sie trat einen Schritt zurück nachdem sie die Feder zurückgelegt hatte, las ihre Nachricht noch einmal. Dann schlüpfte sie schnell ins Klassenzimmer. Es war der fünfte Eintrag. „Egal“, dachte sie. „Ich kann es Mam erklären!“
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„Die Feder gehört dir, Naemi. Wir treffen uns heute um vier unten an der Schlosstreppe. Gruss Kayla.“
Darunter stand, „Zieh dich warm an, es ist kühl da oben auf dem Turm. Kannst du vielleicht noch Kekse mitbringen? Gruss Jakob.“
Naemi nahm die Feder und schrieb: „Werde da sein, mit Keksen und Wintermantel. Gruss N.“ Sie drehte den Deckel wieder auf die Feder und steckte sie in ihre Jackentasche. Das wurde ja immer interessanter…