Romane & Erzählungen
Kayla - Kapitel I

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"Kayla - Kapitel I"
Veröffentlicht am 14. Oktober 2011, 30 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Kayla - Kapitel I

Kayla - Kapitel I

Beschreibung

Die Geschichte, die uns durch die Woche begleitet hat...

Kayla:

Sie lag ganz still. Konzentrierte sich darauf, dass sie so atmete, dass sich ihr Bauch nicht ausdehnte, sondern möglichst flach blieb. Aus dem einfachen Grund, weil der Platz so beschränkt war. Er hatte sie wieder ins Loch gesperrt. Im Wohnzimmer. Sie lag unter dem Fussboden, eingepfercht wie ein Sklave auf einem Schiff. Sie verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln. Vor ein paar Tagen sprach der Lehrer darüber, deshalb fiel ihr dieser Vergleich wieder ein. Ãœber ihr hörte sie die Menschen, die in diesem Haus wohnten, reden. Der Fernseher lief. Gläser klirrten aneinander, ihre Mutter lachte – in ihren Ohren klang es künstlich. Oder doch ängstlich? Sie konnte ihre Schwester hören, die noch an ihren Hausaufgaben sass und einfach nicht weiter kam. Siedend heiss durchzuckte sie die Erinnerung, dass auch sie auf morgen noch etwas zu erledigen hatte. Nur so wie die Sache aussah, würde sie vor morgen früh nicht hier raus kommen.

„Eine Kriegerin?“, hatte er gehöhnt, „Du willst eine Kriegerin sein? Ich zeig dir, was du bist!“, er hatte sie am Kragen gepackt. Im ersten Moment wehrte sie sich dagegen, was ihr eine schallende Ohrfeige einbrachte. Sie versuchte es mit betteln, mit flehen. Obwohl sie wusste, dass ihr nichts helfen würde. Es gab nichts, was sie dagegen tun konnte.

„Verdammt!“, flüsterte sie. Sie schloss die Augen, stellte sich vor, wie sie mit ihren Freunden draussen wäre und Spass hätte. Das Problem bestand darin, dass sie keine Freunde hatte. Sie kannte viele andere in ihrem Alter, sie kannte viele Ältere und Jüngere – doch keine davon war ihre Freundin. Deshalb suchte sie sich einfach eine aus, stellte sich vor, wie sie mit ihrer Freundin all die Dinge tat, die sie tun wollte. In jener Nacht suchte sie sich jemanden aus, die sie eigentlich nicht kannte. Ein Mädchen in ihrem Alter aus der Parallelklasse. Das andere Mädchen, Naemi, hatte grosse, dunkle Augen. Ihre Haare waren pechschwarz und kurz geschnitten. Sie fand, es gab kein hübscheres Mädchen an der Schule als Naemi. Sie wusste auch, dass sie nicht die Einzige war, die das fand. Alle fanden das. Doch die andere war nicht nur hübsch. Sie war eines der Beliebtesten Mädchen an der Schule. Vielleicht, weil sie so hübsch war. In Kaylas Fantasie war Naemi vor allem klug und sehr mutig.  

 

 

Naemi:

„Mam?“, Naemi sass am Küchentisch und erledigte ihre Hausaufgaben.

„Ja?“, ihre Mutter drehte sich zu ihr um.

„Meinst du, ich könnte mal bei Ilona zu Mittag essen?“

„Ich denke schon… ruf sie an und frag sie.“ Ihre Mutter sah sie nachdenklich an. „Warum willst du bei Illona essen?“

„Ach“, Naemi winkte ab, „ich hab nur die Jungs schon lange nicht mehr gesehen.“

„Vor einer Woche?“, sie runzelte die Stirn.

„Eben.“, antwortete das Mädchen, legte den Stift in ihr Etui, zog den Reissverschluss, packte ihre Blätter zusammen und erhob sich.

„Naemi?“, ihre Mutter sah sie immer noch mit gerunzelter Stirn an.

„Ich erzähle es dir, wenn… ich…“, Naemi seufzte leise, „ich erzähle es dir, wenn ich mehr weiss, okey? Es ist nichts Schlimmes. Ich muss nur etwas herausfinden.“

„Du machst keine Dummheiten?“

„Nein. Versprochen!“ sie hob die Hand und drehte die Handfläche nach oben. Das Zeichen für ihr Ehrenwort. Die Stirn ihrer Mutter glättete sich wieder, sie lächelte. Naemi verliess die Küche und ging in ihr Zimmer. Auf dem Weg dahin schnappte sie sich das Telefon und wählte die Nummer der Freundin ihrer Mutter.  

„Hey Sven!“, Naemi sass auf dem breiten Sims, liess die Beine aus dem Fenster baumeln, „ist deine Mom da?“.

„Naemi!“, rief der kleine ins Telefon, „ja, warte, ich bringe ihr das Telefon!“

„Wie wars im Kindergarten?“, wollte sie wissen, „Gefällt es dir?“

„Jaaah. Ich mag meine Lehrerin sehr! Sie hat so schöne Haare! MOOOOOM! Naemi ist am Telefon!“, das Mädchen grinste vor sich hin. Sven wurde vor ein paar Wochen fünf Jahre alt, sie liebte den Kleinen als wäre es ihr Bruder. Sie vermisste ihn wirklich ein bisschen. Seit sie an die Oberstufe ging, sah sie ihn nicht mehr so oft. Aber Ilona hatte ihr versprochen, dass sie bald wieder einmal Babysitten durfte.

„Naemi?“, Sven hatte seiner Mutter das Telefon gegeben und schrie „Tschüühüüüsss Naemi!“

„Ilona… Hey!“, sie musste lachen, wegen Sven.

„Hallo! Wie geht es dir? Findest du dich zu recht an der neuen Schule?“

„Ja, kein Problem. Hab ja meine Freunde“, sie lächelte. „Die Lehrer sind – na ja, halt eben Lehrer. Entweder man mag sie oder eben nicht.“

„Kümmert er sich um dich?“ Naemi lächelte, als sie an Ilonas ältesten Sohn Alex dachte.

„Ja, das tut er!“, sagte sie.

„Schön!“, sie konnte sich vorstellen, wie die Frau gerade lächelte. „Warum rufst du an?“

„Oh. Ich wollte fragen, ob ich vielleicht morgen bei dir essen könnte?“

„Natürlich! Die Jungs freuen sich bestimmt! Wann kommst du?“

„Ich habe bis halb Schule, danach komme ich zu euch.“

„Gut. Dann will ich mal sehen, dass es Omletten gibt!“ Naemi grinste breit, „vergiss den Zimtzucker aber bitte nicht!“

Nachdenklich legte sie das Telefon neben sich auf den Sims, nachdem sie noch ein bisschen geplaudert und dann verabschiedet hatten. Sie dachte an Alex. Er war ein Jahr über ihr, und ihre beiden Mütter hatten die Idee, dass Alex sich um Naemi  kümmern sollte, da sie neu an der Schule war. Alex und sie hatten jedoch ausgemacht, dass er sich um seine Dinge kümmert und sie sich selbst zu recht finden würde. Sie wollten nicht, dass die ganze Schule dachte, sie wären mehr als einfach Bekannte – was die anderen schnell denken würden, wenn sie ständig zusammen kleben würden. Alex war für sie wie ein grosser Bruder. Vielleicht war sie auch ein bisschen in ihn verliebt. Er sah schliesslich umwerfend gut aus. Und sie wusste, die Mädchenherzen flogen ihm zu. Als sie in den Sommerferien auf dem Baum oben sassen und ihre Lage besprachen, sagte er ihr, dass es ihr nicht anders gehen würde. Einfach dass es Jungenherzen sein würden. Sie lächelte. Davon hatte sie noch nichts bemerkt. Es schien eher so, als würden die anderen sie gar nicht wahrnehmen.

Dann glitten ihre Gedanken zum wirklichen Grund, weshalb sie bei Ilona essen wollte.

Kayla.

Am ersten Schultag, der nun doch schon ein paar Wochen zurück lag, trafen sich alle neuen Schüler in der Aula zur Begrüssung. Sechs neue Klassen – eine Menge Schülerinnen und Schüler die durcheinander redeten, sich über die Köpfe hinweg zuwinkten und sich die gewünschten Plätze erkämpften. Naemi war eine der ersten, die in der Aula war und hatte einen Platz ungefähr in der Mitte des Raumes ausgesucht. Fünf Stühle belegte sie mit Dingen, die sie aus ihrer Tasche nahm – ihre fünf Freundinnen aus der alten Klasse, mit denen sie auch in die neue Klasse kam. Sie sah ständig zur Tür, damit sie keine verpasste – und da sah sie das Mädchen zum ersten Mal. Etwa gleich gross wie sie selbst, mit schulterlangen, braunen Haaren und dunklen Augen. Sie tippte auf braun. Das Mädchen wandte sich nach rechts, in den hinteren Teil der Aula, ging durch die Stuhlreihen und setzte sich auf den letzten Stuhl der Reihe. Sie stellte ihre Tasche auf den Boden, holte ein Buch hervor und begann zu lesen. Naemi konnte es sich nicht erklären, aber irgendetwas an diesem Mädchen war – anders. Dennoch vergass sie sie im Laufe der nächsten Minuten. Ihre Freundinnen trudelten ein, alle sprachen durcheinander, Jungs gingen an ihnen vorbei, die sie neugierig beobachteten und dann kam der Rektor und hielt seine Rede. Danach gingen sie in ihre Schulzimmer und der Schulalltag begann.

Ein paar Tage später lief sie dem Mädchen wieder über den Weg. Ihre Klasse war auf den Weg in den obersten Stock zu Mathe und ihre Klasse war auf dem Weg nach unten, Deutsch. Sie begegneten sich auf der Treppe. Naemi hob den Kopf und sah in Grauviolette Augen. So widersprüchlich es klingt – die Augen der anderen waren tatsächlich von einer Farbe, die sie nur als Grauviolett beschreiben konnte. Dichte, lange, schwarze Wimpern und diese spezielle Farbe in einem sehr hellen Gesicht. Das Mädchen trug die Haare offen und es ging alleine hinter der Gruppe her. Sie hatte den Rucksack locker über eine Schulter gehängt und hielt ein Buch in der anderen Hand. Es sah aus, als hätte sie gerade noch darin gelesen.

„Hey“, sagte Naemi spontan. Die andere sah sie einen Moment lang verwirrt an und deutete ein Lächeln an, lief aber schweigend weiter.

„Mit der musst du nicht reden“, sagte eine ihrer Freundinnen, „die ist seltsam sagen die von ihrer Klasse. Und diejenigen, die vorher mit ihr in der Schule waren, erzählen, dass sie eine Ecke weg hat.“ Naemi drehte sich um und sah dem anderen Mädchen nach. Da war wieder dieses seltsame Gefühl. Ein Kribbeln in ihrem Nacken. Und wieder fiel ihr dieses Wort ein. „Anders.“

Immer wieder lief Naemi dem anderen Mädchen über den Weg. Irgendwann erwähnte jemand ihren Namen. Kayla. Jedes Mal, wenn sie den Namen hörte kribbelte es in ihrem Nacken. Nach und nach erfuhr sie mehr über Kayla. Sei es durch Zufall oder durch Nachforschungen. Und diese ergaben, dass Kayla in derselben Strasse wohnte wie Ilona.

„Morgen werde ich mit ihr fahren“, dachte Naemi und kletterte vorsichtig vom Sims herunter. Ihre kleine Schwester hatte zum Nachtessen gerufen.

 

Kayla:

Es wurde still im Raum. Sie seufzte. Wieder einmal dachte keiner daran, dass sie immer noch unter dem Fussboden in der Sargähnlichen Vertiefung lag. Also gab es wieder einmal, wie könnte es auch anders sein, nichts zu essen. „Macht nichts“, dachte sie, „ich hab sowieso keinen Hunger.“ Sie ignorierte das Knurren in ihrem Bauch und konzentrierte sich darauf auf vier einzuatmen und auf fünf auszuatmen – bis sie einschlief. Die Hände auf ihrem Bauch gefaltet.

 

Sie befand sich mit ein paar anderen auf einem breiten Weg in einem Wald. Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie hier her gekommen war. Sie sah sich um. Diesen Ort kannte sie nicht. Auch die Leute rund um sie herum, deren Stimmen um ihren Kopf schwirrten. Sie betraten eine Lichtung. Da brannte ein Feuer und drei Frauen standen da und sahen ihnen entgegen. Kayla zog die Augenbrauen zusammen. Die mittlere Frau trug einen auffälligen Ring, den sie schon einmal gesehen hatte. Doch die Frau war ihr unbekannt.

Sie standen im Kreis, Kayla runzelte die Stirn, „wie bin ich jetzt hier her gekommen?“, fragte sie sich, da begann die Frau mit dem Ring zu sprechen. Obwohl Kayla sie hören konnte, verstand sie kein Wort. Sie konzentrierte sich auf die Stimme.

„Die roten stehen für Mut. Die blauen für die Hoffnung. Die gelben für Klugheit. Es gibt von jeder Farbe 20 Stück.“ Sie stellte den Korb, den sie in der Hand gehalten hatte, hinter sich auf den Boden. Kayla registrierte eine Bewegung hinter der Frau. Sie sprach weiter: „Eure Steine sind rot. Und die gelben…“, sie breitete die Arme aus, drehte sich im Kreis, „sind irgendwo in diesem Wald. Ihr seid aber nicht die einzigen, die danach suchen. Je mehr Steine von jeder Farbe ihr habt, umso grösser ist eure Macht.“

Kayla konzentrierte sich noch stärker. Der Traum wollte ihr entgleiten, die Lichtung verschwamm langsam, löste sich auf. Doch kurz bevor sie nur noch Nebel um sich herum hatte, hörte sie die Stimme noch einmal. „Vergiss den Wächter nicht!“ –

 

Schritte über ihr weckten sie. Ihre Schwester. Es war meistens ihre ältere Schwester die mitten in der Nacht ins Wohnzimmer kam, um sie heraus zu lassen. Das Scharren kam vom Teppich, den sie wegzog, dann hörte sie das klicken vom Schloss, spürte die frische Luft die in den Sarg hineinströmte.

„Tut mir leid, ich habe nichts zu essen für dich“, flüsterte Diana, „nur ein Glas Wasser.“

„Immerhin. Ist schon gut. Danke!“

„Komm, du kannst zu mir ins Bett kommen. Er wird morgen sehr früh gehen.“ Diana streckte ihre Hand aus, Kayla griff danach und liess sich hinaus ziehen. „Sei leise!“, mahnte Diana sie überflüssigerweise. Kayla bewunderte ihre Schwester für ihren Mut. Wenn er sie erwischte, wie sie Kayla aus dem Sarg holte, drohten Diana Schläge und – Kayla hielt inne. Nein, daran wollte sie nicht denken.

 

 

Naemi:

„Hey“, sagte Naemi, „du bist Kayla oder?“ sie lächelte ihr zu. Kayla nickte. „Kann ich mit dir fahren?“, fragte Naemi, „oh – ich bin Naemi“, sie streckte die Hand aus. „Eigentlich müsste ich den völlig normalen Namen Noemi haben, aber im Krankenhaus hat die Hebamme so grauslig geschrieben, dass man nicht Noemi las, sondern Naemi. Und meine Eltern fanden, wenn das so sein soll, dann soll ich eben Naemi heissen.“ Sie fuhr neben ihr her und plauderte als wären sie beste Freundinnen. Kayla warf ihr einen Blick zu.

„Witzige Geschichte“, kommentierte sie und fuhr im selben Atemzug fort, „du solltest dich nicht mit mir abgeben.“

„Ja. Ich weiss.“, sagte Naemi leichthin. „Aber das ist mir ehrlich gesagt ziemlich egal.“

„Es wird deinen Ruf ruinieren.“, antwortete Kayla nach dem sie die Bemerkung geschluckt hatte.

„Meinem Ruf? Welchem Ruf denn?“, Naemis Augen blitzten belustigt.

„Na ja“, meinte Kayla vorsichtig, „Du bist das hübscheste Mädchen an der Schule. Alle wollen mit dir befreundet sein?“

„Ach ja?“, Naemi lachte. „Ich will aber nicht mit allen befreundet sein. Und hübsch? Ich? Knick den. Guck dich selbst an.“

„Ich bin alles andere als hübsch. Guck genauer hin.“, brummte Kayla.

„Weißt du“, Naemi warf ihr einen Blick zu, „die meisten Menschen haben gewöhnliche Namen. Meine Schwester heisst zum Beispiel Svenja. Und meine sogenannt“, sie liess die Lenkstange los, richtete sich auf und machte imaginäre Gänsefüsschen in die Luft, „beste Freundin“, sie liess sich wieder nach vorne fallen und griff nach der Lenkstange, „heisst Mirjam.“ Kayla nickte. Obwohl sie nicht verstand worauf Naemi hinaus wollte. Sie bogen ab.

„Du wohnst doch gar nicht hier“, sagte Kayla.

„Nein. Aber die beste Freundin meiner Mutter – sie wohnt in derselben Strasse wie du. Vielleicht kennst du sie – oder ihre Jungs. Am ehesten Alex?“

„Ja. Ich kenne Alex. Er ist ein Jahr über uns oder?“

„Genau. Seine Mutter… kennst du sie?“

„Nein.“ Kayla schwieg.

„Wegen der Namen“, fuhr Naemi fort, „wie gesagt. Die meisten Menschen haben vollkommen normale Namen. Wir beide aber nicht. Ich meine… ich heisse Naemi und du Kayla. Die beiden Namen klingen in meinen Ohren nach Heldinnen aus der Fantasy-Welt!“ Kayla nickte wieder. Obwohl sie immer noch nicht ganz begriff, was Naemi ihr damit sagen wollte.

„Und ich denke…“, sie hielt inne um nachzudenken, „ich denke, aus irgendeinem Grund haben wir diese Namen. Vielleicht sind wir ja irgendwelche Heldinnen?“, Naemi lächelte. Kayla schwieg und starrte geradeaus auf die Strasse.

„Was meinst du?“, fragte Naemi ein paar Minuten später.

„Nichts.“, sagte Kayla, „Ich bin sowieso zu Hause.“

Naemi bremste und stand mit einem Fuss ab.

„Hier wohnst du?“, fragte sie und sah sich das Haus genauer an. Oder das, was hinter der Hecke aufragte. „Welches ist dein Zimmer?“

„Ganz oben“, sagte Kayla ohne hinzusehen. Genau genommen hatte sie kein Zimmer. Aber das brauchte Naemi nicht zu wissen.

„Oh. Da ist es bestimmt cool!“, sagte die andere. Kayla nickte unbestimmt.

„War schön mit dir zu fahren. Hast du am Nachmittag auf die erste?“

„Ja.“

„Gut. Ich hol dich ab. Um zehn nach?“

„Ja.“

„Bis nachher!“, Naemi stiess mit dem Fuss ab, setzte ihn auf die Pedale und fuhr weg. Sie sah noch einmal zurück und winkte, „aber nicht vorher gehen!“, rief sie und bog ab zu Ilonas Haus. Kayla sah ihr nach, als sie um die Ecke verschwand, schüttelte sie den Kopf und schob ihr Rad in die Garage, betrat das Haus durch die Tür die Haus und Garage miteinander verband, ging durch einen dunklen Flur, öffnete die nächste Türe und warf ihre Tasche in den kleinen Raum. Sie blinzelte und sah hinein. Immer dann, wenn sie jemanden kennen lernte, der Interesse daran zeigte, wo sie wohnte, wurde ihr bewusst, wo sie wirklich wohnte. Sie gehörte nicht in den oberen Stock – da wo die anderen lebten.

„Schade, Naemi…“, flüsterte sie, „du wirst das Haus niemals betreten!“ Nein. Diesen Fehler würde sie nie wieder machen und eine Freundin mit nach Hause, mit hier her bringen. Das letzte Mal als sie das machte, auf Drängen von Diana hin – Diana hatte ihr ihr Zimmer überlassen – verhielt er sich so seltsam, dass Kayla böses ahnte. Als ihre Freundin wieder nach Hause ging, rief er nach ihr und sie verbrachte drei Tage im Sarg. Nein. Das konnte sie nicht noch einmal ertragen. Lieber hatte sie keine Freundinnen. Das war sicherer. Für sie und für die anderen Mädchen. Und nach letzter Nacht war ihr noch klarer als vorher – niemals würde sie ein fremdes Mädchen hier her bringen. Man konnte nie wissen!

 

„Ilona! Ich bin hier!“, rief Naemi als sie die Treppe hinauf kam.

„Hallo Naemi! Ich bin in der Küche!“, rief die Frau zurück. „Du bist die erste. Alle anderen sind hoffentlich auf dem Weg!“

„Hat Alex heute nicht Kochen?“, fragte sie während sie die Küche betrat.

„Ja. Sven sollte jeden Moment auftauchen und Philipp sowieso.“

Naemi lächelte. Philipp kam immer sehr spät nach Hause. Es gab auf dem Weg so viel zu reden und sehen und hören – er war ein Träumer, was seine Eltern nicht immer so lustig fanden, ihn aber mehr oder weniger träumen liessen. Ilona sagte immer, dass sich das irgendwann schon geben würde. Bei Alex hätte sich das ja auch irgendwann geändert. Nur dass Alex nicht ein solcher Träumer war.

„Sag mal Ilona. Kennst du die Leute vorne an der Strasse?“

„Die Müllers?“

„Kayla.“

„Ja. Also. Nein. Ich weiss wie sie aussehen und dass sie oft Besuch haben – ich habe auch schon mal mit ihm geredet. Mit ihr noch nie. Warum?“

„Kayla geht in meine Parallelklasse. Ich bin mit ihr nach Hause gefahren.“

„Kayla ist die Mittlere oder?“

„Keine Ahnung. Ich kenne sie noch nicht wirklich.“

„Aha.“ Ilona sah sie an. „Aber?“

„Nichts aber. Ich werde sie kennen lernen.“

„Warum? Ich meine – sie wohnt in einem anderen Stadtteil als du, sie ist nicht in deiner Klasse…?“

„Weißt du, Ilona, je älter ich werde umso mehr begreife ich, warum Mom und du befreundet sind. Sie würde mir genau dieselbe Frage stellen, mit demselben Zusatz.“ Ilona lachte laut auf.

„Wir haben uns auf einem ganz ähnlichen Weg kennen gelernt, um ehrlich zu sein. Sie war in meiner Parallel-Klasse und ich kam aus dem Armen Viertel und sie aus dem Reichen. Ich kann mich erinnern, wie ich mich an sie herangeschlichen habe. Das beliebteste und hübscheste Mädchen an der Schule – ich bildete mir ein, dass sie mir Tür und Tor in die andere Welt öffnen könnte. Schliesslich kam sie ja von da.“

„Und? Hat sie?“

„Ja. Irgendwie schon. Obwohl sie mir eigentlich nur beibrachte, stolz auf das zu sein, was ich bin. Sie sagte immer, „Ilona… es ist nur Geld. Geld bestimmt doch nicht, wer du bist!“ und damit kam ich am Ende wirklich sehr weit…“, Ilona sah gedankenverloren aus dem Fenster.

„Mooooooooom!“, Sven stürmte in die Küche. „Sieh mal, ich hab einen toten Frosch gefunden!“

„Und wie viele Regenwürmer hast du in der Tasche?“

„Keinen!“, sagte er, „ich habe keinen einzigen gefunden. Dafür diesen Frosch!“ Er hielt stolz seine Hand hin und Naemi kicherte angeekelt.

„Bring ihn raus! Am besten direkt auf den Abfallhaufen!“, krächzte Ilona. „Der ist ja nur noch Matschepampe! Wie hast du den bloss vom Boden gekratzt? Nein. Sei still. Ich will es nicht wissen.“

„Mam! Ich kann ihn nicht raus bringen! Vielleicht kann ich ihn flicken!“

„Den kannst du nicht mehr flicken Sven! Der ist – der Frosch ist – er ist…“

„Matschepampe?“, schlug Naemi vor.

„Ja genau. Matschepampe. Sven, der wurde von einem Lastwagen überfahren!“

„Da wo ich ihn gefunden haben dürfen keine Lastwagen durch! Nicht mal Autos!“, Sven hatte Tränen in den Augen. „Bitte Mom? Naemi? Könnt ihr mir nicht helfen ihn zu flicken?“

Ilona öffnete den Mund um etwas zu sagen, Naemi unterdrückte ein Lachen, als Philipp herein kam. Er rieb seinen Arm. „Maney“, brummelte er, dann sah er den toten Frosch auf Svens Hand.

„Was war das denn?“

„Das IST ein Frosch!“, gab Sven zurück und machte einen Schmollmund. „Hilfst du mir ihn zu flicken?“

„Nö. Aber ich helf dir dich zu flicken!“, er knuffte seinen Bruder an der Schulter.

„Ich bin aber nicht kaputt!“

„Hey, Naemi, hey Mom!“, er hatte den Kopf gedreht, die beiden angesehen und dann wieder an Sven gewandt, „Kleiner! Der wurde von einem Zug überfahren!“

Naemi konnte sich nicht mehr beherrschen, sie prustete los – zur gleichen Zeit wie Sven begann ohrenbetäubend zu kreischen. „DA FAHREN KEINE ZÃœGE DURCH!!!!“ Er stürmte wieder aus der Küche.

„Oh.“, machte Philipp.

„Deckt den Tisch!“, befahl Ilona und rannte Sven nach.

 

„Kennst du Kayla?“, fragte Naemi während sie die Gabeln verteilte.

„Ja. Warum?“

„Nur so. Bin heute mit ihr nach Hause gefahren.“

„Aha?“, er hielt inne und sah sie an. „Mit der hast du besser nichts zu tun.“

„Warum?“

„Keine Ahnung. Aber die sind komisch. Alle zusammen. Vor allem Kayla. Nein. Diana ist noch seltsamer. Ich glaube die hat eine Schraube locker oder so.“

„Wie kommst du darauf?“, Naemi kam neugierig näher.

Philipp sah sie lange an, bevor er sagte, „lass die Finger von denen, Naemi. Du bekommst nur Probleme.“

„Was für Probleme?“

„Lass es einfach. Okey?“

Was sie auch fragte, wie sie die Fragen auch formulierte – er schwieg beharrlich. Nach dem Essen plauderte sie noch ein wenig mit Ilona bis sie wieder zur Schule musste. Kayla wartete an der Ecke auf sie.

„Schön, dass du wirklich gewartet hast“, begrüsste Naemi sie.

„Ich habe nachgedacht.“, antwortete Kayla und hob die Hand um Naemi daran zu hindern, etwas zu sagen. „Es war schön, mit dir zu fahren. Aber bitte. Bitte, lass es. Okey? Ich will nicht, dass die anderen über dich reden, weil du dich mit mir abgibst.“

„Soll ich dir etwas sagen Kayla? Die anderen sind mir egal. Ich möchte dich kennen lernen. Weshalb weiss ich nicht, aber ich weiss, dass ich genau das will.“

„Du willst, dass die anderen über dich reden? Vielleicht sogar nicht mehr mit dir selbst reden?“

„Sie sollen reden. Es ist mir egal. Verstehst du? Es ist mir scheissegal!“

„Warum?“

„Weil wir Helden-Namen  haben, Kayla. Aus irgendeinem Grund haben wir diese Namen!“

„Eine böse Laune der Natur!“, sie starrte Naemi böse an. „Jedenfalls bei mir! Ich kann keine Heldin sein. Never. Niemals! Verstehst du?“

„Nein. Versteh ich nicht!“

„Natürlich nicht.“

„Erklär es mir.“

„Wir sollten zur Schule.“

„Ja. Auf dem Weg kannst du mit deinen Erklärungen beginnen.“

„Ich werde nicht mit dir fahren.“

„Gut. Dann bleibe ich hier stehen.“

„Und der Eintrag?“

„Mir egal. Ist der erste. Bei dir?“

„Der dritte.“

„Der dritte? Himmel, was tust du denn?“

„Hausaufgaben vergessen?“, Kayla setzte sich auf ihr Rad und begann zu fahren. Naemi beeilte sich, Kayla zu folgen.

„Hausaufgaben vergessen.“, hakte sie nach.

„Geht dich nix an. Okey?“

Als sie in der Schule ankamen war Naemi frustriert. Erst wollte Philipp keine Antworten geben und nun auch noch Kayla.

 

„Du bist mit der gekommen?“, ihre Freundin Susanne rümpfte die Nase. „Sie stinkt!“

„Sie stinkt überhau… vergiss es!“, Naemi stellte ihr Rad in den Unterstand und folgte Susanne schweigend ins Schulhaus. Susanne erzählte von irgendeinem Typen aus der dritten, den sie gerade im Bus kennen gelernt hatte. Naemi sah sich um – Kayla war wie vom Erdboden verschluckt. Weg. Den ganzen Nachmittag dachte sie über Kayla nach. Das Kribbeln in ihrem Nacken wollte einfach nicht verschwinden. Und sie beschloss, nicht locker zu lassen. Irgendetwas war da. Sie konnte es sich nicht erklären, und das war sich Naemi überhaupt nicht gewohnt. Sie konnte immer alles irgendwie erklären…

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bloodredmoon

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roxanneworks Lesezeichen..... -

Habe schon mal begonnen....bin heute aber arg in Zeitnot ;-))

die 5* kann ich dennnoch gebe, weil die Story sich flüssig liest, gut geschrieben ist ( bis jetzt)....

der ausführliche Kommentar kommt später...

liebe Grüße
roxanne

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