Er ging durch die Straßen der Stadt. Immer wieder glitten seine Gedanken fort, fort von dem Trubel, raus aus der Realität und hin zu dem, was er kurz zuvor erlebt hatte.
Es war ein seltsamer Abend und er wusste nicht so genau was geschehen würde. Zu lange hatte er sich in seiner Bude verkrochen und der Kontakt mit Menschen war immer weiter zusammengeschmolzen. Heute war es ihm plötzlich unerträglich geworden und er hatte wie unter einem Zwang geduscht und frische Sachen angezogen. Sogar Parfüm verteilte er auf der Haut, wobei er einen Moment lang unklar war, ob er das nicht lieber gelassen hätte, da es ein wenig seltsam roch. Vielleicht hatte er es zu lange nicht benutzt, aber um es jetzt wieder abzuduschen reichte die Zeit nicht denn er merkte, dass der Mut ihn schon wieder zu verlassen schien. Heute war so ein Tag, wo er sich völlig alleine und vom Leben ignoriert fühlte. Er öffnete die Wohnungstüre und zog sie hinter sich wieder ins Schloss. Das Klacken des Schlosses machte ihm bewusst, dass er sich aus seiner Höhle heraus getraut hatte. Schweiß stand auf seiner Stirn und er fühlte sich gerade wirklich nicht wohl und doch zwang er sich die Schritte bis zum Aufzug zu gehen. Mit Druck auf die Ruftaste forderte er diesen auf bis in den zwölften Stock zu kommen, damit er nach unten fahren konnte. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich die erleuchtete Kabine in dem schmalen Fenster der Schachttüre zeigte. Als er sie öffnete und hinein trat, quoll ihm ein unangenehmer Duft entgegen und er fühlte förmlich, wie sich dieser auf seine Kleidung und die Haut legte. Einen Moment erinnerte ihn der Geruch an Moder und Waldboden.
Er drückte auf eine Taste und der Ruck zeigte ihm, dass die Elektronik den Fahrstuhl in Bewegung versetzte. Bald darauf öffnete sich die Schiebetür der Kabine und er stand auf dem Flur. Etwas verwirrt schaute er sich um, um dann zu erkennen, dass er im obersten Stock gelandet war, und nicht wie er vermutete, im Erdgeschoss. Sein Blick fiel auf die angelehnte Türe, die zum Dach hinauf führte. Seltsam, sie sollte immer verschlossen sein. Bei siebzehn Stockwerken war dieses Haus immer eine Gefahr für Suizidkandidaten und die Hausverwaltung legte Wert darauf, dass der Schlüssel in einem Kasten verschlossen und dieser nur mit dem Hausschlüssel zu öffnen war. Damit grenzte man die Gefahr für die Bewohner des Hauses ein.
Er beschloss nach oben zu gehen und nach dem Rechten zu schauen.
Auch hier war wieder dieser Duft, der ihn an Waldboden erinnerte. Langsam schritt er die Stufen zum Dach empor und schob die auch hier nur angelehnte schwere Stahltüre auf. Es wunderte ihn, dass diese nicht knarrte und quietschte, so dass er leise in die angenehm kühle Luft treten konnte. Früher war er öfter hier oben gewesen und hatte, wenn es tagsüber so heiß war, hier Abkühlung und Entspannung gefunden. Heute war es anders. Unruhe befiel ihn und als er sich umschaute, sah er am Dachrand eine Person stehen. Der Mantel flatterte in den leichten Windböen und zeigte eine schlanke Frauengestalt mit langen wehenden Haaren. Sie hatte sich den Mantel eng um ihre Schultern gezogen und obwohl es sehr mild war, schien sie zu frösteln. Er war leise näher getreten und wollte, falls sie einen Schritt nach vorne machen sollte, schnell und beherzt zugreifen und sie festhalten. Doch etwas hinderte ihn daran sie von der Dachkante wegzuziehen. Er schaute sie nur von hinten an und es war so seltsam, was er sah.
Es schien, dass der Mantelstoff verschwamm und er etwas ganz anderes sah. Er sah plötzlich eine Frau vor ihm stehen, die ein kostbares Kleid trug. Ein Abendkleid schien es ihm. Dann sah er wieder die Gestalt im Mantel, fröstelnd im Lufthauch stehen. Er brauchte nur den Arm auszustrecken, so hätte er sie greifen können. Doch er war wie gelähmt. Mit einem Krächzen in seiner Stimme sprach er sie leise an. Tun sie es nicht, es kann nichts so schlimm sein, dass es einen Sinn ergeben würde, sich das Leben zu nehmen.
Sie wendete den Kopf und schaute ihn an, als sei er nicht wirklich, nicht wahrhaftig schräg neben ihr. Sein Herz schlug bis zum Hals und eine unbändige Angst erfüllte ihn, dass er sie nicht erreichen würde. Er fing an zu schwitzen und es wollte nicht aufhören. Fieberhaft überlegte er, was er ihr sagen sollte, damit er sie von ihrem Tun ablenken konnte, aber nichts wollte ihm wirklich einfallen.
Das einzige, was aus seinem Mund kam: „Wollen wir nicht einen Schritt zurücktreten und reden? Danach können sie immer noch den Schritt in den Abgrund machen.“
Wieder dieser abwesende Blick. Hatte sie Drogen genommen?
Dann sah er wieder auf ihren Rücken und es erschien wieder dieses Kleid und er sah, da es sehr tief ausgeschnitten war, einen Leberfleck auf der Höhe ihrer rechten Niere. Kurz bevor
das Bild wieder verschwand, erkannte er, dass der Leberfleck die Form eines Herzens oder eines Schmetterlings hatte.
Plötzlich drehte sich die junge Frau zu ihm um und fragte ihn, was er von ihr wolle warum er erst jetzt kam und sie so lange hatte warten lassen. Warum sie so lange habe alleine sein müssen und das niemand sie angeschaut hätte, weil sie immer auf den einen, auf ihn gewartet hätte. Dann schwankte sie auf ihn zu und stürzte in seine Arme.
Als er ihre Stimme vernommen hatte, strömten ihm eisige Schauer über den Rücken. Die Vorwürfe der jungen Frau trafen ihn wie Pfeile in die Brust und durchschlugen sein Herz, welches mit aller Kraft um jeden Schlag kämpfte, damit sein Blut durch seine Adern fließen konnte. Immer langsamer schlug es und schien fast stillzustehen, als sie sich von ihm losriss und sich wieder dem Abgrund zuwand.
„Nein“ gellte sein Ruf durch die Dunkelheit. „Bleib“ und im gleichen Moment schnellte seine Hand vor und legte sich feste auf ihre Schulter. Jetzt fühlte er ihre nackte Haut und zog sie zu sich. Als er sie umarmte fühlte er, wie ihr Schluchzen ihren Körper erbeben ließ und klammerte sie in seinen Armen ein. Er roch ein betörendes Parfüm, welches ihn in einen Traum schleuderte. Er sah eine wunderschöne Frau vor sich, die sich in seine Arme schmiegte und ihm ein Lächeln schenkte, das ihn völlig verzauberte. Er schaute ihr tief in die Augen und gerade als er sie küssen wollte, sich die Lippen berühren sollten, da wurde er in diese brutale Realität zurückgerissen und merkte, wie sie sich aus seinen Armen wand.
„Lass mich“ schrie sie nur und stellte sich gefährlich nah an den Dachrand.
„Verschwinde – jetzt brauche ich dich auch nicht mehr.“
Er taumelte ein bis zwei Schritte zurück, so gewaltig trafen ihn die Worte.
„Spring nicht, ich bitte dich bei allem was mir wichtig ist. Wir sind uns gerade erst begegnet und du willst einfach beenden, was gerade beginnt.“
„Du merkst gar nichts oder? Du fühlst nicht wie lange wir uns schon kennen? Siehst nicht, dass ich ständig mein Aussehen wechsle so wie du? Immer zwischen zwei Bildern, zwei Leben hin und her?“
Wieder taumelte er zurück, fühlte wenn sie jetzt sprang, würde er sie nicht mehr erreichen können. Sie sank zusammen und bildete nur noch einen Haufen Elend. Er atmete auf und dankte schon in einem Stoßgebet dafür, dass sie nicht mehr springen würde. Gerade als er sich entspannte und zu ihr wollte, ließ sie sich über den Dachrand kippen und er hörte nur noch ihren gellenden Schrei, als sie in die Tiefe stürzte.
Er ließ sich in den Schotter des Dachbelages sinken und wurde von Tränen und Schmerz geschüttelt. Das Bild der Frau im Abendkleid erschien wieder. Warum sie ihm gerade jetzt wie ein Engel vorkam, es war so makaber und es war ein Stich mit einem Messer in sein Herz.
Heftig schluckte er und immer wieder kamen seine Tränen und das Gefühl eines entsetzlichen Verlustes. Wieder das Bild, in dem sie ihn so liebevoll anlächelte und er sie hätte küssen wollen und jetzt hörte er ihre Worte. „Verzeih ich weiß Du musst los, sie erwarten dich. Doch egal was geschieht, versprich mir, dass wir uns wieder sehen, in diesem oder einem anderen Leben. Versprich es mir. Bitte.“
Dann endgültig verlor sich ihr Bild und mit einem Herzen ohne Leben ging er zur Türe, durch die er auf das Dach gekommen war. Wie in Trance erreichte er den Fahrstuhl und drückte die Taste zum Erdgeschoss, worauf sich dieser in Bewegung setzte. Die Türen hatte er offen gelassen damit die Polizei und Spurensuche sofort anfangen konnten, denn sicher waren sie schon alarmiert und standen vor der Türe.
Im Erdgeschoss angekommen war alles ruhig, kein Blaulicht, kein Martinshorn und kein Menschenauflauf. Schnell eilte er zu der Stelle, an der sie liegen musste. Nichts, sie war nicht da. Er suchte alles ab, konnte sie nirgends finden, dann schaute er nach oben. Nein sie konnte nicht hängen geblieben sein oder irgendwo zwischen dem Dach und dem Boden aufgeschlagen sein. Sie war einfach nicht da, es war, als sei all das nicht passiert. Völlig verwirrt lief er die Straße entlang und als er an einem hell erleuchteten Schaufenster vorbei lief, sah er an seiner Kleidung und dem Schmutz, der daran haftete, dass zumindest seine Empfindung auf dem Dach real gewesen war. Weiter lief er in die Stadt hinein. Irgendwo fand er eine Bar, in der er sich betäuben wollte, um das ganze zu vergessen. Dem Barkeeper sagte er seinen Wunsch, dass er ihm für die Scheine, die er auf den Tisch legte, immer wieder Nachschenken sollte, bis er oder der Barkeeper meinten, dass es genug sei.
Eine Frau, die alleine an einem der Tische gesessen hatte, kam auf ihn zu und fragte, ob er ihr einen Drink spendieren würde. Er sah sie an, sie war hübsch, hatte eine tolle Figur und sie war blond. Eigentlich genau das, was ihm gefiel. Aber nach dem, was er erlebt hatte oder auch nicht, ging es ihm um ganz andere Dinge, als sie sich wohl erhoffte. Er spendierte ihr zwar einen Drink, aber als er anfing ihr zu erzählen, was ihm passiert war, wurde sie immer nervöser und verschwand bald auf der Damentoilette, von der sie dann nicht mehr wieder kam.
So trank er weiter und versuchte dem Barkeeper seine Story zu erklären. Dieser bestätigte ihm aber immer wieder nur das was er sagte und dann erstarb irgendwann die Unterhaltung, welche eh sehr einseitig gewesen war. Einige Gläser Cognac hatte er getrunken. Eine Wirkung zeigten sie jedoch nicht, zumindest fühlte er sich noch völlig nüchtern und an das Vergessen der Geschichte war wirklich nicht zu denken.
Er sagte dem Barkeeper, dass er genug habe und machte Anstalten zu gehen. Da hielt ihn der Mann zurück und wollte ihm das Restgeld geben, doch er winkte nur lässig ab und bedankte sich mit einem zynischen Grinsen für das Zuhören. Dann verließ er die Bar.
Nun schlenderte er ziellos durch die Straßen und vermied es sich in Richtung seiner Wohnung zu bewegen. Immer und immer wieder schob er das Erlebte von links nach rechts, fand aber keinen Punkt, an dem er sich selber einen Spinner schimpfen konnte oder einfach sagen das er einer ausgeuferten Phantasie auf den Leim gegangen war. Er streifte einen Park, der nicht weit von seiner Wohnung war und in dem er oft einen Rundgang machte, um zu entspannen. Er entschloss sich, jetzt einen dieser Rundgänge zu machen. So schlenderte er den Weg entlang, der ihn bald zu dem kleinen See bringen würde, an dem er immer wieder gerne eine Pause machte und sich dort auf eine Bank setzte. Es war schon ziemlich spät und dunkel war es auch. Die spärlichen Lampen gaben gerade genug Licht, dass man sie sehen konnte, aber nicht das sie den Weg lückenlos beleuchteten. In der letzten Zeit musste die Stadt sparen und das war wohl eine der Sparmaßnahmen. Am See angekommen suchte er sich eine Bank, die direkt unter einer Lampe stand und schaute eine ganze Weile über das Wasser. Wieder tauchte das Gesicht der Frau auf, mal lächelnd, wie auf dem Fest, wo sie das Abendkleid trug, dann voller Verzweiflung und innerem Schmerz, wie auf dem Dach. Jedes mal hörte er ihre Stimme, die zu den entsprechenden Situationen etwas sagte oder ihn anklagte. Er fühlte sich ziemlich beschissen. Wenn es eine Leiche gegeben hätte, wäre es ihm zumindest wohler gewesen.
Doch so?
Immer wieder die Bilder der Frau in den unterschiedlichen Garderoben und keine Antwort auf das, was geschehen war und was es ihm sagen sollte.
Wieder stieg das Bild auf dem Dach in ihm auf und er dachte schon daran, in den See zu gehen, als sich andere Worte von ihr gesprochen in sein Ohr stahlen.
„Entschuldigung.“
„Entschuldigen, was soll ich entschuldigen“ erwiderte er. „Es scheint doch nichts passiert zu sein, dann gibt es auch nichts zu entschuldigen“.
„Ich möchte sie ja nicht stören, aber sie irren so ziellos umher und ich möchte nur eine Frage beantwortet haben.“
Er drehte sich verwirrt um. Da stand eine junge Frau in einem dünnen Mantel, doch das Licht reichte nicht um ihr Gesicht zu erkennen.
„Welche Frage haben sie?“
„Entschuldigen sie bitte, aber wohnen sie in dem Haus, aus dem ich sie habe heraus kommen sehen?“
„Sie meinen die Bar?“ erwiderte er.
„Nein, ich meine das Hochhaus wo sie sich so seltsam benommen haben.“
Er zuckte zusammen und sprang unter Schock auf, stürzte um die Bank herum und schob die Frau in den Lichtkegel der Laterne.
Sie war es, es war die Frau die auf dem Dach gewesen war.
„Was machen sie hier, warum leben sie und sind nicht tot?“
Alles war so schnell geschehen, dass sie kurz auf geschrieen hatte, weniger aus Schmerz, mehr aus dem Schrecken heraus. Sie war dem Mann gefolgt, weil sie gehofft hatte wieder in das Hochhaus zu gelangen, das sie mit ihrem Bruder betreten hatte. Doch dieser bekam einen dringenden Anruf aus der Klinik, in der er Arzt war. In der Hektik war sie mit ihm nach draußen geeilt, doch dann war er ohne sie losgefahren und hatte sie einfach vergessen. Sie war gerade aus Hamburg zu Besuch gekommen und konnte nun nicht mehr in das Haus hinein. Sie wusste auch nicht, wo ihr Bruder arbeitete und die Taschen standen im Hausflur. So konnte sie auch nicht in ein Hotel oder ein Taxi rufen. Das alles erzählte sie nun dem seltsamen, wenn auch sympathischen Mann, dem sie die ganze Zeit gefolgt war. Nur in die Bar hatte sie sich nicht reingetraut.
Er schaute sie nur völlig entnervt an und erwiderte nach einem Moment, dass sie mit ihm kommen solle. Beide gingen nun in Richtung seiner Wohnung und er schaute sie immer wieder von der Seite her an. Er konnte es nicht verstehen, dass sie da neben ihm herlief und lebte. Am Haus angekommen hatte er ihr schon das Ein oder Andere des Abends erzählt, wenn auch noch nicht alles, was sich scheinbar für ihn zugetragen hatte. Er öffnete ihr die Haustüre und Beide betraten den Aufzug. In der Kabine betrachtete er sie zum ersten Mal mit etwas Ruhe. Sie sah sehr gut aus und er war froh, dass sie nicht in den Tod gestürzt war. Doch was sollte das alles gewesen sein? So etwas wie eine Vorsehung? Eine Vorausschau, was in der Zukunft lag. Er konnte sich keinen Reim darauf machen.
Eine ganze Zeit saßen die Beiden vor der Türe ihres Bruders im zehnten Stock und unterhielten sich angeregt miteinander. Auch den Rest seiner Geschichte erzählte er ihr. Auf die Frage, was sie davon hielt, erwiderte sie nur, ob er schon einmal etwas von Reinkarnation oder Wiedergeburt gehört hätte? Es gäbe da die seltsamsten Erfahrungen und Erlebnisse. Er sah sie nur an und gab keine Antwort. Etwas in ihm war seltsam aufgeregt und er merkte immer mehr seine Erschöpfung. Erst jetzt kam er auf den Gedanken, dass sie doch in seine Wohnung gehen könnten und sie auf der bequemen Couch schlafen könnte. Sie war sofort einverstanden, heftete nur eben einen Zettel an die Tür ihres, damit dieser wusste, wo seine Schwester abgeblieben war.
Nachdem alles hergerichtet war und sie Beide ihr Nachtquartier bezogen hatten, schlief sie sehr schnell ein, während er noch eine ganze Weile auf seinem Bett lag und nachdachte.
Später als er merkte das er nicht schlafen konnte, ging er noch einmal ganz leise durch ihr Zimmer zur Toilette und auf dem Rückweg konnte er einen Moment ihr Gesicht betrachten. Ein Gedanke regte sich in ihm.
Dieses war wohl der Anfang einer ungewöhnlichen Beziehung.