Einleitung
Tagebucheinträge
1.3.2010
Ich kann es kaum glauben.
Mein Vater hat mich mit auf eine seiner Expeditionen genommen! Ich bin am Nordpol – kein Scherz!
Gestern bin ich einem Eisbären Auge in Auge gegenübergestanden. Außerdem hatte ich Gelegenheit mit einem Hundeschlitten zu fahren.
Es ist einfach großartig hier. Allein das Landschaftsbild entschädigt einen für die Kälte. Obwohl man meinen könnte, dass triste Schnee – und Eisformationen langweilig sind, kann ich nur sagen, dass es für den aufmerksamen Beobachter viel mehr als nur Schneewüste zu sehen gibt.
Auch die Bewohner der Forschungsstation, die hier mein Zuhause bildet, scheinen nett zu sein. Nur selten finde ich Gelegenheit mit ihnen zu sprechen, da sie alle sehr mit ihren Forschungen beschäftigt sind.
Ich frage mich, was genau sie wohl herausfinden wollen.
2.3.2010
Das Wetter hat sich verschlechtert.
Soweit ich es mitbekommen habe, zieht ein Sturm auf uns zu. Alle versichern mir, dass wir hier vollkommen sicher sind. Also ob ich das nicht wüsste.
Bevor mein Vater mich mit auf diese Reise genommen hat, musste ich mir eine Menge Sicherheitskram anhören. Dabei finde ich diesen Schneesturm eher aufregend als beängstigend.
Wer kann denn schon von sich behaupten, während eines Schneesturmes in einer Forschungsstation mitten im Nirgendwo eingeschlossen gewesen zu sein?
Mir tun nur die Hunde leid, die trotz des aufziehenden Sturmes das Gebäude nicht betreten dürfen. Ich habe meinen Vater nach dem Grund dafür gefragt, doch er scheint seit Kurzem überhaupt keine Zeit mehr für mich zu haben. Auf meine Frage hin meinte er nur, dass die Kälte den Tieren nichts ausmachen würde.
Natürlich weiß ich, dass diese Hunde der Kälte angepasst sind, doch können sie auch einen Schneesturm im Freien überleben?
4.3.2010
Gestern haben sich ein paar der Hunde losgerissen.
Mein Vater ist mit einem der Hundeschlittenführer aufgebrochen, um die Entlaufenen wiederzufinden. Sie sind noch nicht wieder zurückgekehrt. Trotz der ständigen Versicherungen, dass sicher alles in Ordnung sei, mache ich mir Sorgen.
Was, wenn ihnen etwas zugestoßen ist?
Ich bin nicht gerade ein Wetterexperte, aber selbst mir ist aufgefallen, dass der Sturm immer näher kommt und dass er viel stärker ausfallen wird, als alle erwartet haben.
Allein die besorgten Gesichter der Meteorologen geben mir genügend Auskunft. Noch dazu werden die zurückgebliebenen Hunde immer unruhiger.
Ob sie die Gefahr spüren.
Oder wittern sie etwa ihre Gefährten, die endlich mit meinem Vater zurückkehren?
Ich hoffe auf Letzteres.
5.3.2010
Der Sturm hat uns nun erreicht.
Ständig höre ich das Pfeifen des Windes, der um die Forschungsstation fegt und an den Verankerungen des Gebäudes zerrt.
Mein Vater ist immer noch nicht zurückgekommen.
Ich gebe es offen zu: Ich habe Angst.
Immer wieder sagen die anderen, ich solle die Hoffnung nicht aufgeben, doch ihre starren Gesichter und ihre bedauernden Augen strafen diese Aussagen Lügen.
Doch ich hoffe weiter. Ich muss weiter hoffen. Es kann nicht sein, dass er nicht
zurückkehrt! Es darf nicht sein!!!
6.3.2010
Er hat es geschafft!
Er ist zurück! Mein Vater lebt!
Ich kann kaum beschreiben, wie erleichtert ich bin. Dem Arzt zufolge muss er sich einige Tage ausruhen, bevor er wieder ganz bei Kräften sein wird. Er ist stark unterkühlt und hat einige Schürfwunden, doch der Doktor sagt, dass das halb so schlimm ist.
Viel schlechter steht es dagegen um den Hundeschlittenführer.
Seit ihrer Rückkehr ist er nicht mehr bei Bewusstsein.
Ich habe eine seiner Hände gesehen. Die Finger sind schwarz von gefrorenem
Blut. Bisher habe ich so etwas nur in Filmen erblickt, doch ich gehe davon aus, dass es kein gutes Zeichen ist.
Ich werde für ihn beten, obwohl ich nicht sicher bin, ob es überhaupt jemanden gibt, der meine Gebete erhört. Und wenn es doch jemanden geben sollte, kann er meine Gebete dann durch den Sturm hindurch hören, der manchmal die ganze Station zum Beben bringt?
Ich hoffe es.
7.3.2010
Der Sturm hat noch an Kraft zugenommen. Keiner spricht es aus, doch die Gedanken aller hängen greifbar in der Luft. Niemand ist sich sicher, ob die Station den Windböen noch lange standhalten wird.
Gestern sind die Notaggregate angegangen. Ich weiß nicht, wie lange wir noch Strom haben, aber es sieht nicht gut für uns aus. Niemand weiß, wie lange der Sturm noch andauern wird. Auch die Stimmung wird schlechter.
Die Hunde dürfen nun endlich herein. Zumindest jene, die noch leben. Es ist einfach schrecklich. Ich weiß nicht, wie
lange ich es hier noch aushalte, ohne durchzudrehen.
Ich kann kaum glauben, dass ich das hier einst als Abenteuer angesehen habe. Jetzt ist es nur noch ein einziger, nicht enden wollender, Albtraum.
8.3.2010
Der Hundeschlittenführer ist tot.
Dave Teggert war sein Name. Ich möchte, dass er nicht vergessen wird. Er hat meinem Vater das Leben gerettet.
Ich habe um ihn geweint, als gehöre er zu meiner eigenen Familie und in gewisser Weise trifft das wohl auch zu. Wir alle, die wir hier eingeschlossen sind, abgetrennt vom Rest der Welt, sind in den letzten Tagen so etwas wie eine Familie füreinander geworden.
Nach Daves Tod habe ich mich gefragt, warum Gott, wenn es ihn wirklich gibt, so etwas zulässt. Das ist doch einfach nur unfair.
Jetzt erst, da mein Leben an einem seidenen Faden hängt, wird mir klar, wie viel mir daran liegt.
Noch immer habe ich die Hoffnung auf Rettung nicht aufgegeben. Obwohl wir bald keinen Strom mehr haben und es immer kälter wird, vertraue ich darauf, dass uns geholfen werden wird.
Die Hoffnung ist noch da, doch sie wird von Tag zu Tag schwächer. Bald wird sie ganz erloschen sein.
9.3.2010
Es ist kalt. Eiskalt.
Eine der Wände …von einem Eisbrocken durchschlagen.
Galt eigentlich als unmöglich … spielt keine Rolle mehr.
Vermutlich mein letzter Eintrag.
Kann meine Finger kaum noch spüren….Denken fällt mir schwer.
Kälte … wie spitze Nadeln auf meiner Haut… Nur sie ist wirklich.
Glaube nicht mehr an Rettung.
Sturm hat nachgelassen, doch jede Hilfe zu spät.
Ein Sonnenstrahl teilt die Wolken. Kann die Wärme nicht mehr spüren.
Sind völlig allein in Wüste aus Eis.
Selbst wenn gerettet … Leben nie wieder wie vorher.
Werde jetzt schlafen.
Vielleicht kehrt die Sonne ja zurück.
Werde schlafen …
11.3.2010
Ich lebe!
Ich lebe und kann es nicht begreifen.
Während ich in einer harten Koje liege und diese Worte diktiere, werde ich von Tränen übermannt.
Ja, ich lebe, aber für welchen Preis?
Meine Hände sind … ich will nicht einmal daran denken.
Erfrierungen dritten Grades, haben sie gesagt. Mein Leben wird von nun an anders sein.
Ein junger Arzt ist rund um die Uhr bei mir.
Auch wenn sie es nicht laut aussprechen: Ich weiß, dass es schlecht um mich
steht. Aber das kümmert mich nicht. Ich kann nicht schreiben, nie mehr und viel schlimmer noch: Ich werde nie wieder lieben können.
Jemand hat sich dazu bereit erklärt, meine Gedanken für mich aufzuschreiben, dabei kenne ich nicht einmal seinen Namen. Namen sind unwichtig. Ich diktiere, er schreibt. Wir sprechen nicht miteinander.
Ich will diese Welt nicht verlassen, ohne etwas von mir hier zu hinterlegen und deshalb rede ich; rede ich und er notiert.
Vor einem Tag haben sie mich gefunden. Mehr tot als lebendig. Ein Hund lag auf meiner Brust – tot.
Tot und kalt, wie alles um mich herum.
Alles. Alle.
Alle, die in der Station gearbeitet haben – tot.
Mein Vater – tot.
Nur ich … ich lebe noch. Zumindest teilweise. Innerlich bin ich bereits gestorben. Ich selbst bin nun mein größter Feind.
Ich kämpfe nicht mehr. Wozu auch?
Alles, was mich an dieses Leben band, ist mir genommen worden. Vor langer Zeit meine Mutter, nun auch mein Vater. Beide wurden sie mir genommen, von den Gewalten der Natur, von der Unberechenbarkeit der Arktis.
Sie hat es das Leben gekostet und es wird auch mich das Leben kosten. Die
Faszination für dieses karge, einzigartige Land.
Eine Faszination die schon viele aus dem Leben gerissen hat. Und trotzdem bleibt sie, wird nie vergehen, diese Begeisterung für diese wunderbaren Naturgebilde.
Ich werde müde.
Der Arzt hat mir Bettruhe verschrieben.
Mein Schreiber muss zurück an seine Arbeit.
Nur ein letzter Gedanke noch, da ich nicht weiß, ob ich den nächsten Morgen noch erleben werde: Ich habe keine Angst vor dem Tod, da er mir erlaubt, all das zu vergessen.
Wovor ich mich aber fürchte ist das
Sterben, die Zeit vor dem Vergessen, wenn meine Gedanken noch für einen kurzen Moment klar sind und ich erkenne, dass es endgültig aus sein wird. Denn letztendlich glaube ich, dass in diesem Moment jedem klar wird, wie schön das Leben ist oder hätte sein können.
12.3.2010
Das Schiff, auf das sie mich gebracht haben, kann nicht ablegen. Schon seit mehreren Tagen sitzt die Mannschaft hier fest. Das ist auch einer der Gründe, weshalb sie mich gefunden haben. Es war purer Zufall. Oder Schicksal?
Gibt es da überhaupt einen Unterschied?
Für mich nicht.
Mag man es nennen, wie man will. Es hat mir das Leben gerettet. Vorerst.
Der Arzt beginnt sich ernsthafte Sorgen zu machen. Ich sehe es in seinen Augen. Nicht mehr lange und ich werde dort sein, wo meine Eltern mich bereits erwarten. Ich spüre es.
Nur einen letzten Wunsch habe ich noch. Ein letztes Mal will ich es sehen. Das Land, das mir zugleich so viel Freude und so viel Schmerz bereitet hat.
Und meine Bitte wird mir erfüllt werden.
Niemand verwehrt einem Sterbenden seinen letzten Wunsch.
13.3.2010
Es ist wunderschön.
Eine Wüste aus Eis in den verschiedensten Blautönen. Schnee wirbelt durch die Luft. Der Himmel ist klar.
In der Ferne türmen sich Eisberge auf. Das Sonnenlicht taucht sie in mystisches Licht.
Rinnen im Eis und gelegentlich hervorstehende Felsen durchbrechen die sonst so ebene Landschaft.
Wie ich weiß verändert sich dieses Bild Tag für Tag. Was heute wunderschön ist, kann morgen zu einer großen Gefahr geworden sein.
Das klare Wasser, auf dem Eisschollen in allen Größen und Formen treiben, reflektiert die Sonnenstrahlen. Sie treffen auf mein Gesicht und schenken mir einen Hauch von Wärme.
In einiger Entfernung läuft ein Eisbär durch den Schnee. Der Wind verwischt seine Spuren. Traurigkeit macht sich in mir breit.
Diesmal jedoch nicht, wegen meines Verlustes.
Dieses wunderbare Land, das noch so unberührt vor mir liegt, wird vermutlich bald nicht mehr so sein, wie ich es kenne. Irgendwann wird auch hier der Mensch seine Spuren hinterlassen und zwar nicht nur in Form von
Forschungsstationen.
Trawler fischen bereits die nähere Umgebung leer, sodass die hier ansässigen Tiere ihrer Nahrung beraubt werden.
Auch Bodenschätze werden hier vermutet, unter den gewaltigen Eismassen. Wir müssen nur warten, bis sie freigegeben werden vom Ewigen Eis, das doch vergänglich ist, so wie das menschliche Leben.
Eines Tages werden wir diese Schönheit zerstören.
Der Arzt will mich zurück bringen. Zurück in die Wärme. Er sagt, die Kälte wäre nicht gut für mich.
Aber das stimmt nicht. Ich brauche die Kälte, die herrlich klare Luft, den Anblick, der sich mir bietet.
Er versteht es nicht, wird es vielleicht nie verstehen.
Sie bringen mich zurück, zurück in die stickige Kabine, in der es zwar warm ist, doch die Luft ist schwer und stickig.
So liege ich nun da und warte; warte auf das Ende, das kommen wird. Bald.
Und während ich so daliege und meine Gedanken diktiere, sehe ich Bilder vor mir.
Den Sonnenuntergang, der das Eis in oranges Licht taucht. Ein Farbenspiel, das man nicht alle Tage zu sehen bekommt. Es ist eine Erinnerung. Eine
Erinnerung an die schönen Zeiten vor dem Sturm.
Mein Vater lebt und betrachtet mit mir das Naturschauspiel. Eine Gänsehaut befällt mich, aber nicht wegen der Kälte. Ich bin glücklich; glücklich und zutiefst bewegt. Und trotzdem verstehe ich nicht, weshalb dieser Vorgang, dieser Moment solche Emotionen in mir freisetzt. Ich betrachte, wie die Sonne verschwindet. Dunkelheit legt sich über das Eis. Nur noch ein Schimmer am Horizont erinnert an das Farbenspiel, das zuvor die Schneelandschaft zum Leben erweckt hat. Damals sind mir die Tränen in die Augen getreten und es war mir nicht klar, warum.
Doch nun weiß ich es.
Ein Sonnenuntergang gleicht dem Leben. Zuerst erstrahlt alles in den schönsten Farben. Glück und Wärme durchströmen den Körper. Dann wird es dunkler, bedrohlicher. Angst macht sich breit.
Doch schließlich, kurz bevor es aus ist, erscheint am Horizont ein winziger Hoffnungsschimmer, der in einem Moment anschwillt, um dann ganz zu erlöschen.
Aber dort, wo dieses letzte Licht erlischt, beginnt ein neues zu leuchten.
©Fianna 30/09/2011