Der Fährmann
Er rannte.
Sein Atem ging stoßweise, seine Seite stach, Blut tropfte ihm in die Augen, sein Blickfeld war eingeschränkt.
Und trotzdem hastete er weiter; lief um sein Leben, obwohl er wusste, dass es zwecklos war. Sie waren direkt hinter ihm. Das Echo ihrer Schritte schallte laut von den Wänden der Halle zurück.
Fast kam es ihm so vor, als würden sie mit ihm spielen. Mehrmals hätten sie Gelegenheit dazu gehabt, ihn zu ergreifen; hatten es dann im letzten Moment aber doch nicht getan.
Seine Chancen hier herauszukommen waren so gut wie null. Er hatte keine Ahnung, wo er überhaupt war und noch weniger wusste er, was diese Männer von ihm wollten. Es war zum Verrücktwerden.
Im Laufen drehte er den Kopf.
Prompt stolperte er und fiel unter lautem Krachen in einen Tonnenstapel. Ein grausamer Geruch drang ihm in die Nase. Ihm wurde übel. Hastig versuchte er sich aus dem Gewühl herauszuarbeiten. Doch kaum hatte er sich erhoben, da legte ihm jemand eine Hand auf die Schulter.
Ohne sich umzuwenden trat er nach hinten und schlug wild um sich. Es gelang ihm sich loszureißen und wieder verstand er nicht, weshalb. Diese Männer bemühten sich gar nicht richtig. Worauf warteten sie?
Das Ende der Halle war erreicht.
Es gab nur eine einzige Tür.
Ohne langsamer zu werden eilte er dorthin, drückte die Klinke nach unten und lief hindurch. Noch ein unglaublicher Glücksfall. Das alles war ihm nicht mehr geheuer. War denn kein Alarm ausgelöst worden, als er ausgebrochen war? Weshalb war nicht alles abgeriegelt? Das alles ergab doch überhaupt keinen Sinn.
Vor ihm lag ein enger, grauer Gang. Links und rechts zweigten Türen ab. Im Vorbeilaufen schlug er einige davon auf um seine Verfolger auf eine falsche Fährte zu locken.
Ein Summen erklang, als er die Tür am Ende des Ganges erreichte. Zuerst war es nur ganz leise, doch dann schwoll das Geräusch an und plötzlich ging das Licht aus.
Für einen kurzen Moment hielt er inne, um sich zu orientieren. Das Summen durchdrang seinen ganzen Körper. Es quälte ihn, doch er würde nicht aufgeben.
Von seinen Verfolgern konnte er weder etwas sehen noch hören. Das Foltergeräusch übertönte alles.
Ein kalter Schauder lief ihm über den Rücken, wobei er nicht einmal sagen konnte, weshalb. Vorsichtig tastete er sich nun an den Wänden voran. Es hatte keinen Sinn, einfach weiterzulaufen. Was, wenn hier irgendwo ein Loch im Boden klaffte, oder wenn eine Stange aus der Wand ragte? Wenn er mit voller Wucht dort hinein laufen würde, wäre das sicherlich nicht angenehm.
War das etwa eine Falle? Hatten sich die Männer deshalb nicht all zu viel Mühe gegeben, um ihn einzufangen? Wollten sie ihn auf qualvolle Weise sterben sehen? Was, wenn plötzlich Pfeile aus der Wand geflogen kämen, oder heißes Pech flösse von der Decke? Unbehaglich hob er den Kopf und sah nach oben, doch er konnte nichts erkennen. Egal, was für einen schrecklichen Tod sie sich für ihn ausgedacht hatten; er würde ihn nicht kommen sehen und das war vielleicht sogar das Schlimmste.
Von dem andauernden Klageton wurde ihm übel. Er konnte kaum noch klar denken. Selbst in seinem Kopf schien es zu summen; sein ganzer Körper schien zu vibrieren. Seine Beine wollten ihm nicht mehr gehorchen. Er konnte nicht mehr weiter.
Etwas schien von seinem Körper Besitz ergriffen zu haben; eine unsichtbare Macht war in ihn gefahren und war dabei, ihn von Innen zu zerstören.
Seiner Kehle entrang sich ein gequältes Stöhnen. Kraftlos sank er in die Knie. Mit den Händen hielt er sich die Ohren zu, doch es half nichts. Das Geräusch war in ihn eingedrungen. Jedes seiner Blutgefäße durchfloss es, ließ es anschwellen, sodass ihm heiß wurde. Er begann zu schwitzen und erbrach sich. Von Schmerzen gepeinigt sackte er gegen die Wand; würgte und spuckte. Ein metallischer Geschmack hatte sich in seinem Mund breit gemacht. Blut.
Plötzlich kehrte die Beleuchtung zurück, nur doppelt so hell wie zuvor.
Direkt vor sich erkannte er ein Gesicht und blankes Entsetzten packte ihn.
Unter Zuckungen und Würgen brachte er ein einziges Wort heraus, schrie es, so gut er konnte, während sich eine Klaue seinem Gesicht näherte. Sie würden ihn zerstören.
Mit letzter Kraft brüllte er: „Nein!“
*
„Nein!“
Eine Hand klatschte ihm ins Gesicht. Ruckartig riss er die Augen auf und starrte wild um sich. Dann drehte er sich zur Seite und erbrach sich auf ein Paar Schuhe. Angeekelt sprang der Besitzer dieser Schuhe zurück. „Was soll das denn?“
Ein Gesicht erschien in seinem Blickfeld. Thyra. „Arius, verstehst du mich? Was ist passiert?“ Ihr langes rotes Haar kitzelte seine Wange, während ihre grünen Augen ihn besorgt musterten.
Er musste einen erneuten Brechreiz unterdrücken. Dann versuchte er sich aufzusetzen, doch das Mädchen drückte ihn bestimmt zurück. „Das solltest du vorerst lassen“, riet sie ihm „Was ist passiert?“, wiederhole sie ihre Frage.
Als Thyra sich ein wenig entfernt hatte, richtete sich der Junge doch auf. Im selben Moment bereute er diesen Entschluss, denn ein unangenehmes Pochen seiner Schläfen leitete den Schmerz in seinem ganzen Körper ein. Sein Atem rasselte und sein ganzer Leib fühlte sich an als wäre eine Gruppe Kleinkinder auf ihm herumgetrampelt.
Anstatt die Frage des Mädchens zu beantworten, sah er sich um und stellte erstaunt fest, dass er sich bei Gordian befand. Den Alten konnte er allerdings nirgends entdecken. Außer Thyra und ihm selbst, befand sich nur noch ein ihm Unbekannter in diesem Raum. Es war ein Mann von schmächtiger Statur. Sein Haar war bereits grau, obwohl er nicht älter als dreißig sein konnte. Im Moment war er damit beschäftigt, seine Schuhe am Boden abzustreifen.
„Warum bin ich hier?“ Bei dieser Frage sah Arius Thyra an, die mit verschränkten Armen neben der Bank stand, auf der er saß.
„Kannst du dich nicht mehr erinnern? Du … der See…“
„Du wärst ertrunken, wenn Rohan hier dich nicht aus dem Wasser gefischt hätte.“ Gordian betrat den Raum und er schien heute besonders schlechter Laune zu sein. „Was hattest du überhaupt in dem See verloren? Ohne Lizenz ist es verboten, ihn zu betreten.“
„Was? Lizenz? Wozu denn?“ Arius, dessen Körper immer noch schmerzte, war mehr als verwirrt. Er verstand gar nichts mehr. Das letzte an das er sich erinnerte, war dieses Lied, das irgendjemand gesungen, den er aber nirgends gesehen hatte.
„Der See ist gefährlich. Schon mancher ist darin ums Leben gekommen. Um ehrlich zu sein, ziemlich viele “, erklärte Thyra. „Deshalb stellt das Stadttribunal Lizenzen aus. Für Fischer und andere, die einfach zu dumm sind, um an die Warnungen zu glauben. Ohne Lizenz macht man sich strafbar.“
„Das ist doch sinnlos.“ Arius schüttelte den Kopf. „Außerdem bin ich gar nicht in den See gegangen. Ich bin nur …“ Er stockte. Wie sollte er den anderen erklären, dass er ein Lied gehört, aber den Sänger nicht gesehen hatte. Sie würden ihn für verrückt halten. „Ich bin nur spazieren gegangen“, sagte er schließlich.
„Und wie bist du dann ins Wasser gekommen?“, fragte Thyra, die auch so ernsthaft an seinem Verstand zu zweifeln schien.
„Ich weiß es nicht. Ich kann mich an nichts mehr erinnern“, gestand er. Gordian kam ein paar Schritte näher und musterte ihn aufmerksam. „Was ist das absolut letzte, was du weißt?“
Seufzend sah Arius sich noch einmal in dem Raum um, bevor er erklärte: „Ich… ich habe jemanden gesucht. Einen Sänger. Nachdem ich meine Arbeit verrichtet hatte, habe ich mich auf einen Stein gesetzt und da habe ich plötzlich dieses Lied gehört …“
„Was für ein Lied?“ Die Stimme des Alten klang plötzlich aufgeregt. Seine Augen waren zusammengekniffen.
„Ich weiß es nicht mehr genau. Irgendetwas über den See und über die Nacht, oder so.“
Sichtlich beunruhigt wandte Gordian sich um. Einige Zeit lang schritt er im Zimmer auf und ab. Dann blieb er stehen.
„Es muss der Fährmann gewesen sein.“
Thyra hob den Kopf. „Glaubt Ihr wirklich, dass…“ Ruckartig wandte er ihr den Kopf zu und funkelte sie zornig an. „Stell mich nie in Frage, hast du verstanden?“ Das Mädchen schluckte und senkte den Blick. „Ja, Meister Gordian. Es tut mir leid.“
„Aber der Fährmann ist nur eine Legende“, wandte jetzt der Mann ein, der bisher geschwiegen hatte, Rohan. „Das Hirngespinst eines alten Spinners, der zu oft in der Taverne hockt und zu tief ins Glas schaut. Niemand hat ihn bisher gesehen, oder gehört.“
„Einer ist immer der erste“, erwiderte Gordian und wandte sich dann wieder an Arius. „Hast du denjenigen gesehen, der gesungen hat? Hast du mit ihm gesprochen?“
Der Junge schüttelte den Kopf. „Ich wollte mit ihm sprechen, aber als ich am Steg ankam, war niemand mehr da.“
„Und dann bist du ins Wasser gegangen“, schloss der Alte leise.
„Nein, bin ich nicht“, beteuerte Arius, doch Gordian schüttelte den Kopf. „ Du bist in den See gegangen, ob du es glaubst oder nicht. Der Fährmann hat dich angelockt. Erst ködert er dich mit einem Lied. Wenn du erst in der Nähe des Sees bist, kann er seinen Zauber über dich werfen und schon bist du verloren. Er muss nur noch warten, bis du zu ihm geschwommen bist.“
„Aber wieso ich? Wenn ihn vorher noch niemand gehört hat, wieso bin ich dann gerade der erste und woher wisst ihr dann überhaupt von ihm?“
„Oh, du bist nicht der erste, der ihn gehört hat. Meiner Meinung nach bist du der erste, der überlebt hat“, antwortete Gordian.
„Der zweite“, warf Rohan ein. „Wenn es diesen Fährmann wirklich gibt, dann hat auch der alte Otker ihn gehört und überlebt. Ansonsten würden wir nichts über dieses Wesen wissen.“
Nachdenklich begann Gordian wieder mit dem auf und ab gehen. Er nickte. „Ja, ja du hast Recht. Otker muss ihn auch gehört haben.“
Nach einem kurzen Schweigen wandte er sich wieder Arius zu. „Du solltest zurück zu Gottfried gehen. Er hat sicherlich genügend Arbeit für dich zu tun.“
„Sollten wir nicht herausfinden, wie wir diesen Fährmann loswerden können?“, fragte der Junge und erhob sich vorsichtig. Vor Schmerz presste er die Augen aufeinander.
Entschieden schüttelte Gordian den Kopf. „Diejenigen, die zu dumm sind, um sich an die Regeln zu halten, müssen die Konsequenzen ihres Handelns tragen. Außerdem hätte es keinen Sinn, gegen ihn zu kämpfen. Sobald man sich ihm nähert, kann er einen mit seinem Zauber belegen. Da du ja jetzt weißt, wie er seine Opfer anlockt, sollte es dir leicht fallen, ihm aus dem Weg zu gehen.
Und jetzt geht, alle. Ich will allein sein.“
Rohan kam diesem Befehl auf der Stelle nach, während Arius etwas länger brauchte, um sich bis zur Tür vorzuarbeiten.
„Auf Wiedersehen“, sagte er zu Thyra, bevor er das Haus verließ. Dann machte er sich auf den Weg nach Sorla, der unendlich lang zu sein schien.
Erst nach mehreren Stunden kam er bei Gottfrieds Gehöft an. Nur mit der Hilfe des Fischers Rohan war er überhaupt erst so weit gekommen.
Trotz seines schlechten Zustandes halste ihm sein Arbeitgeber mehrere Aufgaben auf. So verbrachte er den Rest des Tages damit, die Ställe auszumisten, die Pferde zu füttern und zu striegeln. Kaum hatte er all diese Arbeiten erledigt, ließ er sich in das Stroh fallen, das Gottfried ihm als Bett zugewiesen hatte.
Bevor er einschlief, plagte ihn noch ein letzter Gedanke.
Sein Traum, von dem er Gordian und den anderen nichts erzählt hatte. Was hatte es damit auf sich und wieso war er so fest davon überzeugt, dass es nicht wirklich ein Traum gewesen war, sondern eher eine Erinnerung? Eine Erinnerung an ein früheres Leben. War so etwas möglich? Konnte es sein, dass er schon einmal gelebt hatte und sich nun in seinen Träumen daran erinnerte?
Er würde mit jemandem darüber reden müssen. Aber nicht mit Gordian. Er musste jemanden finden, dem er vertrauen konnte. Jemanden, der ihn verstand.
Thyras Gesicht erschien in seinen Gedanken. Ihr lockiges, langes rotes Haar und ihre grünen Augen; ehrliche Augen, traurige Augen.
Mit diesem Gedanken schlief er ein.
© Fianna 2011