Der Dieb
Amata ging nun schon zum dritten Mal ihren Bericht durch. Sie durfte sich keine Fehler erlauben. Die Heilerinnen waren streng, wenn es um die Beurteilung von Leistungen ging. Schon der kleinste Fehler konnte sie ihren Ausbildungsplatz an der Akademie kosten. Zum Glück hatte Alexandra sie an ihre Aufgabe erinnert. Auch wenn sie damit wohl nur bewirken hatte wollen, dass sie mit ihrer Familie allein sein konnte.
Es musste schön sein, eine Familie zu haben. Amata hatte sich immer einen Mann und Kinder gewünscht, doch durch einen Reitunfall war sie nicht mehr dazu fähig, Kinder in die Welt zu setzen. Ihr damaliger Verlobter hatte sie verlassen.
Lange hatte sie gebraucht, um diesen Verlust zu verkraften. Dieser Vorfall hatte sie jedoch erst dazu bewegt, Heilerin zu werden. Diese Akademie war für sie, was die Familie für Alexandra war. Der Sinn des Lebens. Eines unfairen Lebens voller schwerer Prüfungen.
Amata rückte ihre Gedanken wieder zurecht. Sie musste sich auf ihren Bericht konzentrieren. Wo war sie gewesen? Sie hatte es einfach vergessen. Jetzt musste sie wieder von vorne zu lesen beginnen.
Ihre Kerze ging aus. Verärgert suchte Amata nach einer neuen und entzündete diese an einem der Kerzenleuchter an der Wand.
Als sie wieder zu ihrem Arbeitsplatz zurückkehrte, stimmte etwas nicht. Irgendetwas fehlte. Kaum hatte sie die Kerze auf den Tisch gestellt und sich wieder hingesetzt, da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Wo war ihr Bericht?
Verwirrt durchsuchte sie die Bücher auf ihrem Schreibtisch. Nein. Er war nicht mehr da. Doch wo war er? Hatte sie sich etwa nur eingebildet, ihn geschrieben zu haben? Nein, das konnte nicht sein. Schließlich hatte sie ihn fast dreimal durchgelesen.
Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.
Verzweifelt blickte sie sich um und da sah sie ihn. Er hielt ihren Bericht in der Hand. Es war Alexandras Sohn. Sie erkannte ihn wieder, weil er ihr Buch aufgehoben hatte. Nun fuchtelte er mit ihrem Bericht. Verärgert ging sie auf ihn zu. „Gib mir meinen Bericht zurück, du ungezogenes Kind! Was fällt dir eigentlich ein?“ Kaum war sie ihm so nahe, dass sie nur die Hand ausstrecken musste, um ihn zu berühren, da wich er einen Schritt zurück, drehte sich um, öffnete die Tür und verschwand nach draußen.
Hastig setzte Amata ihm nach. Sie brauchte diesen Bericht. Sie hatte keine Zeit, um einen neuen zu schreiben und wenn sie den oberen Heilerinnen erklären würde, dass ein kleiner Junge ihr den Bericht gestohlen hatte, würden diese es als Ausrede abtun und sie sofort aus der Akademie werfen. Der Junge lief gerade die Treppe hinab, als sie die Tür durchquert hatte. Um ihn nicht aus den Augen zu verlieren, beschleunigte sie ihre Schritte. „Haltet den Jungen auf!“, rief sie, „Er hat meinen Bericht gestohlen!“
Diejenigen, die sie hören konnten, waren schlichtweg zu überrascht, um den Jungen aufzuhalten, weshalb Amata nichts anderes übrig blieb, als ihn eigenhändig zu verfolgen.
Sie hoffte, ihn in der Stadt einzuholen.
Dazu kam es jedoch nicht. Der Junge lockte sie quer durch die Stadt und führte sie schließlich in einen Wald. Die Sonne war schon beinahe untergegangen. Sie musste bald in den Palast zurück, sonst brachte ihr der Bericht auch nichts mehr.
Vor ihr tat sich plötzlich eine Höhle auf. Amata blieb sofort stehen. Sie mochte keine Höhlen. Sie waren ihr unheimlich.
Doch der Junge konnte nur dort hinein sein. Dort drinnen musste sie ihn kriegen, schließlich endeten Höhlen meistens plötzlich, bevor man sich versah.
Wieso hatte sie bloß so ein dummes Gefühl dabei, als sie die Höhle betrat?
*
Der Junge saß auf einem Stein und grinste sie unverhohlen hämisch an. „Wieso hast du dich nicht an die Regeln gehalten? Das wäre besser für dich gewesen.“
Ohne auf dessen Worte zu achten, befahl sie: „Gib mir meinen Bericht, sonst bekommst du großen Ärger!“
Der Junge grinste nur noch breiter. „Du bist es, die Ärger bekommt, und zwar gewaltigen Ärger.“ Das wurde ihr nun doch zu viel. Verärgert schritt sie auf den Jungen zu und riss ihm ihren Bericht aus den Händen. Er hielt ihn nicht einmal fest.
Als sie sich umdrehte, hatte sie plötzlich ein ungeheuer starkes Angstgefühl. Sie wollte sich noch einmal zu dem Jungen umwenden, doch da spürte sie einen stechenden Schmerz an ihrem Hinterkopf und sie verlor das Bewusstsein. Der Bericht entglitt ihren Händen und wurde vom Wind aus der Höhle getragen.
*
Als sie die Augen aufschlug, spürte sie noch immer den stechenden Schmerz in ihrem Hinterkopf. Benommen blickte sie um sich.
So wie es aussah, befand sie sich noch immer in einer Höhle, doch es schien nicht mehr dieselbe wie noch zuvor zu sein.
Die Höhle, in der sie sich nun befand, war riesig, beinahe gigantisch. Die größte, die sie je gesehen hatte.
Plötzlich fiel ihr auf, dass sie keineswegs auf dem Rücken lag. Stattdessen stand sie aufrecht da. Seltsam, dabei spürte sie nicht einmal, dass sie auf den Füßen stand. War sie etwa tot? War das das, was nach dem Tod kam? Respekteinflößend genug erschien es ihr. Doch dann erblickte sie ihn. Alexandras Sohn. Sie wollte zu ihm hingehen und ihn schütteln, weil er ihren Bericht gestohlen hatte, doch sie konnte sich nicht bewegen.
Erst jetzt fielen ihr die Spinnen auf. Rundherum hockten sie, wie schwarze Bälle mit Augen, die sie anstarrten. Es war zwar ein lächerlicher Gedanke, dass sie sie anstarren könnten, doch es schien ihr in Anbetracht der Umstände ziemlich glaubhaft zu sein.
Als die Spinnen plötzlich begannen, mit ihren vordersten Füßen aneinander zu schlagen, klappte ihr Unterkiefer herab. Das konnte es doch nicht geben. Diese Tiere applaudierten. Aber wem? Die Antwort schien sich ihr zu nähern. Sie hatte ein ziemlich unangenehmes Gefühl. Plötzlich fühlte sie einen brennenden Schmerz in ihrer linken Schulter. Dann war ihr plötzlich, als zöge jemand das Leben aus ihr heraus.
Verschwommen sah sie noch den Jungen, der sie immer noch hämisch angrinste. Er hatte ihr nicht nur den Bericht gestohlen. Nein. Viel schlimmer. Dies war kein gewöhnlicher kleiner Dieb. Dieser Junge, den sie verschwommen vor sich sah, war ein Lebensstehler. Ein Werkzeug des Lebensnehmers. Ein Werkzeug des Bösen.
©Fianna 2009