Die Höhle
Es war dunkel hier drin. Die Fackel, die Theo mitgebracht hatte, spendete nur spärliches Licht.
Sie alle waren völlig aus dem Häuschen gewesen, als sie diese Höhle gefunden hatten. Die Sonne musste schon weit gewandert sein, seit sie die Höhle das erste Mal betreten hatten.
Inzwischen hatten sie sich schon zu den hinteren Gefilden vorgearbeitet. Sie hatten allerhand gefunden. Schmuck, verrostete Messer, Haarspangen, Zähne und Knochen. Hier mussten wohl einmal wilde Tiere gehaust haben. Das schreckte die drei Jungen jedoch keineswegs ab, es zog sie sogar noch mehr an. Noch immer war kein Ende des Stollens in Sicht. Vermutlich befanden sie sich schon unter der Stadt.
Plötzlich polterte etwas hinter Rainer. Er wandte sich um, doch er sah nichts. Als er sich wieder nach vorne wandte, erschrak er. Vor ihm saß eine Spinne.
Es schien, als würde sie ihm direkt in die Augen sehen. Rainer nahm einen Stein und schlug nach ihr, doch sie wich aus und verzog sich wieder zurück in ihre Höhle.
Der Junge atmete erleichtert auf. Er mochte keine Spinnen. Als kleiner Junge war er einmal von einer gebissen worden. Er wäre gestorben, wenn sein Vater nicht mit ihm zur Akademie der Heilerinnen gereist wäre, wo auch seine Mutter studierte. Die Heilerinnen hatten das Spinnengift aus ihm herausholen können, doch die Angst vor Spinnen war geblieben.
„Was ist denn los, Rainer? Hast du ein Gespenst gesehen?“ Rob war zurückgekommen und blickte ihn fragend an. „Nein, nein. Es ist alles in Ordnung. Ich habe mich nur gerade gefragt, wie spät es wohl ist.“
Rob drehte sich wieder um und eilte Theo hinterher. Die beiden waren Brüder. Sie hatten beide dunkelrotes, kurz geschorenes Haar und blaue Augen. Wenn man sie nicht kannte, hätte man sie kaum auseinander halten können.
Rainer beeilte sich, um die beiden wieder einzuholen. Sie waren bereits um eine Ecke gebogen. Als der Junge ebenfalls um die Ecke bog, blieb er erschrocken stehen. Rob und Theo waren nicht da. Er ging wieder zurück und untersuchte, ob es noch einen anderen Gang gab, doch da war nichts. Langsam ging er wieder um die Ecke, doch seine beiden Freunde blieben verschwunden. Statt ihnen saß eine Spinne in dem Stollen. Schon wenn es nur eine kleine gewesen wäre, hätte Rainer vor lauter Angespanntheit vermutlich geschrieen, doch diese Spinne war beinahe so groß wie seine Faust.
Er hasste Spinnen. Wieso war er bloß in diese Höhle gegangen? Hastig griff er nach einem Stein, ohne die Riesenspinne aus den Augen zu lassen. Blind tastete er über die Steine und suchte einen, der groß genug war. Plötzlich fühlte er etwas Weiches. Er wandte den Blick darauf und stieß erneut einen Schrei aus. Ruckartig zog er die Hand zurück.
Eine zweite Spinne war neben ihm am Boden gehockt und als er einen Stein gesucht hatte, hatte er sie berührt. Diese Spinne hatte in etwa dieselbe Größe wie die andere. Angeekelt wich Rainer noch einen Schritt zurück. Dabei stolperte er und konnte sich nur im letzten Augenblick an einem herausstehenden Felsen festhalten.
Dieser bewegte sich jedoch plötzlich nach unten. Diesmal verlor der Junge endgültig das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Ein infernalischer Lärm erklang, der Rainer dazu veranlasste, sich die Ohren zuzuhalten.
Kaum war der Lärm verklungen, da richtete sich der Junge wieder auf.
Die Kinnlade klappte ihm herunter, als er sah, was er gemacht hatte. Dieser vorstehende Stein, auf den er sich gestützt hatte, musste eine Art Hebel gewesen sein.
Einer der Felsen hatte sich verschoben und die Sicht auf einen neuen Gang freigegeben.
„Rob, Theo! Könnt ihr mich hören?!“
Außer seiner eigenen Stimme, die von den Wänden widerhallte, hörte er nichts. Er atmete tief durch. Seine Freunde mussten hier irgendwo sein. Die einzige Möglichkeit, um herauszufinden, ob sie in diesem Gang waren, war ihn zu durchsuchen.
Entschlossen schritt Rainer durch die Öffnung.
Als ihn weder eine Riesenspinne ansprang, noch ein wütender Bär auffraß, fasste er neuen Mut und ging weiter. Kaum hatte er sich jedoch vier Meter von dem Durchgang entfernt, da rollte der Felsen wieder zurück an seinen ursprünglichen Platz.
Schnell lief Rainer zurück, doch er kam zu spät. Der Felsen hatte sich wieder verschlossen. Egal. Er musste sowieso erst seine Freunde finden. Danach konnten sie gemeinsam einen Ausweg aus dieser Situation suchen.
Vorsichtig und auf jedes Geräusch achtend ging Rainer weiter. Hin und wieder glaubte er das Geräusch von kleinen Beinen auf Stein zu hören. Er war sich beinahe sicher, dass es acht Beine waren. Doch vielleicht spielten ihm nur seine überreizten Nerven einen Streich.
Nach einigen Minuten (für Rainer war es, als wären bereits Stunden vergangen) erreichte der Junge eine Stelle, an der der Weg sich teilte.
Ahnungslos blickte Rainer von einem Weg zum anderen. Welchen sollte er gehen? Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, als er sah, dass aus dem linken Gang zwei Exemplare von Riesenspinnen auf ihn zukamen. Hastig ging er zum rechten Gang. Bevor er jedoch dort hineinging, vergewisserte er sich, ob er spinnenlos war.
Als dies der Fall war, ging er weiter.
Inzwischen verfluchte er sich dafür, dass er nicht selbst eine Fackel mitgenommen hatte. Er sah kaum noch die eigene Hand vor Augen. Langsam tastete er sich voran. Immer hatte er Angst, dass er auf eine Spinne treffen könnte. Angestrengt versuchte er diesen Gedanken auszublenden, doch desto mehr er dies versuchte, desto schlimmer wurden seine Ängste.
Manchmal schüttelte er sich, weil er glaubte, Spinnenbeine auf sich zu spüren. Dass der Gang immer enger wurde, trug auch nicht gerade zur Angstlinderung bei.
Er hätte jederzeit umdrehen können. Jedenfalls machte er sich das ständig klar, obwohl er wusste, dass er seine Freunde nicht im Stich lassen konnte. Was, wenn das kein Streich war? Was, wenn ihnen etwas zugestoßen war? Wäre es dann nicht besser, wenn er Hilfe holen würde, anstatt allein und völlig ratlos in dieser Höhle herumzuirren?
Da fiel ihm wieder ein, dass er ja gar nicht zurück konnte. Der Fels war ja hinter ihm zugefallen. Wieso war er nur so dumm gewesen und war durch diesen Durchgang hindurch gegangen? Hätten seine Freunde dasselbe getan, hätte er das doch hören müssen.
Während er so darüber nachdachte, fiel ihm gar nicht auf, dass es plötzlich wieder hell wurde. Erst als es so hell war, dass das Licht ihm in den Augen wehtat, fiel ihm auf, dass sich etwas verändert hatte.
Er befand sich in keinem Gang mehr, sondern in einer Höhle. Die Decke war so hoch, dass er sie fast gar nicht mehr sehen konnte. Mehrere Gänge schienen in diese Höhle zu führen und wieder hinaus.
Wie konnte diese Decke bloß so hoch sein? Keine einzige Stelle in der Stadt lag so hoch. Er musste sich korrigieren. Keine einzige Stelle in der Stadt, außer der Akademie der Heilerinnen, lag so hoch. Aber sie waren doch gar nicht in diese Richtung gegangen. Rainer konnte sich jedenfalls nicht daran erinnern. Vielleicht waren sie einmal abgebogen und er hatte nichts davon bemerkt.
Eigentlich war das jetzt ja auch egal. Er wollte nur seine Freunde finden und dann auf dem schnellsten Weg hier heraus.
Er trat aus dem Gang heraus, in dem er bis jetzt gestanden hatte und betrat die Höhle. Sie war wirklich riesig. Die Stalagmiten waren mindestens dreimal so groß wie er.
Ehrfürchtig betrachtete er diesen Ort. Nur der Lebensgeber konnte so etwas geschaffen haben. Aber, hieß es nicht, dass der Lebensgeber keinen Einfluss auf die Gebiete unter der Erde hatte?
Rainer musste sich hier sehr tief unter der Erde befinden.
Das musste dann heißen, dass der Lebensnehmer dies alles hier geschaffen hatte. Das konnte der Junge sich jedoch nicht vorstellen.
Wie konnte jemand wie der Lebensnehmer etwas so Schönes wie das hier erschaffen?
Egal, wer dies nun geschaffen hatte, Rainer konnte ihm gegenüber nichts anderes als Respekt empfinden.
Ein Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken. Er wandte sich um, erblickte jedoch nichts Gefährliches. Schließlich wandte er den Blick wieder auf die Höhle. Diesmal sah er sich jedoch aufmerksamer um. Der Junge ging ein paar Schritte weiter und blieb abrupt stehen, als er das sah, was sich in der Mitte dieses Meisterwerks befand.
Zuerst hatte er es für einen großen Stein gehalten, der in der Mitte durchgebrochen war, doch nun, da er näher heran war, erkannte er, dass in dem Loch, das sich in dem Stein befand, ein Spinnennetz gebaut worden war.
Es war das größte Spinnennetz, das er je gesehen hatte.
Selbst die Riesenspinnen, die er zuvor gesehen hatte, hätten in diesem Netz winzig ausgesehen. Wie Mücken, die sich in einem normalen Spinnennetz verfangen hatten.
Als er daran dachte, was ein solch gigantisches Netz gebaut haben konnte, schauderte es ihn und er beeilte sich, auf einen der Gänge zuzugehen.
Gerade wollte er den nächst besten betreten, als er sah, dass eine ganze Menge Spinnen daraus hervorkrabbelte.
Auch als er sich an den nächsten wandte und an den übernächsten, sah er das gleiche. Überall waren Spinnen. Von einem unangenehmen Gefühl ergriffen, legte Rainer den Kopf in den Nacken und sah nach oben. Ein kalter Schauder des Entsetzens lief ihm über den Rücken, als er die Spinnen sah, die sich an ihren Fäden herabließen.
Sie waren noch größer als die, die er zuvor als riesig bezeichnet hatte. Diese Spinnen waren beinahe so groß wie sein Kopf.
Plötzlich spürte er, dass ihm eine Spinne über den Stiefel lief. Rainer schleuderte sie fort und zog sich in die Mitte des Raumes zurück. Inzwischen kamen aus allen Gängen Spinnen.
Es war, als wäre er in einem Albtraum gefangen.
Als er etwas Klebriges an seinen Fingern spürte, wusste er, was er sehen würde, wenn er sich umwandte. Anstatt sich jedoch umzuwenden, wollte er wieder einen Schritt nach vorne treten.
Es ging nicht. Er hing fest.
Verzweifelt versuchte er, sich aus dem Riesenspinnennetz zu befreien, doch es ging einfach nicht. Er saß in der Falle.
Nun wusste er zumindest, wie sich eine Fliege fühlen musste, die in einem Spinnennetz gefangen war. Er hätte alles dafür gegeben, um diese Erfahrung nie machen zu müssen.
*
Unbeweglich, wie er noch immer war, beobachtete Rainer die näher kommenden Spinnen. Sie waren nur noch einen Meter entfernt, als sie stehen blieben.
Angstschweiß rann dem Jungen über die Stirn. Er fragte sich, was jetzt wohl geschehen würde.
Noch nie hatte er sich so sehr gewünscht, dass eine seiner Fragen unbeantwortet blieb. Er spürte, wie das Netz zu vibrieren begann. Unter die Spinnen kam Bewegung. Sie begannen, ihre vordersten Beine aneinander zu schlagen. Beinahe sah es so aus, als applaudierten sie. Wäre dieser Eindruck nicht völlig grotesk gewesen, hätte Rainer wohl daran geglaubt.
(Wenige Sekunden später tat er es wohl auch)
Inzwischen vibrierte das Netz heftiger. Plötzlich spürte der Junge etwas auf seiner Stirn. Es war haarig und fühlte sich nicht gut an.
Seine Fantasie malte sich die schrecklichsten Dinge aus, die jetzt passieren konnten. Doch das, was wirklich geschah, hätte er nie erwartet.
Seine Hände lösten sich plötzlich von dem Netz und wenig später war er völlig frei. So schnell es ging, ohne zu fallen, entfernte Rainer sich von dem Netz. Dabei achtete er jedoch darauf, den anderen Spinnen, die inzwischen wieder völlig ruhig waren, nicht zu nahe zu kommen.
Er wandte sich um und starrte auf das Spinnennetz, an dem er kurz zuvor noch gehangen hatte. Es war nun nicht mehr leer.
Das was Rainer sah, ließ ihn nicht mehr daran zweifeln, dass dieser Ort vom Lebensnehmer geschaffen worden war.
In dem riesigen Netz hockte eine riesige, nein eine gigantische Spinne. Sie musste mindestens zweimal so groß wie er selbst sein. Ihr Hinterleib war blutrot, während der Rest von ihr schwarz war wie die Nacht.
Ihre Augen funkelten ihn wissend an. In diesem Augenblick wurde Rainer klar, dass Spinnen intelligent waren. Nicht nur ihre acht Beine unterschieden sie von den Insekten, sondern auch ihre Gabe, nicht nur durch Instinkt zu handeln.
Alles, was hier geschehen war, war geplant gewesen. Nicht einen Augenblick zweifelte Rainer an diesem Wissen.
Als die Spinne, die Königin der Spinnen, zu ihm sprach, war er keineswegs überrascht.
„Willkommen Rainer. Ich bin erfreut, dich hier zu sehen, obwohl ich kein bisschen überrascht bin. Du warst schon als kleines Kind zu übereifrig.“
Es war nicht so, dass sie wirklich zu ihm gesprochen hätte. Eher kam es ihm so vor, als wusste er, was sie sagen wollte, als hätte sie es schon gesagt und er müsse sich nur daran erinnern.
„Kennst du mich denn noch?“
Erst jetzt schien es Rainer angemessen, zu ihr zu sprechen, doch er tat es nicht, wie man es mit Menschen oder mit Tieren tat. Er tat es auf die Weise, wie man mit einem überlegenem Wesen spricht.
„Ich habe Euch nie vergessen, Mutter.“ Bei diesen Worten verneigte er sich tief und er richtete sich erst wieder auf, als die MUTTER erneut zu ihm sprach.
„Dann weißt du auch sicher noch, was ich von dir verlangt habe, im Gegenzug für dein Leben?“
„Natürlich, wie könnte ich dies vergessen. Ihr sagtet mir ich würde sterben, wenn ich Euch nicht einen Gefallen täte.“
„Sprich weiter, mein Sohn.“ forderte ihn die MUTTER auf.
Mit einer weiteren, diesmal kürzeren Verbeugung fuhr Rainer fort: „Ihr sagtet mir damals, wenn die Zeit gekommen wäre, würdet ihr meine Hilfe brauchen. Wie ich sehe, ist die Zeit nun gekommen, also befehlt mir, Mutter, und ich gehorche, wie ich es Euch geschworen habe.“
Anders als zuvor, erwiderte die MUTTER. Es schien, als würde das Sprechen ihr plötzlich schwer fallen.
„Ich sterbe, mein Sohn. Seit vielen Jahrtausenden schon bin ich die Mutter. In diesen Jahren bin ich immer wieder zu diesem Punkt gelangt. Ich weiß, was ich tun muss, um mich und mit mir unsere ganze Spezies zu retten.
Glaube nicht, dass es mich erfreuen würde, dir diese Befehle zu geben. Ich befehle nur, wenn es keine andere Möglichkeit gibt. Wenn du nicht tust, was ich von dir verlange, werde ich sterben und mit mir auch alle, die an mich gebunden sind. So wie auch du. Ich habe dich mit meinem Gift an mich gebunden. Danach habe ich dir das Leben gewährt. Du weißt das und deshalb wirst du mir gehorchen. Liege ich mit dieser Annahme richtig?“
„Ja, Mutter“, erwiderte Rainer.
„Dann höre mir jetzt genau zu!
In der nächsten Nacht ist Neumond. Bevor die Sonne untergegangen ist, bringst du mir eine der Heilerinnen aus der Akademie! Hast du das verstanden?
„Ja, Mutter. Eine Heilerin aus der Akademie, bevor die Sonne untergeht“, erwiderte Rainer.
„Gut. Ich möchte aber nicht irgendeine Heilerin. Bring mir jene Heilerin, die den Namen Amata Ress trägt. Bringst du mir eine andere, werde ich dich mit dem Gift, das du immer noch in dir trägst, töten. Hast du das verstanden?“
„Ja, Mutter. Ich habe verstanden und ich werde gehorchen“, erwiderte Rainer.
„Gut, dann kannst du dich schon einmal an die Arbeit machen und pass auf, dass niemand bemerkt, was du tust.“
„Ja, Mutter. Ich werde gehorchen, weil Euer Gift durch meine Adern fließt und mein Herz gefangen hält“, erwiderte Rainer.
© Fianna 2009