Meine Schwerter wirbelten durch die Luft. Ich ließ meinen Gegnern nicht auch nur die kleinste Möglichkeit, zu mir durchzudringen. Obwohl ich ihre Hiebe nur parierte und nicht selbst zum Angriff überging, schienen sie bereits am Ende ihrer Kräfte zu sein. Kein Wunder. Der Kampf zog sich schon seit mehreren Stunden hin. Auch ich spürte, dass meine Glieder langsam erlahmten, doch ich ließ es nicht zu. Ich ignorierte, dass meine Muskeln zu schmerzen begonnen hatten und ich ignorierte die Kopfschmerzen, die von Minute zu Minute schlimmer wurden. Doch es
wurde mir klar, dass ich den Kampf beenden musste. Lange würde auch ich nicht mehr durchhalten.
Geschickt parierte ich den Schlag des linken Angreifers, während ich den rechten Gegner im Auge behielt. Er holte zu einem wuchtigen Schlag aus. Das nutzte ich. Schwungvoll drehte ich mich im Kreis und hielt ihm meine Klinge vor die Kehle. Der übrig gebliebene Angreifer holte nun ebenfalls aus, ohne auf seine Deckung zu achten. Ich brauchte nur das Kurzschwert zu heben, das ich in der linken Hand hielt. Es deutete direkt auf seine Kehle. Wieder einmal hatte ich gesiegt.
„Gut gemacht, Ariane.“
Erschöpft und mit einem zornigen Funkeln in den Augen steckten die Männer ihre Waffen zurück in die Scheiden. Erleichtert tat ich es ihnen gleich. Dann verließ ich die Arena.
Mein Meister, Basin, winkte mich zu sich. Ohne zu murren, leistete ich dem Befehl Folge.
Basin war ein Mann mittleren Alters, dessen sandfarbenes Haar bereits einige graue Strähnen aufwies. Sein zurechtgestutzter Bart, die buschigen Augenbrauen und die etwas krumme Nase verliehen ihm ein strenges Aussehen, das jedem, mich eingeschlossen, Respekt einflößte. Ich deutete eine Verbeugung an, als ich ihm
gegenüberstand, denn nicht nur sein Aussehen, sondern auch seine Stellung ließen mich fast so etwas wie Ehrfurcht vor ihm empfinden. Der Mann, der im Grunde eher einen schmächtigen Eindruck machte, war nämlich nichts Geringeres als ein Meister des Schwertes. Den Kampf mit beiden Schwertern, dem langen, leicht gebogenen und dem kurzen, extrem scharfen, beherrschte er wie kein zweiter. Trotz dieses hohen Ranges und seiner ausgeprägten Talente, wirkte er keineswegs überheblich. Im Gegenteil: Er war freundlich, wenn auch streng, und er hatte Geduld. Zwar verlangte er sehr viel von seinen Schülern und
manchmal trieb er sie bis an ihre Grenzen, doch nie tat er dies um ihnen zu schaden. Dafür bewunderte ich ihn.
„Du hast dich heute gut geschlagen, Ariane. Wenn du so weiter machst, wirst du demnächst die nächste Stufe deiner Ausbildung erreichen und ich hoffe du weißt was das heißt.“
Ob ich das wusste? Seit ich vier Jahre alt war, dachte ich an nichts anderes mehr. Ich stand kurz davor selbst eine Meisterin des Schwertes zu werden. Noch dazu kam, dass ich die erste Frau war, die sich diesen Titel aneignen würde. Ich konnte es kaum erwarten. Trotzdem plagten mich Zweifel, ob ich überhaupt schon dazu bereit war.
Normalerweise bedurfte es ein halbes Leben, um sich den Titel Meister des Schwertes anzueignen und ich war gerade erst siebzehn geworden.
„Seid Ihr sicher, dass ich schon so weit bin?“
Basin schien meine Unsicherheit zu bemerken und ein gutmütiges Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Als er jedoch sprach, schlug er einen strengen Ton an.
„Wenn du weiter an deinen Fähigkeiten zweifelst, dann bin ich mir nicht mehr sicher. Vergiss nicht: Zweifel und fehlendes Selbstvertrauen gehören zu den schlimmsten Feinden eines Kriegers.“ Es beschämte mich, dass
Basin mich daran hatte erinnern müssen. Deshalb nickte ich und setzte einen entschlossenen Blick auf, obwohl ich immer noch nicht überzeugt war. Aber ein Krieger durfte sich seine Gefühle nicht anmerken lassen, ebenso wenig wie seine Gedanken.
„Ihr habt Recht, Meister Basin. Wenn Ihr mich für würdig befindet, dann tue ich das auch.“
Der Meister seufzte: „Du darfst dich nicht auf das Urteil anderer verlassen. Du musst selbst entscheiden, was richtig und was falsch ist. Wenn du denkst, du wärst noch nicht bereit, dann sag es und wir trainieren weiter, bis du denkst, dass du es verdienst.“
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Klang es nicht überheblich, wenn ich beteuerte, dass ich bereit genug dafür war. Andererseits wusste ich, dass ich bereit war und ich wollte auf keinen Fall meine Ernennung hinausschieben. Deshalb erwiderte ich: „Ich denke, ich bin bereit. Mit Eurem Einverständnis werde ich mich der Prüfung unterziehen.“
Wohlwollend nickte Basin. „Mache einfach weiter wie bisher, dann steht dir nichts im Wege. Du solltest nur nicht zu lange mit deinen Gegnern spielen. Ich weiß, dass du Ergan und Frevo schon viel früher hättest besiegen können. In einer Schlacht könnte dir solch eine
Überheblichkeit leicht zum Verhängnis werden.“
„Ja, Meister, ich werde daran denken.“
„Gut“, meinte Meister Basin, „dann kannst du jetzt gehen und grüße deine Mutter von mir.“
Ich verbeugte mich erneut, verabschiedete mich und wandte mich um. Was sollte ich jetzt machen? Es war gerade erst Mittag. Vielleicht wäre es das Beste nach Hause zu gehen und etwas zu essen. Diesen Gedanken schlug ich mir jedoch gleich wieder aus dem Kopf, denn ich hatte keinen Hunger.
Als ich Chionia erblickte, nahm mir das die Entscheidung ab. Von Kindesbeinen an waren wir zwei befreundet gewesen,
und immer hatte ich sie um ihr wunderbares rotes Haar beneidet, das sie offen trug und das ihr weit über den Rücken reichte. Auch ich hatte langes Haar, doch es war rabenschwarz, hing gerade herab und glänzte nicht wie Chionias. Aus diesem Grund und, weil es mich im Kampf sonst behindert hätte, trug ich es immer zusammengebunden. Mein Zopf reichte mir fast bis zu den Kniekehlen und ich war stolz darauf, denn am Haar eines Kriegers erkannte man seinen Rang.
Damit ihr das Haar nicht ins Gesicht fiel trug Chionia ein ledernes Stirnband, das ich ihr vor langer Zeit geschenkt hatte.
„Hallo Chionia! Was treibt dich hier
her?“ Ich umarmte die Freundin und merkte sofort, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Sie lächelte zwar, doch es war ein trauriges Lächeln. „Was ist los?“, fragte ich ohne Umschweife.
Anstatt meine Frage zu beantworten sagte Chionia: „Du bist wirklich gut. Bestimmt könntest du es mit einer Gruppe von acht Männern gleichzeitig aufnehmen.“
Dieses Kompliment ignorierte ich einfach. „Was ist mit dir los? Ich sehe doch, dass etwas nicht mit dir stimmt.“ Chionia wollte offenbar noch nicht reden, doch ich blieb hartnäckig. Schließlich setzte sich meine Freundin in Bewegung und forderte mich auf ihr zu
folgen. Nachdem wir den Übungsplatz hinter uns gelassen hatten, steuerte Chionia auf einen Brunnen zu, der an einem Waldrand stand. Vor langer Zeit schon war der Brunnen ausgetrocknet und vor fast ebenso langer Zeit hatten wir uns hier immer wieder getroffen, um über unsere Probleme zu sprechen. Ich wusste nicht, wann wir aufgehört hatten, uns hier zu treffen, doch, dass meine Freundin mich jetzt genau hierhin führte, bereitete mir Sorgen. Entweder war etwas Schlimmes passiert, oder es würde etwas Schlimmes passieren, das wusste ich. Das spürte ich.
Schwerfällig, als hätte alle Kraft sie verlassen, ließ Chionia sich auf dem
Brunnen nieder. Schweigend setzte ich mich neben sie. Ich hatte nicht vor sie zu drängen. Sie würde schon von selbst mit dem Sprechen beginnen. Manchmal war es schwer die richtigen Worte zu finden, ich wusste das. Viele Menschen hatten es so eilig irgendetwas loszuwerden, dass sie gar nicht auf die richtigen Worte achteten. Sie wussten gar nicht, wie viel Leid sie damit anrichten konnten. Und ich war keine Ausnahme. Ich hätte auch nie gedacht, dass es eine Ausnahme geben könnte, doch Chionia war der lebende Beweis dafür, dass man auch wenn man lange brauchte, um etwas zu erklären, das gewünschte Ergebnis erzielen konnte.
Ohne Hast begann sie schließlich zu erzählen. Währenddessen kratzte sie mit ihren Fingernägeln das Moos zwischen den Steinen des Brunnen hervor. Sie sah mir nicht in die Augen, was mich beunruhigte.
„Seit fast ebenso langer Zeit, wie du dich der Kriegerkaste verschrieben hast, diene ich der Magierkaste. Ich weiß dass du kurz davor stehst zu einer Meisterin des Schwertes ernannt zu werden und ich freue mich für dich, wirklich.“ Nun sah sie mich doch an und hinter ihrem traurigen Gesicht erblickte ich ein angedeutetes Lächeln. Doch ich wusste immer noch nicht, worauf sie hinauswollte. Ich wusste doch, dass sie
eine Magierin werden wollte. Im Grunde waren unsere Ziele gar nicht so verschieden. Während ich eine Meisterin des Schwertes werden wollte, wollte sie zu einer Meisterin der Magie aufsteigen. Und genau wie ich, verfügte sie über das nötige Talent. Zwar war sie einige Monate älter als ich, doch das änderte nichts daran, dass sie immer noch sehr jung für eine Meisterin der Magie war. Trotzdem hatte sie es bereits geschafft, sich beinahe bis zu diesem Titel vorzuarbeiten. Wir standen in unserer Ausbildung nun etwa auf derselben Stufe.
Das Schweigen breitete sich langsam aus, doch ich bedrängte sie nicht. „Auch
ich stehe kurz vor der Ernennung zur Meisterin der Magie“, begann sie, doch dann verstummte sie wieder und wandte den Blick erneut ab.
Ein eisiger Windstoß ließ mich erschauern. Der Herbst in diesem Jahr war ungewöhnlich kalt. Auf den Bergen lag bereits eine Menge Schnee und auch im Tal schneite es an manchen Tagen leicht.
„Ich weiß, dass deine Prüfung jederzeit anstehen könnte und es grämt mich, dass ich dich das jetzt fragen muss, aber …“ Sie stockte kurz und atmete tief durch. Ich bemerkte, wie schwer es ihr fiel weiter zu sprechen, doch ich blieb stumm und wartete einfach ab. Als
Chionia sich wieder einigermaßen gefangen hatte, redete sie weiter.
„Meine Prüfung ist heute und ich … ich brauche deine Hilfe.“ Ich war überrascht, doch das ließ ich mir nicht anmerken. War das alles? Deshalb war sie so besorgt gewesen, weil sie meine Hilfe brauchte? Hatte sie etwa gedacht ich würde ihr nicht helfen? Dann kannte sie mich aber nicht so gut, wie ich es erwartet hatte. Da musste doch noch mehr dahinter stecken. War es etwa gefährlich?
Der einzige Weg das herauszufinden, war, Chionia zu fragen und das tat ich dann auch. „Wie sähe meine Hilfe denn aus?“ Chionia schien ein Stein vom
Herzen zu fallen. Anscheinend wurde ihr nun doch noch klar, dass ich sie nie im Stich lassen würde. „Ich weiß es selbst nicht genau, aber ich denke es geht einfach darum, dass ich einen Zeugen dafür habe, dass ich die Prüfung bestanden, oder eben nicht bestanden habe. Vermutlich musst du nichts anderes machen, als zuzusehen. Es ist bestimmt nicht gefährlich.“
Sie hatte das ziemlich schnell gesagt, fast so als hätte sie sich diese Worte bereits zurechtgelegt. Aber vermutlich bildete ich mir das alles nur ein. Manchmal übertrieb ich es mit meinem Kriegerdasein wohl etwas. Wieso sollte Chionia mich auch belügen?
„Ich verstehe wirklich nicht, weshalb du deshalb so ein Theater gemacht hast. Natürlich helfe ich dir“, sagte ich.
Chionia hörte auf, Moos zwischen den Steinen hervorzukratzen und sah mich an. Die Traurigkeit war zwar aus ihrem Gesicht gewichen, doch in ihren Augen war sie immer noch zu sehen. Irgendwie schien es jedoch weniger Traurigkeit als Bedauern zu sein.
Nein. Ich schüttelte leicht den Kopf, was mich wieder an meine Kopfschmerzen erinnerte. Das bildete ich mir nur ein. In letzter Zeit hatte ich zu wenig geschlafen. Ich hatte mich nur auf mein Training konzentriert und jetzt hatte ich die Konsequenzen zu tragen.
Mit mehr Kraft als noch kurz zuvor stieß sich Chionia vom Brunnen ab und umarmte mich, als ich es ihr nach getan hatte. „Ich danke dir. Meine Prüfung findet heute Nacht statt. Ich schlage vor, wir treffen uns bei Sonnenuntergang hier beim Brunnen und gehen dann gemeinsam hin.“
Zustimmend nickte ich. Ich hatte nicht das Geringste dagegen. Gerne ging ich in der Nacht spazieren. Die Welt erschien viel klarer, wenn man nicht mir den Spuren menschlicher Zivilisation konfrontiert war. Außerdem konnte man bei Nacht lernen seine Sinne zu schärfen, da die Geräusche der Nacht nicht mit denen des Tages zu vergleichen
waren. Ja, ich liebte die Nacht. Vielleicht war es ja die Vorfreude darauf die Nacht im Freien zu verbringen, die mich dazu veranlasste, nicht weiter über Chionias seltsames Verhalten nachzudenken.
Ich hätte es wohl besser getan.
Pünktlich fand ich mich bei unserem Treffpunkt ein. Chionia war noch nicht da. Gedankenversunken betrachtete ich den Sonnenuntergang. Der Himmel war blutrot. Das hätte mich eigentlich warnen müssen, doch ich war viel zu aufgeregt. Immerhin würde ich hautnah miterleben, wie jemand in den höchsten Kreis der Magie aufgenommen wurde. So etwas konnte nicht jeder von sich behaupten. Schon lange war die Sonne hinter den Bergen versunken, als meine Freundin endlich auftauchte. Sie wirkte gehetzt und sah sich immer wieder nervös um. Freilich fragte ich mich,
weshalb das so war, doch irgendetwas hielt mich zurück diese Frage laut zu stellen. Als Chionia mich erblickte kam sie auf mich zugeeilt. Wobei sie unsicher zuerst nach links und dann nach rechts blickte. Danach wandte sie sich wieder mir zu. Ihr Blick blieb an meinen Waffen kleben.
„Es ist nicht erlaubt Waffen mitzubringen“, erklärte Chionia mit bebender Stimme. So aufgeregt hatte ich sie noch nie erlebt. Normalerweise blieb sie immer ruhig und berechnend. Doch heute schien sie völlig anders zu sein.
„Ich lasse meine Waffen nie zurück“, erklärte ich ihr nachdrücklich, doch ich merkte, dass ich bereits verloren hatte.
Ich hatte ihr schon versprochen, dass ich ihr helfen würde, und wenn Waffen verboten waren, dann würde ich das wohl akzeptieren müssen. Trotzdem fügte ich mit einem Deut auf den Stab, den Chionia in der Hand hielt, hinzu: „Außerdem trägst du doch selbst eine Waffe.“
„Dieser Stab ist rein für symbolische Zwecke“, meinte sie nur.
Ein Schmunzeln konnte ich nicht ganz unterdrücken, als ich erwiderte: „Ich mag vielleicht zur Kaste der Krieger gehören, die von den Magiern als grob und barbarisch bezeichnet wird, doch ich bin nicht dumm. Ich weiß genau, dass das ein Kampfstab ist und nicht nur
als Symbol verwendet wird. Mit diesem Stab kann man sich nicht nur wie mit einem gewöhnlichen Stab verteidigen, man kann damit auch Magie wirken. Und du willst mir im Ernst weismachen, dass das keine Waffe ist?“
Erstaunt über meine Kenntnis wusste Chionia zuerst nicht, was sie erwidern sollte, doch dann fand sie ihre Stimme wieder. Entschuldigend sagte sie: „Es tut mir Leid. Der Stab ist tatsächlich für den Kampf gedacht, aber ich habe nicht gelogen. Er dient auch als Symbol. Aber was vielleicht wichtiger ist: Ich habe dir doch gesagt, dass ich heute meine Prüfung ablegen muss. Genau zu diesem Zweck benötige ich meinen Stab, um
mein Können unter Beweis zu stellen. Meine Meisterinnen haben mir befohlen niemanden mit seinen Waffen zum Ritualplatz zu bringen.“
„Ritualplatz?“ Dieses Wort behagte mir nicht und das musste man meiner Stimme wohl angemerkt haben, denn Chionia beeilte sich zu versichern: „Keine Angst. Es geht nicht um ein Opfer. Ritualplätze sind nur Orte, wo die Magie äußerst mächtig ist. Deshalb muss ich meine Prüfung dort ablegen.
Ohne etwas zu erwidern nickte ich, dann ging ich zum Brunnen und zog den Eimer mit der Seilwinde nach oben, die immer noch an einem Holzgestell über dem Brunnen befestigt war. Stirnrunzelnd
beobachtete Chionia mein Tun, doch sie sagte kein Wort. Als ich den Eimer auf dem Rand des Brunnens abgestellt hatte, nahm ich meinen Waffengurt ab und platzierte ihn sicher im Eimer. Danach ließ ich ihn vorsichtig zurück auf den Grund des Brunnens. Von dem Messer, das in meinem rechten Stiefel steckte erzählte ich kein Wort. Es behagte mir schon nicht, nur mit diesem kleinen Messer bewaffnet zu sein, doch es war besser als gar nichts. Ich wandte mich zu Chionia um und sie ging wortlos voraus, auf den Waldrand zu. Das Gefühl, dass hier irgendetwas nicht stimmte, schob ich beiseite und konzentrierte mich völlig darauf Chionia
nicht aus den Augen zu verlieren, als die hohen Bäume auch das letzte bisschen Licht verschluckten.
Ich wusste schon nicht mehr, wie lange wir schon unterwegs waren, als Chionia plötzlich anhielt. Meine Kopfschmerzen waren inzwischen wiedergekommen und sie waren stärker als je zuvor. Jedenfalls glaubte ich das.
Hier in diesem Teil des Waldes war es völlig still. Da der Wald großteils aus Nadelbäumen bestand, drang nur ein wenig Licht durch die dichten Baumkronen. Wind wehte überhaupt keiner, und ich konnte auch keinen Vogellaut vernehmen. Das beunruhigte mich. Das beunruhigte mich sogar sehr, doch ich ließ es mir nicht anmerken.
Unwillkürlich griff ich nach einem dicken Ast, der am Boden lag, als ich hinter mir das Knacken eines Astes vernahm. Mein Herz schlug wild. Noch nie hatte ich so etwas bei einem Kampf gespürt. Ich konnte mich überhaupt nicht daran erinnern, ob ich so etwas überhaupt schon einmal gespürt hatte. Schweiß stand mir in Perlen auf der Stirn, obwohl mir gar nicht heiß war und ein eisiger Schauer lief mir über den Rücken. Ich hatte angenommen, dass ich so etwas nie fühlen würde, doch nun war es soweit. Ich hatte Angst.
Wie lächerlich das war. Ich mochte doch die Dunkelheit, die Nacht, mit all ihren Geräuschen. Wieso fürchtete ich mich
jetzt plötzlich sosehr davor?
Wieder hörte ich ein Knacken. Eindeutig das Brechen eines trockenen Astes. Gehetzt sah ich mich um. Wo war Chionia?
Mit dem Rücken zog ich mich zu einer hohen Fichte zurück. Sie gab mir Rückendeckung. Dann atmete ich tief durch. Ich musste mich beruhigen. Vielleicht bildete ich mir das ja alles nur ein. Ich hasste mich für diesen Gedanken, doch ich konnte ihn nicht abschütteln. Ein Krieger hoffte nicht. Hoffnung war nur für diejenigen da, die ihr Schicksal nicht in die eigenen Hände nahmen.
Aber die Vernachlässigung dessen, was
ich gelernt hatte, war jetzt mein geringstes Problem. Das wurde mir so plötzlich klar, dass es schon fast gespenstisch schien. Mit einem Mal waren auch meine Gedanken wieder geordnet und ich machte mich für den Kampf bereit.
Ich griff den Stock fest mit beiden Händen. Mein Messer würde mir nicht helfen, dass wusste ich. Auf den Kampf mit Zweihandwaffen war ich im Grunde nicht spezialisiert, doch ich hatte auch ein wenig Übung darin. Kaum hatte ich mich für den Kampf bereit gemacht, da fielen sie über mich her.
Acht waren es. Was für ein seltsamer Zufall. Hatte nicht Chionia vor noch
nicht allzu langer Zeit behauptet, dass ich es auch mit acht Männern gleichzeitig aufnehmen könnte? Egal. Meine Enttäuschung über den Verrat meiner Freundin musste ich in den Hintergrund stellen, wenn ich überleben wollte. Ich musste mich völlig auf den Kampf konzentrieren. Den ersten Schlag parierte ich noch ungeschickt, was daran lag, dass ich nicht darauf vorbereitet gewesen war. Dann ging es schon besser. Fast wunderte ich mich schon selbst darüber, wie gut ich mit dem Stock zurechtkam. Zwei Angreifer hatte ich bereits zu Boden geschickt. Den einen mit einem kräftigen Schlag an die Schläfe und den zweiten mit einem
Schlag zwischen die Augen. Die übrigen sechs kämpften jedoch umso verbissener weiter. Die Deckung der Fichte in meinem Rücken hatte ich aufgeben müssen. Nun prasselten von allen Seiten Schläge auf mich nieder. Einige konnte ich abwehren, anderen wiederum trafen mich hart. Ich war jedoch noch nicht bereit aufzugeben. In einer schnellen Bewegung streckte ich den Stab weit nach vorne und drehte mich auf einem Bein rundherum. Der Stock kreiste mit mir und zwei der Angreifer wurden zu Boden geworfen. Das nutzte ich aus. Ich wusste, dass ich sie nicht alle töten konnte, deshalb war meine einzige Möglichkeit zu überleben, die Flucht.
Das grämte mich zwar und meinem Stolz war ein kräftiger Dämpfer versetzt worden, doch das war mir egal. Ich wollte nicht sterben. Erst in diesem Moment wurde mir das klar. Ich liebte das Leben und war nicht bereit es herzugeben. Kämpfend konnte ich es nicht verteidigen, doch die Flucht könnte es mir ermöglichen.
Hinter mir hörte ich, wie meine Verfolger sich durch das Dickicht kämpften. Hier war ich im Vorteil. Ich war eine schnelle Läuferin und war es gewohnt über Hindernisse hinweg zu springen. Ich begann Hoffnung zu schöpfen.
Dann traf mich etwas hart am Kopf und
mir war klar, dass ich verloren hatte. Das erste Mal in meinem Leben hatte ich verloren und der Preis den ich zahlen musste würde hart sein, das wusste ich. Ich würde mit dem Kostbarsten, was ich besaß für diese Niederlage bezahlen müssen.
Mit meinem Leben.
Stimmen brachten mich in die Wirklichkeit zurück. Ruckartig riss ich die Augen auf, was meine Kopfschmerzen noch verschlimmerte. Es dauerte eine Weile, bis ich ganz zu mir kam. Das erste was ich sah, war Chionias Gesicht, die traurig auf mich herabstarrte.
Dann fiel mir alles wieder ein. Ich spuckte in das Gesicht der Frau, die ich einmal Freundin genannte hatte. Dabei achtete ich nicht darauf, dass der Großteil meines Speichels zurück auf mein Gesicht tropfte; denn ich lag. Und ich war gefesselt, an Händen und Füßen.
Immer noch traurig und bedauernd wischte sich Chionia das bisschen Speichel, das sie erreicht hatte, aus dem Gesicht.
Es tut mir Leid, aber es muss sein. Das sagte ihr Gesichtsausdruck. Bitte versteh es doch.
Aber ich verstand nicht und ich wollte auch nicht verstehen. Das einzige, was ich zu verstehen im Stande war, war, dass sie mich verraten hatte. Meine ehemals beste Freundin hatte mich verraten.
„Verräterin“, spuckte ich ihr ins Gesicht.
Leise sagte sie: „Verstehe doch. Es ist notwendig.“
„Was ist notwendig“, fragte ich ohne
meinen zornigen Ton zu ändern. Seufzend schüttelte Chionia den Kopf und trat aus meinem Blickfeld. „Es ist zu unser aller Wohl“, meinte sie und sie klang wirklich überzeugt.
Mich überzeugte sie damit keineswegs, was vielleicht auch daran lag, dass ich immer noch nicht wusste, was zu unser alle Wohl sein sollte.
„Sieh mir gefälligst ins Gesicht, wenn du mit mir sprichst!“, schrie ich aus vollem Halse. Ich hatte genug von diesem um den heißen Brei herumreden. Es sollte mir endlich jemand Rede und Antwort stehen. Mit den letzten Kräften, die ich noch zusammensammeln konnte, bäumte ich mich gegen die Fesseln auf,
versuchte mich herumzuwerfen, zog und zerrte an den groben Stricken, die mich festhielten, doch es half alles nichts.
„Wir sollten beginnen“, hörte ich eine mir unbekannte Stimme sagen.
„Sollten wir es ihr nicht erklären?“ Das war Chionia.
„Nein“, war die entschiedene Antwort.
Jemand seufzte. Dann tauchte Chionia wieder in meinem Blickfeld auf. Sie hielt ein glänzendes Messer in der Hand. Es schien scharf zu sein und war mit mir unbekannten Schriftzeichen und Symbolen versehen.
Das Messer senkte sich.
Ich bemerkte dass Chionias Hand zitterte. Nun griff sie auch noch mit der
zweiten Hand nach dem Messer. Obwohl mein Herz wild schlug und ich maßlose Angst hatte, blieb ich ruhig liegen. Ich wollte niemandem die Genugtuung geben, mich windend und weinend um Gnade flehen zu sehen. Wenn ich schon sterben musste, dann wollte ich es als Kriegerin tun.
„Hör gefälligst auf zu zittern und mach deine Sache ordentlich“, schleuderte ich Chionia entgegen, die entsetzt innehielt. Davor hatte sie offensichtlich Angst gehabt, dass ich keine Angst haben würde. Wenn sie wüsste, welche Angst ich wirklich litt. Mein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen und mein Herz schlug immer wilder, doch ich ließ
nicht zu, dass mein Gesicht meine Angst verriet.
„Bring es endlich hinter dich“, sagte ich leise ohne jede Angst in meiner Stimme. Ich fragte mich, wie ich es schaffte, das Zittern aus meiner Stimme zu verbannen, das zuvor noch auf meiner Zunge gelegen hatte.
Chionia zögerte erneut und sah sich nach jemandem um.
„Tu es endlich!“, forderte sie dieser jemand eindringlich auf.
Erneut keimte Hoffnung in mit auf und diesmal verfluchte ich mich nicht dafür. Vielleicht gelang es mir, Chionia zu überzeugen, mir doch zu helfen. Aber dann dachte ich wieder an ihren Verrat.
Verraten. Sie hatte mich bereits verraten. Sie würde mir nicht helfen. Sie war eine Verräterin. Und das sagte ich ihr dann auch.
„Verräterin. Du feige Verräterin. Wer hat dich getröstet, als du Kummer hattest? Wer hat dir schon zweimal das Leben gerettet? Wer hat dir geholfen deinen Ruf wiederherzustellen, als du einen Fehler begangen hattest? Wer hat dich nie im Stich gelassen? Wer?!“ Das letzte Wort schrie ich ihr geradezu ins Gesicht.
Ihre Miene verzerrte sich, als würde sie unglaubliche Schmerzen leiden. Dann sagte sie. „Es tut mir Leid. Ich wollte das nicht, glaube mir, aber sie haben es befohlen und man widersetzt sich ihnen
nicht. Das Wohl der Menschheit steht an vorderster Stelle. Wir müssen handeln, wenn wir die Menschheit retten wollen.“
Ich wusste nicht wieso, doch ein Grinsen trat in mein Gesicht. „Die Menschheit retten?“ Jetzt stieß ich sogar ein Lachen aus. Ein höhnisches Lachen. „Du hast mich, meine Freundschaft, verraten und jetzt willst du die Welt retten?“ Das höhnische verwandelte sich in ein hysterisches Lachen. Ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle. „Wovor, zum tiefsten Winkel des Untergrunds, willst du die Menschheit denn retten? Ihr seid bereit einen Mord zu begehen um die Menschen zu retten? Ihr seid es nicht würdig, gerettet zu
werden. Jetzt töte mich endlich, du feige Verräterin, oder hast du nicht den Mut dazu?“
Da stieß Chionia mir mit voller Wucht das Messer in die Brust. Sie hatte mein Herz verfehlt. Dann begann sie zu schneiden. Die Schmerzen waren unerträglich. Ich schrie, obwohl ich wusste, dass ich nichts daran ändern konnte.
„Wir töten dich nicht“, flüsterte mir Chionia ins Ohr, während sie mir das Herz herausschnitt.
„Wir erschaffen dich neu.“
Fremde. Um mich herum stand ein ganzer Haufen von Fremden. Nicht ein Gesicht kam mir bekannt vor. Sie unterhielten sich leise; dachten wohl ich würde schlafen. Doch ich schlief nicht. Ich schlief nie. Ich brauchte keinen Schlaf. Wozu auch?
Schließlich hatte ich genug Energie, um gleich zwei Leben damit zu leben. Obwohl ich nicht wusste, weshalb, tat ich jedoch nichts, um den Fremden klar zu machen, dass ich wach war und jedes Wort, das sie sprachen, hörte. Stattdessen lauschte ich. Ich wollte wissen, was da neben mir gesprochen
wurde. Dabei bereitete es mir keine Schwierigkeiten das Getuschel zu verstehen.
„Ist es gelungen?“, fragte ein Mann mit einem schwarzen Ziegenbart.
„Immerhin ist sie nicht tot, das ist ein gutes Zeichen“, erwiderte eine Frau mit langen hellbraunen Haaren.
„Wie lange dauert es noch, bis die Ergebnisse vorliegen?“ Ein kleiner, grauhaariger Mann hatte diese Frage gestellt. Er sah mich direkt an, trotzdem bemerkte er nicht, dass ich wach war. „Normalerweise sollten sie schon da sein. Ich weiß nicht, was die Forscherinnen aufgehalten hat.“ Das sagte wieder die Frau, dann herrschte Schweigen.
Nach wenigen Minuten begann das Getuschel erneut, als eine, mir ebenfalls unbekannte Frau mit kurzem Haar sich der Gruppe näherte. „Es ist geglückt“, sagte sie ohne die Stimme zu senken. „Ihr Körper hat das Herz angenommen. Wir sind nun im Besitz eines …“ Eine zweite Frau kam herbei geeilt und rief, noch bevor sie die Gruppe erreicht hatte: „Sie ist wach!“ Alle Gesichter wandten sich mir zu. Mir schien nun der rechte Augenblick gekommen, um mich aufzusetzen. Bei der schnellen Bewegung verschwamm alles vor meinen Augen und ich fasste mir mit beiden Händen an den Kopf. Ich hatte extreme Kopfschmerzen.
Als diese sich einigermaßen gelegt
hatten, blickte ich in die Runde und bemerkte, dass mich immer noch alle anstarrten. „Wo bin ich?“, fragte ich, nachdem ich mich flüchtig umgesehen hatte und fügte dann noch hinzu: „Wer bin ich?“
„Die Frage, Was bin ich?, wäre wohl angebrachter“, erwiderte die Frau mit den kurzen Haaren mit einem belustigten Unterton in der Stimme.
Verwirrt runzelte ich die Stirn, tat der Frau aber dann den Gefallen und fragte: „Was bin ich?“
„Du bist der erste Drachenmensch, den zu erschaffen uns gelungen ist“, meinte die Frau mit einem hörbaren Anflug von Stolz. Da sie sah, dass ich nicht
verstand, was sie meinte, fügte sie noch hinzu: „Wir haben dir ein Drachenherz implantiert. Dein Körper hat es angenommen. Jetzt müssen wir nur noch auf die Nacht warten und sehen, was passiert.“
Ein Drachenherz? Was wollten diese Menschen von mir? Konnten sie mich nicht einfach in Ruhe lassen. Schließlich fragte ich: „Und wie heiße ich?“
„Wie du heißt?“ Der kleine, grauhaarige Mann sprach mit einer eher abfällig klingenden Stimme. „Das ist uns doch egal, wie du heißt.“
„Aber ich brauche doch einen Namen“, erwiderte ich leicht verstört. „Jeder hat einen Namen.“
„Wie wäre es mit Drachenherz“, schlug die kurzhaarige Frau vor. Zustimmend nickten einige der Anwesenden, während ich den Kopf schüttelte. „Das ist doch kein Name.“
„Nein“, stimmte die Frau zu. „Da hast du recht, aber es ist genau das was du bist, was du geworden bist. Ein Mensch mit einem Drachenherz, ein Drachenmensch.“
Ich schüttelte nur weiter den Kopf. Wovon redete die Frau da eigentlich? Drachenherz? Drachenmensch? Was sollte das alles bedeuten? Ich wollte Antworten, doch ich wusste genau, dass diese Menschen sie mir nicht geben würden. Deshalb stellte ich meine
Bemühungen ein. Es würde sich schon irgendwann eine Gelegenheit ergeben. Irgendwann würde mir jemand meine Fragen beantworten. Ich wusste es.
Der Tag verstrich, ohne dass irgendetwas Interessantes vorgefallen wäre. Immer wieder kamen und gingen Menschen. Sie untersuchten mich. Meine Augen, meine Ohren, meine Arme, meine Beine. Alles. Widerstandslos ließ ich es über mich ergehen. Es hatte keinen Sinn sich zu wehren. Das wusste ich einfach.
Als man mich endlich allein ließ, war der Tag schon weit fortgeschritten. Durch ein kleines Fenster konnte ich einen Teil des Himmels sehen. Die Sonne ging bereits unter.
Der Himmel erglühte rot.
Tief in mir drin rührte sich etwas. Ich
konnte nicht sagen was es war, doch ich wusste, dass es gefährlich sein konnte. Meine Schultern begannen zu jucken. Dem maß ich jedoch keinerlei Bedeutung zu. Viel mehr beunruhigte mich, dass mein Herz schnell zu schlagen begann. Erst in diesem Moment nahm ich mein Herz überhaupt wahr. Schneller und schneller schlug es, als wolle es mir aus der Brust springen. In meinen Ohren begann das Blut zu rauschen. Doch ich hörte es nicht nur, ich spürte es auch. Es rauschte durch meine Adern und füllte mich mit einer wohligen Wärme, die sich immer mehr steigerte, bis daraus Hitze wurde. Meine Schultern juckten stärker und meine Wirbelsäule schien
plötzlich zu groß für meinen Körper zu sein. Sie drückte gegen das Fleisch auf meinem Rücken, als wolle sie es zerreißen. Da das Jucken inzwischen beinahe unerträglich geworden war, streckte ich die Hand aus um mich an der Schulter zu kratzen.
Ich stockte.
Das war keine Haut, die ich unter meinen Fingern spürte. Nur mit äußerster Anstrengung gelang es mir den Kopf so weit herumzudrehen, dass ich auf meine Schultern sehen konnte und ich erstarrte, als ich es sah.
Schuppen. Anstatt meiner Haut waren da dunkle, smaragdgrüne Schuppen.
Ich blinzelte. Das bildete ich mir doch
sicher nur ein. Doch als ich die Augen wieder öffnete, waren die Schuppen immer noch da. Schlimmer noch. Sie schienen sich auszubreiten. Über meinen ganzen Körper. Langsam wanderten sie meine Arme hinab, erreichten schließlich die Hände. Fingerglied für Fingerglied wurde mit feinen Schuppen überzogen, bis zu den Fingernägeln. Diese begannen länger zu werden, und härter. Dann krümmten sie sich, wie Krallen und nahmen eine leicht gelbliche Färbung an. All das geschah, ohne dass ich einen Laut von mir gab. Ich spürte die Verwandlung, doch es schmerzte nicht, noch nicht. Während die Schuppen meinen Körper überwucherten, spürte
ich nur ein leichtes Kribbeln, dort wo sie aus mir herauszuwachsen schienen.
Richtig unangenehm wurde es erst, als die Flügel kamen. Es begann als ein leichtes Ziehen in den Schultern, das das Jucken sofort in Vergessenheit geraten ließ. Zuerst war ich einfach nur froh, dass das Jucken nachgelassen hatte, doch schon nach wenigen Sekunden sehnte ich mich danach, das Jucken erneut zu spüren. Die Haut an meinen Schultern schien zu bersten. Auch meine Wirbelsäule schien nun endgültig die Ketten der Haut zu sprengen. Das alles geschah mit solch einer Wucht, dass ich gar nicht dazu kam zu schreien. Stattdessen stand ich einfach nur da und
atmete ruckartig und schmerzverzerrt. Jeder Atemzug brannte als würde ich Glassplitter einatmen. Dann hörte das Reißen auf und es fühlte sich nur noch so an, als würde etwas aus mir herauswachsen. Fast so wie bei den Schuppen, nur, dass es nun ungleich schmerzhafter war.
Schließlich war es vorbei. Ich keuchte immer noch und bekam auch immer noch schwer Luft, doch die Schmerzen waren einstweilen vorbei. Als auch nach mehreren Minuten nichts mehr passierte, glaubte ich schon es überstanden zu haben, was auch immer es war, doch ich hatte mich getäuscht. Ich hatte mich schwer getäuscht.
Die Verwandlung, ich wusste nicht was es sonst sein sollte, setzte nun auch in meinem Gesicht ein. Zuerst wuchsen mir auch dort nur Schuppen, wie ich durch das leichte Kribbeln feststellen konnte, doch dann riss ich plötzlich und unwillkürlich die Augen weit auf. Mir schien es, als würden sie gleich aus den Höhlen springen. Es war ein unvergleichliches, grauenhaftes Gefühl, das schlimmer als alles andere zuvor war. Ich wünschte mir nur, dass es endlich vorbei war.
Nach mehreren Minuten war es das auch. Nun sah ich alles viel schärfer als noch zuvor. Allerdings war alles in schwarz weiß. Ich konnte keine Farben
erkennen. Das verwirrte mich, allerdings nur, bis meine Zähne damit begannen sich meiner neuen Gestalt anzupassen. Ich spürte, dass sie wuchsen und spitzer wurden. Zwei der Schneidezähne schoben sich aus meinem Mund heraus und sahen nun höchst wahrscheinlich aus, wie die Fangzähne eines Säbelzahntigers. Das Wachstum meiner Zähne war noch nicht ganz abgeschlossen, als auch der Rest von mir zu wachsen begann.
Erst als ich mit dem Kopf gegen die Decke stieß, wurde mir bewusst, wie sehr ich gewachsen war. Meine Flügel (Flügel?) stießen ebenfalls an die Decke, doch ich hörte nicht auf zu wachsen.
Meine kräftigen Muskeln drückten gegen die Mauern des alten Gebäudes. Die restliche Kleidung, die noch nicht gerissen war, riss nun und fiel von mir ab. Ich benötigte sie auch nicht mehr. Meine Verwandlung war abgeschlossen.
Die Mauern barsten und ich breitete meine Flügel aus. Nun war ich kein Mensch mehr. Ich hatte die Gestalt eines Drachen angenommen. Nun war ich ein Drache, nein, ein Drachenmensch.
Drachenherz.
Ein Drachenherz schlug in meiner Brust; mein Körper hatte es angenommen. Nun verstand ich, was die Magier gemeint hatten. Ich war der erste Mensch, der seinen Körper mit dem Herzen eines
Drachen teilte, des wahren Königs der Lüfte. Eines Wesens, das Freiheit und Stärke verkörperte.
Drachenherz.
Die Luft peitschte mir ins Gesicht, doch auch bei der enormen Geschwindigkeit, mit der ich durch die Lüfte glitt, spürte ich es kaum. Es war nicht anders als ein leichter Herbstwind in einer sternenklaren Nacht.
Und die Sterne schienen so nah zu sein. War es möglich zu den Sternen zu fliegen?
Einem Menschen nicht. Auch ein Drache vermochte es nicht, doch was war mit einem Drachenmenschen, einem Drachenherz? Ich wollte es versuchen,
flog bereits den Sternen und dem Mond entgegen, als mich eine eisige Stimme zurückhielt.
„Wage es nicht weiter zu fliegen, Drachenherz! Komm zurück! Komm zu mir!“
Ich kannte diese Stimme. Obwohl ich nicht wusste, woher, folgte ich dem Befehl, musste ich dem Befehl folgen.
Im Sturzflug glitt ich auf den Menschen zu, der mich gerufen hatte. Es war eine Frau; eine junge Frau mit langem rotem Haar, das im Wind flatterte, als ich mich ihr näherte. Direkt vor ihr hielt ich an, verweilte in der Luft, da sie auf einer Mauer stand.
Mit unverhohlener Bewunderung blickte
sie mich an, sah mir in die Augen. „Es ist tatsächlich gelungen“, flüsterte sie ehrfürchtig. Völlig ruhig verharrte ich in der Luft. In meiner Drachengestalt war mir das Sprechen nicht möglich. Woher ich das wusste, konnte ich nicht sagen, doch ich war mir sicher, dass es so war.
Die Frau streckte eine Hand aus und berührte mich. Mein Herz schien im Schlag inne zu halten, schien zu erstarren. Ich wusste nicht wie mir geschah. Eine Erinnerung durchflutete mein Gedächtnis, mit der ich im ersten Moment nichts anfangen konnte.
Eine junge Frau an einen Altar gefesselt, während eine andere Frau ihr das Herz aus dem Leib schnitt, eben jene Frau mit
den langen roten Haaren, deren Hand auf meinen Schuppen ruhte. Dann sah ich ihn, einen Drachen. Feuerrot war er und seine Schuppen reflektierten das Sternenlicht. Der Drache war nicht sehr alt. Vielleicht fünfzig, sechzig Jahre, das wusste ich, mein Instinkt sagte es mir. Die Frau mit den roten Haaren tauchte in meinem Blickfeld auf. Ihre Hände waren blutverschmiert, ihr Gesicht weiß wie die Federn einer Friedenstaube. Der Drache bäumte sich auf, doch dicke Stricke hielten ihn am Boden fest.
Die Frau trat vor. In ihren blutverschmierten Händen blitzte ein ebenso blutverschmiertes Messer auf. Bedächtig schritt die Frau auf den
Drachen zu. Sie stand direkt vor ihm, zwischen seinen riesigen Vorderbeinen.
Dann stieß sie ihm das Messer in den Körper.
Das Herz eines Drachen liegt nicht wie beim Menschen, nahe am Hals, sondern nahe an den Beinen. Die Rothaarige wusste das. Zielsicher schnitt sie nun auch dem Drachen das Herz heraus.
Drachenherz.
Dann ging sie zurück zu der gefesselten Frau, die sich nicht mehr regte. Um die Frau herum standen Magierinnen. Viele Magierinnen. Mehr als ich zählen konnte. Die Lippen der Rothaarigen bewegten sich als sie der Frau das Drachenherz in die Brust legte.
Mein Herz. Mein Körper. Ich verstand.
Drachenherz.
Die Bilder verschwanden, doch die Erinnerung blieb. Die Frau stand wieder vor mir. Die Rothaarige, die mir das angetan hatte. Mir und dem Drachen. Uns. Für mich war das nun ein und dasselbe. Ich war sowohl die Frau auf dem Altar als auch der feuerrote Drache. Mein Körper hatte das Herz des Drachen angenommen und war damit verschmolzen. Nun waren wir eins.
Drachenherz.
In diesem Moment dachte ich nur noch an eins.
Rache.
Mir schien es, als hätte ich die Gestalt
des Drachen nur angenommen, um Rache zu üben an dieser Frau, die mein, unser Leben, zerstört hatte. Und wozu? Diese Frage quälte mich. Ich warf meinen Kopf in den Nacken und stieß eine Feuerfontäne in den Himmel. Wozu das alles?
Hass drohte mich zu übermannen. Hass auf die Frau, die mein Leben zerstört hatte. Woher hatte sie das Recht dazu genommen?
Aber da war etwas, das viel schlimmer war als der Hass, der grenzenlose Zorn.
Schmerz.
Diese Frau hatte mich verraten. Das wurde mir von einem Moment auf den anderen klar. Ich wusste nicht, wie sie
mich verraten hatte, doch sie hatte es getan und sie spürte keine Reue.
Ich spürte wie ich innerlich zerbrach. Diese Frau hatte mich gebrochen. Ich wusste es und ich würde mich rächen. Ich sah ihr in die Augen. Angst stand darin. Sie wusste dass ich sie töten würde, für das, was sie mir angetan hatte.
Doch dann traf mich die Erkenntnis so plötzlich als hätte ein Blitz eingeschlagen. Ich hatte angenommen zu wissen, was hier vor sich ging, doch das war falsch, völlig falsch.
Drachenherz.
Ich wusste gar nichts. Mein Herz, das Drachenherz, hörte auf zu schlagen und
ich fiel. Die Frau, die mein Leben zerstört hatte, verschwand aus meinem Blickfeld.
Mord war nichts anderes als Verrat an sich selbst.
Rache konnte viel leichter genommen werden.
Durch Schuld.
Die Rothaarige wusste, was sie mir angetan hatte. Und dieses Wissen fraß sie innerlich auf. Ihr ganzes Leben lang würde sie dieses Wissen mit sich herumschleppen.
Das war Rache.
Die Rache eines Drachen, eines Drachenmenschen.
Drachenherz.
Nun war ich frei. Wahrlich frei. Frei im Tod. Ein Mensch in dessen Brust ein Drachenherz geschlagen hatte. Allein für diese Erfahrung hatte sich mein Leben gelohnt.
Und so nahm ich mein Schicksal klaglos an.
© Fianna 2009
Fianna Hallo, freut mich, dass dir die Geschichte gefällt. Fortsetzung gibt es noch keine, da ich das Ganze ursprünglich als Kurzgeschichte in mehreren Teilen angelegt hatte, aber was noch nicht ist, kann ja noch werden. Ps. Falls du generell Geschichten mit Drachen magst, könntest du in meinen Roman "Der Weg des Limaren" (kapitelweise hier veröffentlicht) reinlesen. Danke für's Lesen, Kommentieren und den Favo! Liebe Grüße Anna |
Ryvais Hey! Eine tolle Geschichte mit einem wirklich überraschenden Ende. Einen Kritikpunkt hätte ich allerdings noch: Ich bin zwar keine Expertin, hab aber mal gehört, dass ein Kampf in den meisten Fällen nur Sekunden dauert, selten länger als zwei Minuten. Du schreibst zwar, dass sie eigentlich nur mit ihren Gegnern spielt, trotzdem halte ich einen Kampf von mehreren Stunden für unwahrscheinlich. Etwas irritiert hat mich auch, dass Ariane sofort wusste, dass Chionia sie verraten hat - es könnte ja auch sein, dass ihre Freundin ebenfalls gefangen genommen wurde. Auch, dass sie aus ihrer Niederlage den Schluss zieht, dass sie sterben muss - was insofern nicht logisch ist, als jemand, der sie töten wollte, sie vermutlich nicht erst bewusstlos schlagen würde. Sonst fand ich die Geschichte aber wirklich top. Lg, Ryvais |