Sie blinzelte verschlafen. Also... sie tat so, als würde sie verschlafen blinzeln. Niemand brauchte zu wissen, dass sie schon seit Stunden wach lag. Oder vielleicht auch gar nicht geschlafen hatte. Das war unwichtig. Sie lächelte zufrieden, als er wieder hinaus ging. Ihm war nichts aufgefallen. Sie streckte sich noch einmal. Der heutige Tag würde bestimmt besser werden, als der vergangene. Und der davor. Und der davor. Da fing das Ganze Drama an. Da begannen sich die Dinge ineinander zu verhaken, so dass sie den Überblick verlor. Was zu schlaflosen Nächten führte, zu zittrigen Händen und lähmender Müdigkeit. Sie schielte zum Nachttisch. Die Flasche stand immer noch da. Halbleer. Sie schüttelte den Kopf, dachte kurz darüber nach, dass das ein gefährliches Spiel sein könnte. Man weiss ja eigentlich, wie schnell es geht und man ist Alkoholiker. Beim nächsten Gedanken grinste sie in sich hinein. "Mir geschieht das nicht!", wer dachte das nicht? Jeder denkt doch, dass er alles im Griff hat und das... das völlig irrelevant ist. Den Gang unter die Dusche liess sie aus. Sie hatte keine Lust nass zu werden. Müde tappte sie in die Küche, schaltete die Kaffeemaschine an. "Nimm dich zusammen!", schimpfte sie sich leise. Mit den Händen schlug sie sich ein paar mal sachte gegen die Wange, formte dabei ihre Lippen zu einem imaginären Kuss, riss die Augen auf und war sich bewusst, welch komisches Bild sie gerade abgab. Zum Glück konnte sich in diesem Haus keiner wirklich anschleichen. Die Holzböden knarrten bei jedem Schritt. Deshalb hatte sie das Haus geliebt.
Das Licht bei der Kaffemaschine ging an. Sie schob eine Tasse darunter, drückte, schüttete Zucker hinein und leerte Milch nach. Mit der Tasse in der Hand setzte sie sich auf die Terrasse hinaus. Es war schon warm. Obwohl der Himmel bedeckt war. Ihr Handy fiepte. Sie zog erstaunt die Augenbraue hoch. "Wer schreibt um viertel nach sechs schon Nachrichten?" - sie tippte auf das Display. Die Nummer kannte sie. Die Nummer, die sie vor ein paar Tagen gelöscht hatte. Die Nummer die sie nicht mehr auf ihrem Handy haben wollte. Genau die Nummer. Die Neugierde war stärker als ihr Verstand. Sie überhörte sämtliche Alarmglocken und öffnete die Nachricht. "Ich liebe dich."
"Oh!", entfuhr es ihr. Entsetzt starrte sie die drei Worte an. Sie verschwammen vor ihren Augen. Blinzelnd legte sie das Handy zurück auf den Glastisch, beäugte es skeptisch. Es fiepte. Kopfschüttelnd nahm sie es wieder in die Hand. Ihre Freundin. "Auch schon so früh?", sie runzelte die Stirn. "Ich bin gegangen. Gestern abend. Habe die Kinder bei mir. Ruf dich später an. lg". Sie las die Nachricht mehrmals, bevor der Sinn in ihrem Verstand ankam. Sie sah in den Himmel hinauf. "Was ist los?", fragte sie laut. "Sind denn alle verrückt geworden?", sie spürte, wie es in ihrem Bauch einen Knoten gab. Wie die Wut langsam Oberhand gewann.
Zuerst verlor sie ihre grosse Liebe. Dann verlor ihre Freundin ihr Baby. Im achten Monat. Dann verlor ihre Schwester ihren Job. Dann brachte man den zweijährigen Sohn ihrer zweiten Schwester mit einem Schädelbruch ins Krankenhaus. Dann verbrachte sie einen Tag in ihrem Bett. Bewegte sich nicht, ass nichts, trank nichts - starrte einfach nur die Wand an. Sie konnte sich nicht erinnern, wie die Zeit verging. Und besser fühlte sie sich sowieso nicht. Klar, das ging sie alles gar nichts an. Rein Theoretisch. Und es waren auch nicht die Dinge, über die sie nachdachte, wenn sie wach im Bett lag. Und doch - hingen all diese Dinge über ihr. Nahmen sie mit, saugten sie aus. Die Sorge um den Jungen, und ihre Freundin - ihre Schwester. Sie machte sich Sorgen.
Und nun das. Eine Liebeserklärung und eine Scheidung. Beides nicht nötig und irgendwie völlig surreal. "Warum schreibt er mir, wenn...", sie hielt inne. Nein, das waren genau die Gedanken, die sie gerade nicht brauchen konnte. Plötzlich schreckte sie hoch. Sie musste die Kinder wecken gehen!
Zwei Stunden später sass sie in ihrem Büro und arbeitete an dem Projekt weiter, das sie vor Monaten begonnen hatte. Das sie beiseite gelegt hatte, weil das Leben gerade so lockte. Mit Spass und Sonne und all dem Zeug, was halt dazu gehört. Sie sah versonnen aus dem Fenster. Wie weit zurück das lag. In ihren Gedanken. In ihrem Kalender waren es zwei Wochen. Da war noch alles gut. Alle waren glücklich. Na ja, das könnte ein Irrtum gewesen sein. Aber sie war glücklich. Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie die Gedanken wegschütteln. Ihr Blick glitt wieder zum Bildschirm - "ich habe zu tun!", murmelte sie und begann zu arbeiten. Sie vergass die Zeit. Sie vergass das Leben. Bis die Kinder hungrig nach Hause kamen und sie nichts zu essen gekocht hatte. Während sie etwas Schnelles kochte, lächelte sie zufrieden vor sich hin. Sie hatte es geschafft, für ein paar Stunden - "Stop!", mahnte sie sich. "Nicht weiter denken!".
Ihr Handy fiepte.
"Ich will nicht von dir getrennt sein. Ich will unsere Träume nicht vergessen!"
Sie schnitt sich in den Finger. Danach. Nachdem sie die Nachricht gelesen, das Handy auf den Tisch geknallt hatte und unbedingt noch Karotten schneiden musste. Sie fluchte leise vor sich hin. Nicht sicher, welchen Umstand sie gerade verfluchte. Aber es tat gut.
"Mooom!", ihr Sohn kam in die Küche. "Ich habe schon wieder Strafaufgaben. Acht Stück bis Freitagmorgen."
"Es ist Dienstagmittag!", rief sie aus. Er nickte. "Schreiben?", fragte sie. Er nickte. Dann erzählte er, wie er zu diesen Strafen gekommen war. Und ihr gefiel die Geschichte gar nicht. Was er ihr erzählte brüllte direkt vor Ungerechtigkeit. Sie hörte ihm schweigend zu. Richtete das Essen auf die Teller an, hörte zu, trug die Teller ins Esszimmer, hörte zu, setzte sich hin - und er war fertig mit Erzählen. Sie wünschte allen einen guten Appetitt und hätte am Liebsten in den Teller gekotzt. "Die sind alle einfach verrückt geworden!", dachte sie. Überlegte Fieberhaft, was sie tun konnte - was würde wie eine Flut wirken und was wie eine Ebbe?
Nach dem Essen wusch sie das Geschirr, trocknete alles ab, verräumte es. "Was tust du da?", fragte ihre Tochter. "Ich wasche ab!", antwortete sie. "Aber wir haben doch eine Maschine?". Sie zuckte die Schulter. Das war ihr durchaus bewusst, dass sie eine Maschine hatten. Aber sie musste irgendetwas tun. Der Abwasch bot sich gerade an. Doch wohin nun? Es würde noch ein bisschen dauern, bis zur Arbeit fahren musste. Und rauchen wollte sie nicht schon wieder. So begann sie, die Küchenschränke auszuräumen. "Mom? Gehts dir gut?", fragte ihr Sohn zweifelnd. Sie fuhr herum, "NEIN!", schrie sie. Er zuckte erschrocken zusammen. Sie entschuldigte sich sofort bei ihm. "Du kannst nichts dafür! Es geht mir nicht gut, aber das hat nichts mit dir zu tun!", er sah sie forschend an. Den Blick mochte sie nicht. Das war der ich-sehe-in-dich-hinein-Blick. Den hatte er echt drauf. Er sah wirklich hinein. Und kommentierte das Gesehene meistens. Dieses Mal schwieg er. Sah sie einfach nur an, mit schiefgelegtem Kopf. Drehte sich um und ging zur Schule.
Ihr Handy fiepte.
"Er hat mir das Konto gesperrt! Ich kann nirgends mehr Geld holen. Und er will morgen die Kinder sehen. Er droht, wenn er sie nicht sehen kann, dass er mich anzeigt wegen Entführung. Bin in Sicherheit. Mach dir keine Sorgen."
Keine Sorgen machen. Gute Idee. Ihre Freundin war irgendwo, hatte kein Geld und zwei Kleine Kinder bei sich. Und sie soll sich keine Sorgen machen.
Ihr Handy fiepte.
"Lass uns nochmal neu anfangen... Bitte. Ich liebe dich!!!!!!"
Sie schmiss ihr Handy mit voller Wucht an die nächste Wand. Es gab ein wimmerndes Geräusch von sich, von dem sie sich klar war, dass sie sich das gerade eingebildet hatte, und fiel dann in mehreren Teilen auf den Boden. Sie kickte das Gehäuse, das vor ihrem Fuss gelandet war, durch die Küche und schickte einen Fluch hinten nach. In ihrem Kopf explodierte ein Flugzeug - ein Flugzeug deshalb, weil es schon seit Stunden in ihrem Kopf herum brummte. Lichtpunkte tanzten vor ihren Augen und sie ärgerte sich wieder einmal darüber, dass sie so... so menschlich war. Fehlerhaft. Sie liess sich auf den Boden sinken, legte ihr Gesicht in ihre Hände und beschloss, nicht zur Arbeit zu gehen. Nirgendwohin. Einfach nur hier sitzen. Und warten. Auf die Erleuchtung?
Die kam. Urplötzlich. Sie richtete sich auf. Blinzelte weil es hell war. Dann erhob sie sich, ging in ihr Zimmer. Die Reisetasche stand immer noch da. Leer. Aber nicht mehr lange. Sie stopfte wahllos Dinge hinein, von denen sie annahm, sie zu brauchen, zog den Verschluss zu, sah sich im Zimmer um und ging raus. Mit der Tasche. Kurze Zeit verliess sie das Haus. Stieg in ihr kleines Auto, fuhr los. Sah noch einmal zurück, lächelte und bog ab.
"Guten Tag!", sagte die hübsche junge Frau am Empfang. "Was kann ich für Sie tun?"
"Guten Tag!", antwortete sie freundlich, "ich möchte mich gerne einweisen. Sofort."
"Dafür müssten Sie zuerst mit einem Arzt sprechen."
"Ja. Das ist mir durchaus klar. Ich möchte das. Jetzt."
"Sind Sie eine Gefahr für sich oder Ihre Umwelt?"
"Ja. Sehen Sie zu, dass ein Arzt Zeit hat für mich. Jetzt! Ich muss ausbrechen!"