Sie lag auf dem Sofa, die Augen weit offen, einen Punkt fixierend. Wie eine Statue. Still, regungslos. Ihr Gesicht eine trügerisch entspannte in Stein gemeisselte Maske. Sie war alleine zu Hause, es war still. Das einzige Geräusch, das sie ertragen konnte. Stille.
Eigentlich lag sie nie hier. Ihr war klar, weshalb sie es heute tat. Ausgerechnet in diesem Raum. Der einzige Raum im Haus, der nicht ihre Handschrift trug. Nicht ein einziges Stück hier drin gehörte ihr, hier war nichts, was verraten hätte, dass sie in diesem Haus lebte. Deshalb lag sie hier. Keine Erinnerungen, keine Fotos – nur all die Dinge, die Männer und Kinder glücklich machten.
Sie starrte aus dem Fenster direkt an eine Efeuüberwucherte Holzwand. Sie sah nicht das Grün. Nicht das Leben. Nur das Loch. Das schwarze Loch. Schon seit Stunden lag sie hier. Seit das Feuer unten im Garten in der Feuerschale gelöscht war. Die Asche war immer noch heiss – doch das, was die Asche einst war, war vernichtet. Sie lenkte ihre Gedanken immer wieder weg von allem, was noch gestern war. Was vor gestern war. Sie dachte an die Zukunft. Dachte darüber nach, ob sie vielleicht doch verreisen sollte. Ob sie weglaufen sollte. Oder hier bleiben und ihre Aufgaben erfüllen. Die Aufgaben einer berufstätigen Mutter und Ehefrau. Sie dachte an ihre Arbeit, dachte an all die Menschen. Daran, ob sie den Vertrag wirklich noch einmal unterschreiben wollte. Ob sie überhaupt irgendetwas wollte. Ausser hier liegen. So lange, bis sie sterben würde. Ihre Gedanken irrten um die Frage herum, wie lange sie wohl liegen bleiben müsste – wie lange es dauern würde, bis sie den letzten Atemzug machen würde. So lange waren die anderen nicht weg. Leider.
Sie glitt wieder zurück in die Gegenwart. Vor der Tür in die Vergangenheit blieb sie stehen. Sie kaute auf der Innenseite ihrer Wange herum. Der Schmerz beruhigte sie ein wenig. Und der leere Magen protestierte mit Krampfwellen, die er in den ganzen Körper aussandte. Ein Lächeln zog über ihr Gesicht, erreichte aber ihre Augen nicht. Das Lächeln war hart und kalt. Es gehörte ihm, ihrem Körper, der brav zeigte, dass sie noch lebte – und ihrem Herzen, das immer noch schlug, obwohl sie es gebeten hatte, damit aufzuhören. Sie stellte sich vor, wie sie ihre Brust aufschneiden würde, das Herz heraus reissen und mit ihm schimpfen. Weil es einfach nicht gehorchen wollte. „Dummes Herz!“, sagte sie laut in die Stille hinein. „Dummes, dummes Herz!“, wiederholte sie nach ein paar Atemzügen. Sie fragte sich, wie lange sie wohl den Atem anhalten müsste – ihre Augen fixierten immer noch das schwarze Loch im Efeu. Immer noch lag sie regungslos – still. Ihr Mund öffnete sich. „Oder doch die Brücke?“, fragte sie sich selbst. Dafür hätte sie aufstehen müssen. Raus gehen. Auch für den Zug.
Aufstehen. Ihr war klar, dass sie aufstehen musste. Irgendwann. Für den nächsten Tag. Schon für die nächste Stunde. Bald würden wieder Kinderstimmen um sie herum schwirren. Die Männerstimme, mit all dem unnötigen Geplauder, an das sie sich später auch noch erinnern sollte. „Wichtige Informationen!“, ihre Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. Als ob sie dafür Platz in ihrem Kopf hätte. Das künstliche Lachen, das überflüssige, übertriebene Lachen dieser Männerstimme – sie hasste es. Bald würden sie kommen. Und sie lag einfach nur da.
Plötzlich schoss sie hoch, sprang auf und lief in ihr Zimmer. Sie hatte die Fotos und die Karten vergessen. Da war auch noch ein Tagebuch – das einzige, das sie nicht verbrannt hatte heute Morgen… sie riss alles herunter und heraus, lief mit dem Stapel in die Küche um es in den Abfall zu werfen. Als hätte jemand mit einem überdimensionalen Hammer in ihren Magen geschlagen, sackte sie zusammen, rang nach Luft – „sterbe ich jetzt?“, fragte sie sich. Sie starb nicht. Stattdessen stürzten Tränen aus ihren Augen, ein Schrei drang aus ihrem Mund. Sie hielt verwundert inne. Das Geräusch zerriss die Stille um sie herum. Sie liess den Stapel fallen wie eine heisse Kartoffel, starrte ihn durch den Tränenschleier hindurch an. „Warum weinst du jetzt?“, fragte sie sich selbst. Kopfschüttelnd rappelte sie sich auf, griff nach den verstreuten Sachen, warf sie emotionslos in den Abfall, verliess die Küche und legte sich wieder auf das Sofa. Ihre Augen fanden das schwarze Loch, Krampfwellen schlugen durch ihren Körper, sie zitterte am ganzen Körper, ihr Gesicht war nass.
Sie wühlte sich in die schwarze Tiefe – langsam ebbte der Sturm wieder ab. Ihre Gedanken machten sich erneut auf den Weg. Sie liess ihnen keinen Raum. Sie weigerte sich, an gestern zu denken. Sie weigerte sich standhaft, lenkte sie wieder auf die Frage zurück, wie sie ohne grosses Aufsehen sterben könnte. Wer sie finden würde – dass sie das niemandem antun wollte. Schon gar nicht ihren Kindern. Sie musste eine Möglichkeit finden, unauffällig und völlig natürlich zu sterben. So schnell wie nur möglich. „Warum darf ich nicht jetzt?“, fragte sie in die Stille hinein. Fragte das schwarze Loch. „Ich wär gerade sehr dankbar und vor allem sehr bereit dafür!“, es klang wütend, aber auch bettelnd. Ihre eigene Stimme war ihr fremd. Sie runzelte die Stirn. Dann lag sie wieder wie eine in Stein gemeisselte Statue – die Augen weit offen.
Als die vertrauten Stimmen um sie herum schwirrten wie Fliegen, stand sie in der Küche und kochte. Sie betrachtete ihre Hände. Die taten einfach. Was, das kam nicht in ihrem Hirn an. Dafür war sie fast schon dankbar. Für die Hände, die einfach taten was zu tun war. Für die Beine, die sie trugen wohin sie musste. Erstaunt stellte sie fest, dass sie sogar redete. Sie richtete den Tisch, stellte das Essen darauf – „ich habe keinen Hunger, mir ist es einfach zu heiss“, hörte sie sich sagen. Krampfwellen starteten die Meuterei in ihrem Magen. Ohne Regung liess sie die Wellen ihren Körper fluten. Setzte sich an den Tisch und sah zu, wie die Anderen assen. Ignorierte das wütende Knurren im Bauch und das Hämmern im Kopf. Sie rührte nichts an. Nicht einmal das Glas.
Alle redeten. Sie nickte, lächelte, hörte sich Antworten geben. Das erstaunte und verwirrte sie. Wie konnte sie dem Gespräch folgen und doch nicht anwesend sein? Unauffällig sah sie sich um. Es hätte sie nicht überrascht, wenn sie sich selbst gesehen hätte. Stattdessen wurde ihr klar, während sie gerade über den Sonntagsausflug sprach, dass sie immer noch in ihrem schmerzenden Körper war.
Der Nachmittag glitt in den Abend. Sie ging auf das Trampolin auf dem sie seit zwei Jahren nicht mehr war. Verletzungsbedingt. Hüpfte zwei Stunden darauf herum. Sie ging wieder rein, betrank sich – und redete, funktionierte wie immer. Sie legte sich ins Bett, ignorierte jegliche SMS von Freunden und schlief ein. Für ein paar Stunden war alles in Ordnung.
Aufwachen. Ignorieren. Funktionieren.
Das war ihr Plan. Sie legte sich in die Sonne, ging wieder auf das Trampolin bis ihr Körper streikte. Rückenschmerzen, das kaputte Fussgelenk knackte bei jedem Sprung – die Schmerzen stachen, explodierten – in ihr tobte ein Inferno. Der Hunger brannte in ihren Eingeweiden, ihr wundes Herz bettelte um Gnade. Sie ignorierte beide. Machte weiter. Mit Leben. Liess sich von ihren Kindern überreden, etwas zu Essen. Sie sagten zwar nichts, doch in den Augen konnte sie es sehen. Sie machten sich Sorgen. Fanden es nicht gut, dass ihre Mutter gar nichts essen wollte. Sie ass. Und fiel dann erschöpft ins Bett. Am helllichten Tag. Übersah absichtlich die leeren Stellen an den Wänden und im Gestell – glitt in einen unruhigen Schlaf mit wirren Träumen.
Erwachte wieder und wusste, der Schmerz, der körperliche Schmerz war noch nicht gross genug, den seelischen zu überdecken. Die Leere in ihrem Kopf war noch nicht gross genug, um die Tür zu vorgestern und allem davor zu zu drücken. Nassgeschwitzt, zitternd vor Anstrengung, lag sie auf dem Bett. Die Augen fest geschlossen. Lichtpunkte tanzten. Als ein Bild auftauchen wollte, riss sie die Augen auf. Sie wollte diesen Bildern, diesen Erinnerungen keinen Raum geben. Sie wollte diese verdammte Tür nicht öffnen. Sie wollte nicht weinen. Dem Schmerz Tränen geben? Wozu?
In ihren Ohren brandete das Blut, dann bohrten sich hässliche, grosse Nadeln in ihr Trommelfell. Sie erinnerte sich, schon in der Nacht diesen Schmerz gespürt zu haben. Für einen Moment wurde es schwarz – aber das Licht ging sofort wieder an. Sie lachte bitter auf. Dann krabbelte sie aus dem Bett und stellte erleichtert fest, dass alle weg waren. Irgendwo. Es war ihr egal. Ihr Fussgelenk schien zu explodieren, als sie auftrat. Zufrieden grinste sie und trat noch fester auf. Heisse Blitze erreichten ihr Hirn. Sie lebte. Immer noch.
Sie griff nach dem geschenkten Buch, das sie vor Stunden unter dem Kirschbaum zu lesen begonnen hatte. Las, wie jemand ihre Träume gelebt hat und immer noch lebt. Entnervt schlug sie es wieder zu, ohne ein Buchzeichen hinein zu legen. Ihr Magen krampfte, ihr Gedärme rebellierte. Sie leerte Kaffee darüber. „Musik“, dachte sie. Die Ohrstöpsel bohrten sich in den Schmerz hinein – bis sie es nicht mehr ertrug und sie wieder heraus riss. Sie brummte irgendetwas, das sie selbst nicht verstand und machte einen weiteren Kaffee. Tigerte mit der Tasse in der Hand herum – entfernte Erinnerungsstücke ohne mit der Wimper zu zucken. Fragte sich, wie sie noch leben konnte und sich dabei so tot zu fühlen.
Donnergrollen. Massige Wolkenberge. Irrationale Hoffnung und der vergebliche Gang ins Zimmer. Vergeblich, weil die Hoffnung mit einem Blick auf das Display gekillt wurde. Vergeblich, weil die Leere an den Wänden um ein Haar die Tür zur Erinnerung aufgestossen hätte. Vergeblich weil Gehen lebend bedeutete. „Wohin?“, schrie ihr Herz, „wo-hin?“ – „Auf’s Klo!“, schrie ihr Gedärme zurück. Es spie Feuer. Alles brennt. Der Fuss, der Rücken, die Schultern, der Magen – das Herz erreicht das Feuer aber nicht. Das ist zugefroren, verpackt in luftdichten, schwarzen Plastik. Wenn dieser Plastik Feuer fängt – bleibt nichts, als ein schwarzer, harter, stinkender Klumpen.
„Tote weinen nicht!“, sagt sie sich immer wieder. Um sich daran zu erinnern, dass sie nicht mehr leben will. Und daran, die Türe nicht zu öffnen. Denn, das weiss sie mit Sicherheit, würde die Türe aufgehen, könnte nichts mehr die Flut aufhalten. Die Flut, die sie herumschleudern würde, an die Wand klatschen – aber nicht umbringen.
Wenn sie sich sagt, dass Tote nicht weinen, gibt sie ihrem Körper die Möglichkeit, endlich zu verstehen, dass sie selbst Tot ist. Seit dem Moment in dem sie die Türe verschlossen hatte. Vorgestern. Was davor war – gehörte nicht mehr zu ihr. Und die lästige Hoffnung wird sie auch noch zum Schweigen bringen. Tote weinen nicht. Und sie ist tot.