Türkischer Kaffee, mächtige Piraten und sterbende Kebabs
Mit gebeugtem Rücken ließ die Schwester den Mopp über das dunkle Linoleum des zugigen Ganges gleiten. Offenbar war auf ihrem Wägelchen eine Kaffeekanne umgekippt, und sie war nun dabei, die große braune Lache vom Boden aufzuwischen. Als ich, vermutlich nicht weniger gebeugt als sie, an ihr vorbeiging, Pardon, schlurfte, blickte sie auf und sah mich an. Ich war mir nicht sicher, ob ihr Blick etwas Abfälliges an sich hatte oder schlicht Mitleid aus ihren Augen sprach, doch fühlte ich mich sehr unbehaglich. Ich zog meinen Morgenmantel etwas fester. Mir war kalt und jetzt erst recht.
Nachdem ich mich zurück ins Bett fallen lassen hatte, spürte ich, dass mein Herz raste. Vor noch gar nicht langer Zeit war ich den Marathon gelaufen. Einmal, hatte ich immer gesagt, würde ich dabei sein. Nur ein einziges Mal. Ich war dabei gewesen, hatte mir den kleinen Traum erfüllt, hatte durchgehalten und am Ende meine Medaille geküsst. Wie schnell die Dinge sich doch ändern können, nicht wahr?
Meine Augen wanderten über die weiße Zimmerdecke, glitten an den kargen Wänden hinab und schweiften durch den spärlich eingerichteten Raum. Zwei Betten, davon eines leer. Keine Pflanzen. In der Mitte des hing eine schmucklose weiße Lampe von der Decke, an einer der Wände befanden sich ein kleines Waschbecken sowie ein bereits matt gewordener Spiegel.
Eigentlich wollte ich schlafen, sollte schlafen. Einen ganzen Winterschlaf hätte ich halten können, doch mein vor Anstrengung rasendes Herz ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Dabei hatte ich noch nicht einmal etwas von dem Kaffee getrunken, dessen Rest die Schwester eben auf dem Gang verschüttet hatte. Das war auch mal anders gewesen. Wie so vieles anders gewesen war. Alles war irgendwie anders gewesen. Als wäre ich von einer Welt in eine andere hinübergedriftet. Ganz langsam, so dass ich es nicht einmal bewusst bemerkt hatte.
Damals hatte es viel Kaffee in meinem Leben gegeben. Ein wahrer Junkie war ich gewesen, wenn‘s um das schwarze Gold ging. Schlagartig fiel mir dieser Tag ein, dieser seltsame Tag, der nicht einmal außergewöhnlich gewesen war und der doch wie eine alte Filmrolle in meinem Kopf abgelegt zu sein scheint und den ich immer wieder abspielen kann,. so als wäre alles erst gestern gewesen.
Ich stand in unserer WG-Küche und hielt diesen Kunststoffkaffeefilter in den Händen, in den man die Filtertüten einlegt. Unsere Kaffeemaschine hatte es wieder einmal erwischt, doch Not macht ja bekanntlich erfinderisch, und so machten wir das Beste aus den Einzelteilen der Maschine.
»Hätten wir mal gleich so eine Pads-Maschine gekauft«, murrte ich und musste doch grinsen. Ich hielt dieses Filterding über die Kaffeekanne, während mein Mitbewohner Axel neben mir stand und von oben heißes Wasser in den Filter laufen ließ. Nur in die viel zu weite Hose seines Schlafanzugs gekleidet, stand er da, das Gesicht vor Anstrengung verzerrt, als wäre er gerade dabei, eine komplizierte Rechenaufgabe zu lösen. In seinem Mundwinkel brannte eine Zigarette herunter, während er das Wasser langsam in den Filter goss und dabei darauf achtete, mir nichts davon über die Finger zu schütten.
»Und was würden wir dann jetzt machen, wenn die scheiß Pads-Maschine kaputtgegangen wäre?«, nuschelte er durch seinen halbgeschlossenen Mund, während seine Kippe auf und ab wippte. »Hätten wir dann den Kaffee aus den Pads rausgepresst, ja?«
»Pads-Maschinen gehen nicht so schnell kaputt wie die miesen Klappergestelle, die du jedes Mal anschleppst«, ätzte ich zurück.
»Die gehen genauso schnell kaputt. Und außerdem ist das hier doch jetzt sowas wie türkischer Kaffee. Das wird toll«, sagte Axel ohne jeglichen Anflug von Begeisterung in seiner Stimme.
»Nein, es wird widerlich!«, pöbelte ich ihn an und musste schlagartig lachen.
»Wird es nicht. Und jetzt halt die Schnauze und halt das Ding still. Wenn du so blöd lachst, kipp ich dir den heißen Scheiß noch über die Pfoten.«
Fast hätte ich mir vor Lachen in die Hosen gemacht. Ich stand einfach nur da, hatte die Beine bereits gekreuzt, weil meine Blase so voll war, und hielt diesen blöden Filter. Ich konnte nicht aufhören zu lachen, während Axel weitergoss.
»Mach hin, ich muss pissen!«, schrie ich ihn an. »Und wenn ich das plätschernde Geräusch weiter hören muss, dann kannst du gleich noch den Fußboden wischen.«
Jetzt musste auch er lachen. Seine Zigarette fiel ihm aus dem Mundwinkel und wäre beinahe auf seinem nackten Fuß gelandet. Am Ende hielten wir uns vor Lachen die schmerzenden Bäuche. Eigentlich viel zu viel Action für einen einzigen Morgen. Und doch wusste ich in dem Augenblick, in dem ich so sehr lachte, dass ich kaum mehr Luft bekam, dass dies einer der Tage werden würde, für die es sich lohnte zu leben. Einer dieser Tage, die irgendwie haften bleiben würden, so einfach und unspektakulär sie ansonsten auch sein mochten. Es war einer jener Tage, die man auskosten musste, so gut es ging, das wusste ich. Und ich hatte Recht!
Ich beschloss nach dem Mittagessen, mit Elaine Schluss zu machen. Für einen Augenblick kam mir das wie ein spontaner Anflug von Wahnwitz vor, wie eine Kurzschlussreaktion. Doch das war es nicht. Unsere Beziehung hatte ihre besten Tage einfach hinter sich, und wenn ich mit jemandem auf der Couch hocken und fernsehen wollte, dann konnte ich auch zu Axel rübergehen. Der hatte wenigstens Bier im Kühlschrank.
Keine Frage, Elaine und ich hatten eine schöne Zeit zusammen gehabt, und ich denke noch heute gern an sie zurück und auch daran, wie sie und ich uns kennengelernt haben.
Elaine war eines dieser Unverhofft-kommt-oft-Mädchen gewesen. An jenem Abend, als wir uns das erste Mal sahen, hatte ich so etwas wie ein Blind Date mit einem Mädchen namens Janine. Nein, Jenny hieß sie. Sie und ich, wir hatten uns spontan übers Internet zum Tanzen verabredet, weil wir beide keine Lust auf dröge Gespräche in biederen Cafés gehabt hatten. Als ich sie sah, wäre ich am liebsten umgekehrt: Sie hatte ihren leicht übergewichtigen Körper in ein Paillettenkleid gequetscht und sah schon allein deswegen zum Fürchten aus. Ständig wischte sie sich ihr rötlich gefärbtes Haar aus dem teigigen Gesicht, ganz als sähe das besonders sexy aus.
»Rauchst du?«, war eine der ersten Fragen gewesen, die sie mir stellte, nachdem wir uns am Hackeschen Markt getroffen hatten.
»Nein«, gab ich trocken zurück. Stimmte auch.
»Ich eigentlich auch nicht«, sagte sie. Ihre Stimme klang so grausam wie die von Maren Gilzer, wenn sie in den früheren Glücksradsendungen ihr obligatorisches »Herzlichen Glückwunsch!« quakte.
»Warum fragst du mich dann nach einer Zigarette?«
»Weil ich Gelegenheitsraucher bin. Also ich rauch halt nur an so Abenden wie heute. Aber ist kein Problem. Ich schnorre mir dann einfach eine.«
Nachdem sie fertiggequakt hatte, ging diese Jenny auch tatsächlich zu einigen Mädchen hinüber und bettelte sie um eine Zigarette an. Sie bekam keine und hastete sogleich hinternwackelnd zu einigen Kerlen, die ihr schließlich den ersehnten Glimmstängel gaben. Gott, war mir das peinlich.
Und der Abend in diesem Club, in den sie mich schleppte, war nicht eben besser. Ich wusste ja, dass man Scheiße hoch stapeln konnte, aber ich dachte doch zumindest, gestapelte Blödheit würde irgendwann in sich zusammenfallen wie Dünnpfiff. Bei Jenny war dem offenbar nicht so. Und so beschloss ich, nach einer qualvoll langen Stunde zu gehen.
»Ich geh mal«, sagte ich dann auch kurz angebunden. »Kriege eine Erkältung, glaub ich. Hab Kopfschmerzen und so.«
»Ist okay«, säuselte sie in ihrem Schwips und drehte sich wieder den seltsamen Kerlen in ihren weißen Hemden zu, die sie aufgerissen hatte.
Als ich aus dem stickigen Laden raus und an die frische Luft kam, presste ich erst einmal meine heiße Stirn gegen einen kühlen Laternenpfahl. Dieser Dummbatz von einem Mädchen war schlicht zu viel für mich gewesen.
»Alles okay?«, fragte eine Stimme hinter mir, worauf ich erschrocken herumwirbelte. Vor mir stand diese kleine Brünette mit ihren schmalen Lippen und den großen, besorgt dreinschauenden braunen Augen.
»Äh, ja. Alles bestens, danke«, antwortete ich und lächelte sie freundlich an. Sie lächelte zurück, wobei ihre Augen zu strahlen begannen wie zwei Laternen und mich ganz und gar für sich einnahmen.
»Ich bin Elaine«, sagte sie. Elaine? Wer, zum Teufel, hieß denn tatsächlich Elaine? Sofort fielen mir die Monkey-Island-Spiele ein, die ich in meiner Kindheit auf dem Computer hoch- und runtergespielt hatte. »Und ich bin Guybrush Threepwood, ein mächtiger Pirat!«, tönte ich. Sie verstand den Witz natürlich nicht, den nur Kenner der Spiele verstehen konnten, und sah mich ein wenig pikiert an, während ich mir ins Fäustchen lachte.
Doch ob beleidigt oder nicht - nur zwei Tage später waren wir ein Paar! Anfangs vielleicht sogar nur, weil ich es toll fand, eine Freundin zu haben, die Elaine hieß. Doch nicht lange danach war da viel, viel mehr. Und all das mit uns hatte auch gepasst wie zwei zusammengehörige Puzzleteile, so wunderbar, wie im Märchen. Wie es eben immer ist, bis alles abflaut und schließlich nur noch Trostlosigkeit, Streitereien und ein paar Tränen zurückbleiben. Nach knapp einem halben Jahr war es dann leider schon soweit.
Und deshalb, dachte ich mir, wurde es nun eben Zeit, ihr zu sagen, dass es aus war. Als ich zu ihr ging, wehte ein kühler Herbstwind, der buntes Laub um mich herumtanzen ließ. Ein Wachmacher, ein Augenöffner! Berlin im Sommer ist ein Gemälde, Berlin im Herbst ehrlich schön, Berlin im Winter jedoch eine einzige graue Betonwüste. Bevor es soweit kam, wollte ich Elaine lieber im bunten Herbst Lebewohl sagen.
Wir redeten mehrere Stunden, sprachen uns aus, während wir wie Kinder, die sich über die ernsten Dinge des Alltags unterhalten, auf den Schaukeln saßen, die im Park hinter ihrem Wohnhaus aufgestellt worden waren. Bei ihr flossen zuerst ein paar Tränen, dann war ich an der Reihe. Und doch war es besser so, wie wir beide wussten.
»Mach‘s gut«, hauchte sie mir zum Abschied ins Ohr, während wir uns in den Armen lagen. Dann gab sie mir einen Kuss auf die Wange und ging. Ich hatte wirklich den richtigen Zeitpunkt erwischt. Es hatte keine anschließende Bitternis gegeben, keine Schlammschlacht. Einen sauberen Abschluss könnte man das wohl nennen.
Auf dem Rückweg fiel der kleine Anflug von Trauer auch schon von mir ab. Ich freute mich auf den DVD-Abend mit Axel, den ich nun haben würde, ohne dass zwischendurch das Telefon klingelte und ich die obligatorischen zwei Stunden mit Elaine telefonieren musste. Und so zog ich das Handy aus der Tasche und schrieb Axel eine SMS: »Lief alles gut. Stell schon mal das Bier kalt. :-)«
Ich beschloss, auf dem Heimweg bei Alican Halt zu machen. Alican, der türkische Dönerverkäufer, der eindeutig die besten Döner im Umkreis einiger Kilometer zu bieten hatte. Döner und später Bier, das würde sein, was ich heute brauchte, dachte ich.
»Hi Ali«, rief ich, als ich zur Tür reinkam.
»Hey, na? Alles gut?«, rief er zurück. Das sagte er immer so. Zu jedem. Hey na? Alles gut? Als hätte er eine eingebaute Bandansage.
»Bestens. Einmal Döner bitte. Komplett und zum Mitnehmen.«
»Wie immer ohne Knoblauch?«, hakte Alican nach.
Ich grinste ihn an. »Heute extra viel Knoblauch, bitte.«
»Oh, Freundin hat dich verlassen, was? Tut mir leid, Junge!«, warf er ein, worauf ich lachen musste.
»So ähnlich«, sagte ich. Er kicherte und machte sich am Kebab zu schaffen. Wenn Alican den Kebab bearbeitete, dann war das eine Sehenswürdigkeit. Man konnte nach Berlin kommen und sich das Brandenburger Tor anschauen oder den Reichstag. Man konnte den Fernsehturm anschauen und die Siegessäule, aber Alican schlug sie alle! Als hätte er all die großen Türkenkriege persönlich miterlebt, so schnetzelte er an dem Kebab herum, sprang dabei von links nach rechts und zurück. Eigentlich wartete man nur darauf, dass er »Stirb Kebab, stirb!« brüllte. Aber das tat er dann leider doch nie.
Es wurde ein langer, langer Abend. Und so sehr ich heute noch weiß, wie der Tag verlief, so wenig weiß ich, welche Filme Axel und ich in der Nacht schauten und worüber wir redeten. Vermutlich war der Tag einfach vorher schon in all seiner Perfektion konserviert worden, so dass für den Rest einfach kein Platz blieb. Oder es lag einfach am vielen Bier.
Natürlich hatten wir noch viele tolle Tage und Erlebnisse, bevor sich unsere Wege nach dem Studium trennten und jeder in seine eigene Wohnung zog. Doch irgendwie erreichte kein Tag mehr diese Vollkommenheit. Nie wieder verspürte ich so intensiv das Gefühl, am Leben zu sein, und diese Freude dabei.
Wenige Jahre später wurde schließlich Leukämie bei mir diagnostiziert. Dann ging alles ganz schnell: der emotionale Absturz, die Einlieferung in die Charité, die Chemotherapie. Meine Freunde kamen mich besuchen, meine Eltern, und alle waren sie zuversichtlich. Auch ich, denn die Ärzte sagten, meine Chancen stünden bestens.
Noch vom Gedanken an diesen Tag beschwingt, der so verheißungsvoll mit Axel und mir an der handbetriebenen Kaffeemaschine begonnen hatte, schwang ich meine dürren Beine aus dem Bett und ging Richtung Waschbecken. Ohne dass ich es bemerkt hatte, hatte sich ein Lächeln auf meine Lippen geschlichen, wie mir der Blick in den Spiegel jetzt offenbarte. Die Erinnerung hatte mich für einen Moment stark gemacht. Zwar war ich so blass, dass die kalkigen Wände des Krankenzimmers eine gesunde Urlaubsbräune im Vergleich zu mir hatten, und eigentlich sah ich aus, als hätten die Ärzte nur vergessen, mir mitzuteilen, dass ich bereits verstorben war, doch mein Lächeln war echt. In dem Augenblick fand ich sogar, dass mir eine Glatze gar nicht so schlecht stand, und obwohl es mir Schmerzen bereitete, musste ich lachen. Wofür türkischer Kaffee, mächtige Piraten und sterbende Kebabs nicht alles zu gebrauchen waren, dachte ich und grinste.