Der Sandmann
Joel dachte im Traum nicht daran, jetzt schon schlafen zu gehen. Gerade jetzt, wo er diesen Cheat für die Unverwundbarkeit im Netz gefunden hatte. Jetzt würden Köpfe rollen, dachte er sich. Diese Vorstellung zauberte ein breites Grinsen in sein Gesicht. Jetzt den PC runterfahren und schlafen? Never!
Die Ermahnung seiner Mutter zeitig zu schlafen, um fit für die morgige Klassenarbeit zu sein, hatte er längst vergessen. Der Cheat funktionierte. Das Blut floss in Strömen. Es gab jetzt Wichtigeres zu tun. Dieses Computerspiel zog ihn erneut diese virtuelle Welt, die er beherrschte. Hier hatte er das Sagen. Ein unfairer Kampf aber scheiß drauf, es rockte.
Abgelenkt durch den Surround-Sound seines Headsets, hörte er natürlich nicht wie sich die Tür öffnete und seine Mutter das Zimmer betrat. Erst als sie ihm auf die Schulter klopfte zuckte er zusammen und riss sich den Kopfhörer vom Kopf.
„Hey, Mum. Gott hast du mich erschreckt! Was gibt`s denn?”
“Schluss für heute, kleiner Mann! Es ist bereits nach Zehn und du schreibst morgen eine Mathematikarbeit, die sehr wichtig für deine Zensur ist, wie du jawohl weißt!“
„Dieses eine Level noch, Mum! Ich verspreche, dann mache ich Schluss!“
„Ich verstehe nicht was du an so einem Gemetzel unterhaltsam findest, Junge. Ist das überhaupt deinem Alter entsprechend freigegeben?“
Sie griff nach der Verpackung des Spiels. „Habe ich’s mir doch gedacht. Achtzehn-Plus!“
„Alle Jungs aus meiner Klasse spielen das. Wir spielen es im Internet über ein Netzwerk miteinander.“
„Du meinst wohl eher gegeneinander als miteinander. Da darfst du natürlich nicht fehlen, wie?“
„Dieses Level noch, Junge. Lass mich nicht noch einmal in dein Zimmer kommen müssen!
Denk dran, böse Kinder holt der Sandmann!“
Dann schloss seine Mutter die Tür und ging zu Bett.
„Ich glaub’s nicht. Jetzt fängt sie wieder mit diesem Scheiß an. Ich bin mittlerweile erwachsen, falls ihr das noch nicht mitbekommen habt. Dieser Mist hat vor zehn Jahren gezogen, aber doch jetzt nicht mehr!“, flüsterte er.
Früher konnten seine Eltern ihn mit diesem Märchen tatsächlich beeindrucken. Manchmal lag er die halbe Nacht wach vor Angst. Die Bettdecke bis über die Nase gezogen blickte er zur Tür, in dem Glauben dass sich jeden Moment die Türklinke senken würde und der Sandmann sein Zimmer betrat und…. Was für ein Scheiß!
Joel setzte sich das Headset wieder auf und zockte grinsend weiter. Das eigentlich letzte Level für heute Abend hatte er längst überschritten.
Zur gleichen Zeit betrat eine düstere Gestalt lautlos das Haus. Der Hund, welcher normalerweise angeschlagen und in lautes Gebell ausgebrochen wäre, wurde von dieser bösen Aura, die dieses Wesen ausstrahlte völlig eingeschüchtert. Er pisste vor Angst auf den Läufer im Flur und verkroch sich dann mit eingezogenem Schwanz unter einen Tisch. Die Gestalt erzeugte keinerlei Geräusche, als sie durch den Flur auf die Treppe zuschritt, die zu den Schlafräumen führte. Lautlos und gemächlich bewegte sie sich hinauf. Die Kreatur hielt einen großen Stoffbeutel, den sie über der Schulter hängend mit sich trug, welcher sich zuckend bewegte, als sei etwas Lebendiges darin gefangen. Oben angekommen blickte sich das Wesen um, ging auf eine der Türen zu und lauschte. Hinter dieser Tür gaben sich die Eltern gerade lautstark ihrem wöchentlichen Vögel-Marathon hin. Das Ding nahm die Hand wieder von der Türklinke und schritt auf die nächste Tür zu. Joel, der völlig in seinem Spiel vertieft war, bemerkte nicht wie sich langsam die Türklinke senkte. Kein Laut war zu hören als sich die Tür öffnete und die Gestalt das Zimmer betrat. Joel bemerkte schließlich den riesigen Schatten an der Wand der sich vor ihm aufbäumte. Langsam zog Joel den Kopfhörer ab und schaute sich um. Die Kreatur, die er erblickte, ließ ihn augenblicklich erstarren. Seine Kehle schnürte sich zusammen und er brachte nur noch ein jämmerliches Krächzen zustande, das eigentlich ein Hilferuf hätte sein sollen. Joel spürte wie sich lauwarm seine Blase entleerte. Das Wesen war in einen langen, schwarzen Mantel gehüllt, welcher bis zum Boden reichte und so nur den Blick auf den vernarbten und entstellten Kopf und die riesigen, bleichen Hände bot. Die weißen und pupillenlosen Augen fixierten ihn. Keinerlei Gefühlsregung war darin zu erkennen. Das Ding ließ das zuckende Bündel das es bei sich trug zu Boden sinken.
„Du weißt wer ich bin, nicht wahr Joel?“ Ein unheimliches Timbre erfüllte den Raum und hallte im Kopf des zitternden Jungen nach, der sich die Hände vor das Gesicht hielt.
„Nein, bitte lass mich hier! Ich werde in Zukunft immer brav und artig sein! Bitte tu mir nichts!“
Der Sandmann öffnete den Sack und Joel vernahm die Laute schreiender und wimmernder Kinder aus dem Inneren des Bündels.
„Du musst nun mit mir gehen, böses Kind!“
Der Sandmann packte Joel an einem Bein, hob ihn hoch und hielt ihn über die Öffnung des Beutels. Der Junge strampelte und schlug um sich doch der stahlharte Griff lockerte sich nicht. Schließlich ließ er den Jungen in den Sack fallen. Die Schreie verstummten als das Wesen den Beutel wieder schloss. Unbemerkt und lautlos verließ der Sandmann das Haus und verschwand in der Nacht. Im Zimmer der Eltern herrschte immer noch ein reges Treiben.
Die Mutter betrat am nächsten Morgen pünktlich Joel Zimmer um ihn für die Schule zu wecken. Der Pc war noch eingeschaltet und das Headset lag am Boden.
Auf dem Sitz des ledernen Schreibtischstuhls sah sie eine kleine Pfütze Urin.
Take my hand
we’re off to never never-land….
Metallica, Enter Sandman