„Sie kommt! In die Klasse, in die Klasse!“, gerade rechtzeitig beim Erscheinen der Lateinprofessorin in der Türe standen die achtzehn Mädchen der 6B aufrecht hinter ihren Pulten und erwarteten die Lehrkraft mit höflicher Zurückhaltung (auch bekannt unter den Namen Angst oder Panik). Die für den Unterricht benötigten Utensilien lagen ausgebreitet auf den Tischen, ordentlich und sauber. Hausaufgaben waren schon Stunden zuvor abgeschrieben worden und nun lag eine haarsträubende Spannung in der Luft: hatte die Freundin ihre Aufgaben richtig gemacht? Und würde man zur Wiederholung aufgerufen werden? Die Totenstille in der Klasse wurde nur durch das laute Pochen der Herzen der Schülerinnen unterbrochen, keine wagte es auch nur zu atmen.
Langsam, als würde sie die Angst geniessen, ging die Professorin auf den ihr zugewiesenen Lehrertisch zu und nahm dahinter Platz.
„Setzen!“
Achtzehn Mädchen setzten sich synchron und so leise wie möglich auf ihre Sessel, wagten es kaum die Sitzgelegenheit an den Tisch zu rücken. Zweifel und geordnete Gedanken der Angst wichen einem allgemeinen Gefühl des Entsetzens, bitte nicht ich, bitte nicht ich. Man brauchte kein Medium zu sein um diese Gedanken aus den Gesichtern zu lesen.
„Petter! Bitte den ersten Satz!“ Mit dieser Aufforderung wurde Jenny Petter dazu gedrängt einen Teil ihrer Hausübung vorzulesen und etwaigen Schrecken auf sich zukommen zu lassen. Mit leiser Stimme las sie zuerst den lateinischen Satz (mit unheimlicher Geschwindigkeit) vor und widmete sich dann ihrer zu Hause angefertigten Übersetzung. Während sie die Worte sprach schien ihre Stimme lauter zu werden (oder wurde es einfach noch stiller im Raum um sie herum?). Wie fast immer hatte sie den Satz richtig übersetzt. Erneut begann nun das Zittern für den Rest der Klasse. Jenny konnte sich endlich zurücklehnen und durchatmen (was sie selbstverständlich nicht tat), niemand kam in einer Einheit zweimal dran, fast niemand. Denn die Klasse war seit dem letzten Jahr bedenklich geschrumpft und damit war auch die Chance in der Stunde einen Beitrag leisten zu müssen gestiegen. Gratzer, Mangl und Konrad waren die restlichen Opfer, die ihre Hausübung preisgeben mussten. Sie taten es in Angst, danach fiel jedoch ein Teil der Spannung von ihnen ab. Die restlichen Mädchen zitterten noch mehr, denn nun wurden Texte im Unterricht, live, ohne Stowasser übersetzt und die Gefahr selbst übersetzten zu müssen stieg mit jeder Minute.
Dem Druck nicht mehr standhaltend hob Johanna die Hand und meldete sich für den nächsten Satz, unsicher las sie die erste Zeile eines neuen Textes vor, den sie zuvor mit Jenny und Barbara zu entziffern versucht hatte und zeigte deswegen einen gewissen Grad an Selbstbeherrschung (unter normalen Umständen wären vermutlich Weinkrämpfe die Folge einer solchen Tat gewesen). Mit zitternder Stimme begann sie den Satz, wie sie ihn sich mit den Freundinnen zurechtgemacht hatte, vorzutragen, die Vokabel waren aber nicht richtig (iterum ist keine Form von iter) und ausserdem war ein neues Grammatik Kapitel in diesem Satz verborgen, dessen schriftliche Erklärung allein in ihrer Mappe noch drei oder vier klein beschriebene Seiten kosten sollte. Das alles war der Unwissenden aber verborgen und so versuchte sie sich zu konzentrieren. Eine Stunde dauerte schliesslich nur fünfzig Minuten und sieben davon waren mit Sicherheit schon verstrichen, sie müsste also nur mehr dreiundvierzig Minuten versuchen zu übersetzen. Ihre siebzehn Kameradinnen blickten ebenso verunsichert und ratlos wie sie in ihre Bücher, ihre Geister waren gespalten, einerseits wollten sie Hanni von ihren Qualen befreien, andererseits barg jede Minute, die sie nichts zu sagen wusste eine Minute der Hoffnung für den Rest nicht aufgerufen zu werden.
Plötzlich hörte man auf dem Gang vor der Klasse Schritte, die die Stille in der Klasse erst recht bemerkbar machten.
Mit einem lauten Krachen wurde die Klassentüre aufgestossen und drei junge Männer kamen hereingeschritten, sie waren gross, dunkel angezogen und einfach wahnsinnig geil anzusehen. Alle drei bewegten sich wie Raubkatzen auf der Jagd, wie sie sich in V-Stellung vor der Klasse plazierten, geschmeidig und gleichzeitig bis in die letzte Faser ihres Körpers angespannt. Ein Schauer lief durch Schülerinnen und Lehrkraft und wo zuvor noch achtzehn Mädchen über lateinische Texte gebeugt waren, die Gesicherter von Unwissen und Panik gezeichnet, sassen nun fünfzehn verwunderte, bewundernde und einfach sprachlose Hüllen, keine war auch nur zur geringsten Bewegung fähig, sie waren wie versteinert.
Alle, bis auf drei: Johanna Jandl, Jenny Petter und Barbara Zucker, grinsend blickten sie den Dreien in ihren schwarzen Mänteln, den schwarzen Hosen, den engen aber nicht anliegenden schwarzen Rollkragenpullovern, den schwarzen Schuhen und ihren giftgrünen Socken entgegen.
Der grösste der drei kam langsam auf Johanna zu, seine schwarzen Haare waren kurz geschnitten und standen keck zu Berge. Mit einem kurzen Kopfnicken bedeutete er ihr aufzustehen, was diese sofort tat. Ein leichtes Lächeln auf den Lippen ging sie nach vorne und liess sich sogleich in seine Arme fallen, ohne auch nur ein Wort zu sprechen. Mark, später stellte sich heraus, dass das sein Name war, drückte sie mit der Kraft seiner starken Arme an seine wohlgeformte Brust und küsste sie inbrünstig. Es schien, als wollten sie niemals wieder von einander lassen.
Als sie es doch taten gab Mark den anderen ein Zeichen und die zwei Männer zu seiner Linken und Rechten traten, nach einem kaum zu bemerkenden Kopfnicken nach vorne und gingen auf zwei weitere Mädchen zu. Die Beiden waren ebenfalls ganz in schwarz gekleidet, ihre Haare waren aber von hellerer Farbe und der Eine, der sich auf Jenny zubewegte schien asiatischer Abstammung zu sein. Sein blond gefärbtes Haar bildete mit seiner hellen Haut einen beeindruckenden Kontrast zu seiner schwarzen Kleidung. Und auch der junge Mann, der auf Barbara zusteuerte war nicht von schlechten Eltern. Die Männer halfen den Mädchen hoch und gaben ihnen küsse, dass den Klassenkameradinnen um sie herum das Herz vor Eifersucht und Sehnsucht stehen blieb, dann gingen sie langsam, geschmeidig und unheimlich lässig zu Mark.
Minuten waren vergangen - oder doch nur Sekunden - und noch immer war die gesamte Klasse erstarrt, niemand rührte sich, man konnte nur das Liebesgeflüster von Ken & Nine und Matt & Babsi hören. Zum gehen bereit wandte Mark sich noch einmal Schülerinnen und Proffessorin zu und schenkte ihnen sein unvergleichliches lächel-Grinsen, dann zwinkerte er mit einem Auge und sie alle setzten sich in Bewegung.
Im letzten Moment sprang Uli, eine Schulfreundin, auf und rief „Ich will mitkommen!“. Mark, Ken und Matt wechselten vielsagende Blicke, sie hatten Joaquins Schritte schon draussen vor der Türe gehört, er war wieder einmal zu spät, schnell lief er in die Klasse, holte sein Mädchen und nunmehr zu acht verliessen sie ein für alle Mal das Schulgebäude. Draussen standen ihre Motorräder, Mark schwang sich auf sein Stahlross, Johanna hinter ihm; er gab ihr einen sicheren Vollvisierhelm, wie er ihn selbst trug und zeigt ihr, wie sie sich am besten an ihm festhalten sollte, eng und fest. Die vier Maschinen fuhren in unterschiedliche Richtungen davon und wurden niemals wiedergesehen.
Das einzige bislang offizielle Zeugnis ihres Verschwindens ist ein Eintrag im Klassenbuch der 6B: „Jandl, Petter, Zucker und Nemec verlassen ohne Erlaubnis der Lehrkraft das Klassenzimmer.“
In der Schule gab es aber nach diesem Vorfall einige Änderungen in der Beaufsichtigung nachdem Eltern ihren Unmut geäussert hatten. Vier Jahre zuvor waren schon einmal zwei Schülerinnen, Nathalia Jandl und Katharina Wunderl, von Fremden, unwahrscheinlich gut aussehenden Männern entführt worden. Waren es in diesem Fall die selben Täter oder Trittbrettfahrer, oder hatte dieser Fall nichts mit dem vor vier Jahren zu tun?