Die ersten Töne, die sie von sich gab, waren schräg, nein, genau genommen waren sie mehr als das. Sie konnte keinen Ton halten, quietschte mehr, als dass sie sang. Das war aber auch nicht weiter verwunderlich, schließlich war sie erst zarte eineinhalb Jahre alt. So reichte auch ihr Wortschatz noch nicht für ein ganzes Lied, lediglich für den Refrain. Als Lieblingslied hatte sie sich "Der Kuckuck und der Esel" auserkoren. Ich liebte es, wenn sie sang, auch damals schon, zumindest am Anfang. Immer und immer wieder erklang dieser Refrain, wenn mein Kind in meiner Nähe war. Aufgrund ihres zarten Alters war sie sehr oft in meiner Nähe. Nahm ich sie nach dem Mittagsschlaf aus dem Bettchen und bettete ihren Kopf auf meine Schulter, so dauerte es nicht lange und - wie bei einer Schallplatte die einen Sprung hat - drang dieser Refrain in ziemlich starker Lautstärke und mit ziemlich schriller Kleinkindstimme in mein Ohr.
Wie ich schon sagte: Ich liebte mein Kind auch dafür, dass es zu singen liebte. Allerding muss ich ehrlich zugeben, dass ich manchmal den Knopf zum Abstellen suchte. Warum dieser Refrain? Warum immer und immer wieder? Machte sie mal eine Pause, dann lächelte sie mich an, legte den Kopf zur Seite und fragte: "Schön?" "Sehr schön" gab ich dann stolz und gleichzeitig genervt von mir. Ich konnte es gar nicht erwarten, dass sie älter wurde und ihren Wortschatz erweiterte, bis ich endlich tatsächlich eines Tages das komplette Lied in deutlich besserer Tonlage hörte.
Als Swea endlich drei Jahre alt geworden war, konnte sie es gar nicht erwarten, in den Kindergarten zu kommen. Ihre größeren Brüder gingen zur Schule und auch sie wollte endlich einen geregelten Tagesrhythmus haben. Von vielen Seiten hörte ich, das wäre viel zu früh, um meine Tochter in den Kindergarten zu geben, dann müsse sie diesen schließlich drei Jahre lang besuchen und das würde zum Schluss langweilig für sie werden. Wir probierten es trotzdem und es wurde ihr niemals langweilig, schließlich gab es eine große Auswahl an Kinderliedern, die Swea alle in sich aufsog. Ganz besonders liebte sie die Lieder von Rolf Zuckowski. Immer und immer wieder sang sie diese Lieder nach. Schnell lernte sie die Texte auswendig. Parallel dazu entwickelte sie aber auch besonders schnell die Fähigkeit zu improvisieren. Wenn sie den Text vergessen hatte, dann sang sie einfach ihre eigene Version oder wiederholte das, was sie vorher gesungen hatte. In dieser Beziehung war sie sehr einfallsreich.
Mit der Zeit lernte sie auch, den Ton zu halten und mein Stolz wuchs von Lied zu Lied. Wenn ich aber ganz ehrlich bin, gab es auch Momente, in denen ich lieber mit ihr gesprochen hätte, als mir ihren Gesang anzuhören, aber Swea liebte es eben zu singen. Keine Gelegenheit ließ sie aus. Ob ihr es glaubt oder nicht: Es ist sogar einmal vorgekommen, dass ich bei meiner allabendlichen Runde durch die Kinderzimmer feststellen konnte, dass Swea sogar im Schlaf gesungen hat, nur ein paar Töne, aber immerhin.
Auch ich liebe Musik, also hat sie diese Vorliebe wohl mit der Muttermilch aufgesogen (ich habe sie elf Monate lang gestillt).
Als Swea sechs Jahre alt war, wünschte sie sich eine Geige. Ich war fasziniert und hätte ihr den Wunsch gerne erfüllt. Also begab ich mich zum Musikgeschäft und erkundigte mich nach dem Preis. Die Auskunft brachte mich schnell auf den Boden der Tatsachen zurück. Das würde ich mir nie leisten können: Die Anschaffung von diesem Instrument und dann auch noch der Musikunterricht würden mich ruinieren. Also überlegte ich mir eine List. Ich sagte zu meiner Tochter: "Erst einmal muss ich feststellen, wie du mit Musikinstrumenten umgehen kannst. Ich gebe dir meine Blockflöte. Versuche erst einmal, die zu spielen." Swea nahm mir das Instrument aus der Hand, blies hinein und bemerkte schnell, dass sie nur quietschende Geräusche fabrizierte. Frustriert schlug sie das Intrument auf die Tischkante, so dass dieses so zerbrach, dass es irreparabel war. Ich sah mein Kind strafend an und sagte: "Solange du so mit Instrumenten umgehst, wirst du von mir kein eigenes bekommen. Ein Musikinstrument muss man lieben wie ein Haustier und auch dementsprechend behandeln." Mit einem Schmollmund trottete mein kleines Mädchen von dannen.
Allerdings besaß ich mehrere Blockflöten. Heimlich nahm Swea sich eine andere und übte fleißig. Eines Tages stand sie vor mir, spielte mir ein paar kleine reine Töne vor, strahlte mich an und sagte: "Und jetzt? Bekomme ich meine Geige?"
Ich selbst hatte mir schon als Siebenjährige ein Klavier gewünscht. Nie werde ich den Tag vergessen, als meine Mutter in mein Zimmer kam, ich war ca. 12 Jahre alt, sie hatte die Hände hinter dem Rücken verborgen und sagte zu mir: "Ich erfülle dir heute deinen Herzenswunsch!" Ich strahlte sie an: "Ein Klavier?" Sie nickte und überreichte mir mit ausgestreckten Armen ein ca. 30 cm langes, Batterie betriebenes Kinderklavier. Meine Enttäuschung kann ich gar nicht beschreiben. Als Notlösung erlernte ich autodidaktisch im Alter von ca. 35 Jahren das Gitarrespielen.
Diese Tatsache kam mir nun zugute, denn so konnte ich Swea auf das Saiteninstrument Gitarre umpolen. Mittlerweile war sie auch schon acht Jahre alt und hatte gelernt, dass man Instrumente lieben kann und muss. Den Unterricht übernahm ich selbst. Ihre beste Freundin hatte auch zu Weihnachten eine Gitarre bekommen. Ich unterrichtete die beiden Mädchen. Sie lernte schnell und mir hat es unheimlich viel Spaß gemacht, aber dazu vielleicht später mehr in einer weiteren Geschichte.
Mit der Zeit hat meine Lieblingstochter - sie ist gleichzeitig auch meine einzige Tochter - sich autodidaktisch mit mehreren Instrumenten angefreundet, als da sind: Schlagzeug, Mundharmonika, Blockflöte und Klavier. Zwischenzeitlich hatte sie Unterricht für Trompete und Tenorhorn.
Eines der wenigen Instrumente, an denen sie sich noch nie versucht hat, ist die Geige. Vielleicht werde ich ihr eines Tages eine schenken. Wenn ich es mir leisten kann, würde ich das sehr gerne machen. Ich finde es faszinierend zu beobachten, wie Swea jemanden beim Klavierspiel beobachtet, sich an mein Klavier - das leider zwischenzeitlich explodiert ist - oder an mein Keyboard gesetzt hat und die Melodie nach Gehör nachgespielt hat. Ging es mir schlecht, dann spielte Swea für mich auf dem Klavier eine Sonate von Bach und ich schmolz dahin.
Auf die gleiche Weise schmelze ich heute regelmäßig dahin, wenn ich mein Kind singen höre. Von der krächzenden, den Ton nicht haltenden Kleinkindstimme ist nichts mehr übrig geblieben. Geblieben ist eine junge Frau, die jedem ein Gänsehautfeeling verpasst. Geblieben ist eine Sängerin, die Standing Ovation einheimst, wenn auch nur auf privaten Veranstaltungen. Geblieben ist meine Tochter, deren größtes Geburtstagsgeschenk für mich ein gesungenes "Happy Birthday" ist.
Ihr müsstet sie hören, dann wisst ihr, was ich meine.
Es war ein langer, ein - besonders für mich - schwerer Weg, aber mein Kind hat zur Musik gefunden.