Über den Mann einer Freundin unkte einmal jemand: „Wenn der noch weniger Temperament hätte, dann wäre er tot.“ Dazu muss ich sagen, dass meine Freundin geradezu vor Temperament strotzte. Wieso die beiden jemals geheiratet haben, weiß ich nicht. Mittlerweile besteht diese Ehe aber auch nicht mehr. Es passte wohl einfach nicht mehr. Heute nun, musste ich wieder einmal daran denken und damit auch an Menschen, die strikt nach einem vorgegebenen Muster leben. Das sind jene Menschen, für die der Tag gelaufen ist, wenn die Zahnbürste morgens in die falsche Richtung zeigt. Gibt es nicht, sagt ihr? Doch, die gibt es sehr wohl. Ich kenne sogar mehrere davon.
Meine beste Freundin ist mit so einem Pedanten verheiratet. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie es war, als die beiden Marmelade einkochten. Rita füllte den heißen Brei in dafür bereitgestellte Gläser. Nach getaner Tat begab sie sich ins Wohnzimmer, legte sich Stift und Etiketten zurecht und wollte mit dem Werk des Beschriftens beginnen, als ihr Mann schreckerstarrt in der Tür stand. Er gab unartikulierte Geräusche von sich, verzog das Gesicht zu einer Grimasse, zeigte auf seine Frau und auf den Tisch und stammelte: „Was hast du vor?“ „Ich will die Marmeladengläser beschriften“, gab sie treuherzig von sich. Er fuchtelte wild mit den Armen, stürzte Richtung Tisch, riss ihr den Stift aus der Hand und konnte mit letzter Kraft ein gepresstes: „Nein“, halb geschrieen, halb verzweifelt herausgepresst von sich geben. „Meinst du etwa, ich kann das nicht“, reagierte Rita nun leicht aufgebracht. „Doch“, antwortete er sanftmütiger als vorher. Offensichtlich wollte er jeden Streit vermeiden: „Aber wie sieht das denn aus? Es ist doch besser, wenn die Gläser mit derselben Handschrift gekennzeichnet werden. Ich mach das schon. Du kannst ja etwas lesen oder Handarbeit machen oder so.“
Sie kannte ihren Mann seit vielen Jahren und wusste, dass jeder weitere Kommentar nun überflüssig war. Er war nun aber froh, das Zepter wieder an sich gerissen zu haben. Er setzte sich, schob sich seine Brille auf die Nasenspitze, nahm ein Lineal zur Hand und begann, den exakten Sitz jedes Etiketts penibel genau auszumessen.
Wohin man in diesem Haushalt auch blickt, aus jeder Ecke springt einem der Ordnungssinn dieses Mannes in die Augen. Die Videokassetten sind nach Farbe, Form und Größe sortiert. Auch hier kleben Etiketten auf jeder Rückseite, alle mit derselben Handschrift versehen.
Das gleiche Muster spiegelt sich bei Fotoalben, Büchern, Rezeptsammlungen ja, sogar bei den Zeitschriften wider. Es befindet sich nicht einfach irgendwo ein Stapel ungelesener Zeitschriften in diesem Haushalt, nein, die sind nach Titel und auch nach Erscheinungsdatum sortiert. Falls seine bessere Hälfte mal einen Artikel anspricht, der in einer dieser Zeitschriften erwähnt wurde, strahlt er über das ganze Gesicht, geht zu dem Zeitschriftenstapel und zieht schon nach kurzer Zeit das entsprechende Blatt heraus. „Siehst du, Ordnung ist das halbe Leben“, posaunt er in solchen Momenten wohlgefällig. Aber er ist nur einer von den vielen Untoten, die ich kenne.
Ein weiteres Beispiel ist ein früherer Kollege von mir. Sein Tagesablauf war exakt strukturiert. Niemals in seinem Leben hat er verschlafen und er ist auch niemals zu spät zur Arbeit gekommen, dann schon eher etwas früher gegangen als andere. Jeden Morgen nahm er denselben Weg, benutzte denselben Parkplatz und traf auch in der Regel dieselben Kollegen auf dem Weg zu seinem Büro. Sollte einmal jemand die Frechheit besessen haben, seinen angestammten Parkplatz zu besetzen, so gab er gleich zu Arbeitsbeginn eine Mail in Umlauf, dass dieses sein Parkplatz wäre und die übrigen Mitarbeiter das doch bitte berücksichtigen sollten. Allerdings kam so eine Unverfrorenheit höchstens dann vor, wenn neue Mitarbeiter eingestellt worden waren. Diese lernten meist schnell, die Macken dieses Kollegen zu berücksichtigen.
Tagsüber arbeitete er mehr oder weniger stoisch vor sich hin, immer nach dem gleichen Muster. Seine Mittagspause verbrachte er immer mit einer ganz bestimmten Kollegin. Auch hier bestand er auf Pünktlichkeit, wurde ungehalten und nervös, wenn sie ihn auch nur wenige Minuten warten ließ. Aber auch das kam höchst selten vor, denn sie kannte diesen Mann seit Jahren und hatte sich an seine Macken mittlerweile gewöhnt. Wenn er nicht in der Nähe war, belächelte sie ihn auch gemeinsam mit anderen Kollegen.
Pünktlich eine Viertelstunde vor Feierabend begann er, seinen Schreibtisch aufzuräumen, meldete sich am PC ab und nahm auch keine Telefonate mehr an, denn das könnte seinen gewohnten Rhythmus durcheinander bringen. Lieber verbrachte er die restlichen Minuten mit wichtigen Tätigkeiten wie Telefonkabel entwirren, Locher, Hefter und die Schale für die Stifte exakt am Rand der Schreibtischunterlage anzuordnen, Familienbilder mit dem Hemdsärmel abzuwischen und an ihren angestammten Platz zu stellen, evtl., wenn die Zeit es zuließ, auch noch seinen Kaktus in Form zu bringen.
Täglich führte er einen Regenschirm mit sich, egal ob der Himmel bewölkt war, die Sonne mit aller Kraft strahlte oder es schneite. Er war eben ein Gewohnheitsmensch.
Zu diesen Gewohnheiten gehörte auch das Mittwochabendritual. Jeden Mittwoch fuhr er nach der Arbeit zum Bäcker und holte die billigeren Feierabendbrötchen. Er war kein Geizhals, nur sparsam. Mit dieser Tüte Brötchen fuhr er dann zu seinen Eltern, wo schon reichlich Würstchen in heißem Wasser garten. So war es schon seit vielen Jahren. Er besorgte die günstigen Feierabendbrötchen, seine Mutter sorgte für die Würstchen und das Feierabendbier.
Wie ich vor kurzem aus sicherer Quelle erfahren habe, sind seine Eltern vor einigen Monaten gestorben. Wie ich aus ebenso sicherer Quelle erfahren habe, hatte er anfangs große Schwierigkeiten damit, sich umzustellen – er war eben ein Gewohnheitsmensch. Also fuhr er weiterhin jeden Mittwoch nach der Arbeit zum Bäcker, besorgte viele günstige Feierabendbrötchen und stand dann vor seinem Elternhaus vor verschlossenen Türen. Erst da fiel ihm dann ein, dass es hier keine Würstchen mehr für ihn geben würde.
Also machte er sich grimmig auf den Heimweg und drückte seiner Partnerin mit einem brummigen: „Hier.“ Die Brötchentüte in die Hand. „Und was soll ich damit?“ fragte diese. „Essen natürlich, was denn sonst? Kannst aber auch morgen Paniermehl daraus machen.“ Nach wenigen Wochen, mittlerweile hatten die beiden selbstgeriebenes Paniermehl für Wochen oder sogar Monate und seine Partnerin verletzte Hände, reichte es ihr. Sie schlug vor, doch das Würstchenessen in die eigene Wohnung zu verlegen. „Kommt gar nicht in Frage“, meinte er: „Die sind zu teuer.“ Er war kein Geizhals nur sparsam eben. Aber beim Anblick der mit Paniermehl gefüllten Tupperdosen ließ er sich dann doch dazu überreden. Schließlich arbeitete seine Partnerin auch, also konnte sie ja die Würstchen bezahlen.
Ach, ich könnte über diesen Menschenschlag noch viel berichten, denke aber, dass es für den Anfang an dieser Stelle erst einmal reicht. Ich kann mir gut vorstellen, dass manch einer aus seinem eigenen Freundes-, Verwandten- und Bekanntenkreis leicht ähnliche Personen beschreiben kann.