Gedichte
Irgendwann...

0
"Triggerwarnung! Ich beschreibe hier, wenn auch nur kurz, sexuellen Missbrauch."
Veröffentlicht am 17. November 2019, 12 Seiten
Kategorie Gedichte
© Umschlag Bildmaterial: aleshin - Fotolia.com
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Mein Name ist Tabea und ich wurde Anfang der 90er geboren.
Triggerwarnung! Ich beschreibe hier, wenn auch nur kurz, sexuellen Missbrauch.

Irgendwann...

Irgendwann...

Ich muss raus. Raus hier! Einfach nur raus, aus der Gefahr, die doch eigentlich keine ist, aber das weiß ich doch nicht. Ich muss weg, weg von diesem „zu viel“... zu viele Gedanken, zu viele Emotionen, zu viel Panik. Weg von diesem „zu wenig“... zu wenig Luft, zu wenig Raum, zu wenig

Ruhe. Doch ich kann nicht. Kann mich nicht bewegen, somit auch nicht aufstehen, zur Tür gehen, aussteigen, mich zeigen will ich auch nicht, denn sonst wüssten sie alle, was gerade in mir vor geht, sie würden starren, lachen oder sich Sorgen machen, mir steigt die Hitze ins Gesicht. Ins Gesicht und in den Körper, meine Gliedmaßen kribbeln, die Wände scheinen sekündlich näher zu

kommen, die Luft wird immer dünner. Ich schnappe nach Luft, zerquetsche den eigentlich nicht zerquetschbaren Igelball mit einer Hand, Anspannung auf Overload. Vor meinen Augen verschwimmt die Gegenwart mit dem, was Ärzte und Mitmenschen als „Vergangenheit“ bezeichnen. Als würde es gerade passieren, spüre ich deine Hände, wie sie tasten, wie sie meine Oberschenkel hinauf wandern. Deine Zunge an meinem

Hals, ich höre und spüre deinen Atem, er riecht nach dem Bier von gestern und Knoblauch und du flüsterst mir ins Ohr: „Das gefällt dir, was?“ Nein, das gefällt mir nicht mal ansatzweise, „NEIN!“, sage ich aus dieser Erinnerung heraus laut, denn für mich ist das gerade alles real, ich erlebe es wieder, jetzt, in diesem

Moment. Bitte, hör einfach nur auf, lass mich in Ruhe, aber nein – du lässt mich nicht los, nicht in Ruhe, nicht leben. Viele Jahre ist es jetzt her, doch wer behauptet, Zeit heilt Wunden, hat keine PTBS und keine Empathie. Einfach vergessen, einfach nach vorne schauen, einfach weiter leben, doch dieses „einfach“ ist am

schwersten. Blicke treffen mich, Blicke von Menschen, die mich zu kennen glauben, weil sie meinen Namen wissen. Menschen, die in Wahrheit nichts, aber wirklich rein gar nichts von mir wissen, sie starren mich an, erdolchen mich mit ihren Augen, jeder Blick schmerzt auf meiner Haut. Sie atmen mir die Luft weg. Ich muss raus. Raus aus dem Bus, der mich gefangen hält, weil er nur an Haltestellen

hält und nicht auf der Strecke, selbst dann nicht, wenn ich halb verrecke, ich muss raus. Schon wieder diese Bilder. Vergangenheit? Gegenwart? Wer weiß das schon! Mir kommen die Tränen. Ich möchte ein normales Leben führen, mich in den Bus setzen, von A nach B fahren, ohne von der Vergangenheit eingeholt zu werden, ohne das Gefühl, zu sterben, ohne

Angst. Wie jeder normale Mensch. Ich möchte wieder lachen können, freudestrahlend Luftschlösser bauen, den Moment genießen, meine Augen schließen und wirklich nichts sehen, nicht diese Bilder und Filme, die sich aufdrängen, spätestens, wenn ich die Gegenwart ausblende. Ich möchte es genießen können, in den Arm genommen zu werden, und nicht völlig verkrampft darauf warten, endlich losgelassen zu

werden. Irgendwann... ja, irgendwann wird das wieder so sein, dann werde ich unbeschwert leben, glücklich, selbstbewusst sein und Angst nur noch spüren, wenn sie wirklich angebracht ist. Nicht mehr zwischendurch, auf Familienfeiern, im Bus, auf der Arbeit oder wenn ich am Laptop sitze. Irgendwann... ja, irgendwann werde ich ankommen auf dem Gipfel des Glücks und das pure Leben

einatmen. Und dann werde ich die Arme ausbreiten und mit einem Lächeln zu mir sagen: „Siehst du? Dein Weg war steil, er war ermüdend und stellenweise kaum zu bewältigen. Du hast Pausen eingelegt oder bist langsamer gegangen, aber du hast auch die steilsten Passagen überwunden. Und jetzt hast du es geschafft und kannst die Aussicht genießen.“ Irgendwann... ja, irgendwann wird das so sein, davon bin ich

überzeugt. Bis dahin aber lasse ich mir Zeit und halte mir dieses Ziel vor Augen, so oft es nötig ist.

0

Hörbuch

Über den Autor

Seiltaenzerin
Mein Name ist Tabea und ich wurde Anfang der 90er geboren.

Leser-Statistik
28

Leser
Quelle
Veröffentlicht am

Kommentare
Kommentar schreiben

Senden
Feedre wenn das Schicksal einem so eine
"harte Kante" gibt, braucht es eine
starke Persönlichkeit.....schreiben
hilft....ich wünsche dir viel Kraft
Feedre
Vor langer Zeit - Antworten
Seiltaenzerin Danke :-) ja, eine starke Persönlichkeit habe ich durch all meine Schicksalsschläge definitiv entwickelt, das ist wohl das einzig Positive, was dieser ganze Mist an sich hatte.
LG
Vor langer Zeit - Antworten
Trollmops Es ist völlig egal, wieviel Zeit vergeht, wie viele Träume man hat, Es ist egal, ob die Zukunft besser wird, ob man stark sein will oder stärker wird. Es ist egal ob man verstanden oder aufrichtig geliebt wird. Alles ist egal, denn in den Gedanken, in den Bildern, die man sieht, fühlt und niemals vergisst, vird das Vergessen nie verschwinden. Irgendwann kommen die Geister der Vergangenheit wieder zu Besuch und erzählen dir alte Geschichten - irgendwann.

LG Det
Vor langer Zeit - Antworten
Seiltaenzerin Ja, leider... :-( so ganz verschwinden wird das nie... aber vielleicht wird es irgendwann leichter.
LG
Vor langer Zeit - Antworten
Bellador Berührend und stark! Ich hoffe dass irgendwann sehr bald ist!
LG Bella
Vor langer Zeit - Antworten
Seiltaenzerin Vielen Dank! Das hoffe ich auch, aber realistisch gesehen weiß ich, dass ich mir noch sehr viel mehr Zeit geben muss.
LG
Vor langer Zeit - Antworten
KaraList Ein starker, gut formulierter Text. Du hast auf "weiterführende Details" verzichtet ... gerade das unterstützt seine Eindringlichkeit.
Sehr gut!
LG
Kara
Vor langer Zeit - Antworten
Seiltaenzerin Danke sehr! :-)
Liebe Grüße
Vor langer Zeit - Antworten
luanna 
Hallo,

harter Tobak für einen friedlichen Sonntag Mittag, jedoch draussen in der empathieverarmten Welt ist sexueller Missbrauch täglich bittere Realität!

"Missbrauch ist Menschen zertreten wie Gras."
© Else Pannek (1932 - 2010), deutsche Lyrikerin

LG

Luanna
Vor langer Zeit - Antworten
Seiltaenzerin Moin,
ich danke dir. Ja, meine Probleme interessieren sich nicht dafür, ob gerade Wochenende ist oder nicht ;-) die Kreativität glücklicherweise genauso wenig.
Das Zitat ist schön... wenn "schön" da der richtige Begriff ist.

Liebe Grüße
Tabea.
Vor langer Zeit - Antworten
Zeige mehr Kommentare
10
14
0
Senden

163577
Impressum / Nutzungsbedingungen / Datenschutzerklärung