Visionen
Ach weißt du, sie hat schon früh darüber nachgedacht, was frei sein bedeutet. Wohl schon damals, als ihr Vater sie in die Freiheit stieß, fortschickte mit den Worten: "Wenn du gehen willst, dann geh und komm nicht zurück!" Dabei deutete er mit dem Finger auf den Horizont. Wie verlockend, denn sie wollte weg, fort aus seinen Fängen, seinem Blickfeld, konnte seine Spitzen und Gewaltausbrüche nicht länger ertragen. Doch wohin mit elf Jahren? Demütig, den Kopf zwischen den Schultern, ging sie wortlos am hämisch grinsenden Vater vorbei zurück ins Haus.
Sie war eben so frei, wie ihre beschei-denden Möglichkeiten es zuließen.
Auch später machte sie die Erfahrung, dass die Freiheit ihre Grenzen hatte. Stürmte sie zu weit vor und ging nicht geradeaus, sondern eigene, neue Wege, bekam sie schnell den Unmut der anderen zu spüren, wurde schließlich ausgegrenzt und verurteilt. Wie frei kann ein Mensch sein, der in der Gemeinschaft lebt und von ihr abhängig ist? Wo sich Menschen zusammenfinden, müssen Kompromisse gefunden und geschlossen werden, um miteinander zu harmonieren. Wie viel Freiheit brauchte sie, um sich zu verwirklichen? Sie flüchtete ins Schrei-ben, reinigte so ihre Seele und ließ ihren
Gedanken freien Lauf. Anders als früher, durfte sie heute beinahe alles laut sagen, denn, wen interessierte es? Jeder klagte und schimpfte über die Missstände, doch das allein brachte keine Veränderung. Sie waren frei im Denken, entwickelten jeder für sich Visionen und wollten die Hoffnung nicht aufgeben, diese eines Tages zu verwirklichen. Die meisten wollten nur in Frieden leben, eine Familie gründen und vielleicht ein paar Träume, wie die vom Reisen und einer gesicherten Zukunft für sich und die Lieben umsetzen. Wir haben in unseren Entscheidungen die freie Wahl, oder etwa nicht? Sind wir nicht alle durch Beeinflussung und Erziehung in unseren
Möglichkeiten eingeschränkt?
Als junges Ding betete sie zu Gott und wünschte sich inständig, dass sie später einen Mann finden würde, der sie liebt und mit dem sie zwei Kinder groß ziehen würde. Eine liebevolle Familie war ihr größter Traum, welcher in Erfüllung gehen sollte. Sie hatte aber in ihrer Verzweiflung vergessen, sich zu wünschen, in der Lage zu sein, die Liebe zu geben, die sie selber nicht erfahren hatte. Darunter sollte sie selbst am meisten leiden.
Heute hofft sie auf Gesundheit und eine Zukunft der Erde, ist dankbar für alles, was sie bisher erreicht hat und erfahren durfte.
Die inzwischen Mittvierzigerin will weiterhin so leben, dass sie am Abend zufrieden in den Spiegel schauen und vielleicht mit achtzig Jahren, wenn ihr Ende nahe ist, wohlwollend und ohne Reue auf ein erfülltes Leben zurück-blicken kann.