Gleichmäßig rann der Regen an den vom Schmutz blind gewordenen Scheiben herab, sammelte sich auf den rissigen Fensterschenkeln und floss dann auf den bröckligen Sims. Von dort suchte er sich einen Weg, um dem Verputz der alten Stadtvilla weiteren Schaden zuzufügen.
Der letzte Besitzer war vor zwanzig Jahren gestorben. Da niemand Anspruch auf die Villa erhob, fiel sie in den Besitz der Stadt. Seitdem war sie unbewohnt, fristete ein unbeachtetes Dasein und verfiel. Obwohl sie unter Denkmalschutz stand, wurden keine werterhaltenden Maßnahmen durchgeführt. Vielleicht fehlte das Geld oder das Interesse
war verloren gegangen.
Der Mann, der auf der anderen Straßenseite unter den ausladenden Zweigen einer Tanne Schutz vor dem Regen gesucht hatte, betrachtete sie mit einem Gefühl der Vorfreude. Er hatte die Kapuze seines Anoraks schützend über den Kopf gezogen, die Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben und unterschied sich nicht von den wenigen Passanten, die an diesem ungastlichen Novembertag unterwegs waren.
Dabei war er ein durchaus in der Öffentlichkeit bekannter Bürger dieser Stadt. Bastian Kröger, erfolgreicher Unternehmer, alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer der "Kröger Antriebstechnik GmbH", Sponsor von Wohltätigkeitsveranstaltungen
und gern gesehener Gast im Rathaus, wenn es um Unterstützung bei geplanten Projekten ging.
Geschäftliche Termine nahm er verantwortungsbewusst wahr, auch wenn sie zuweilen den Besuch von Events erforderten, die nur dem Zweck dienten, eine vorübergehende Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu erzeugen. Privat mied er diese oberflächlichen Veranstaltungen.
Er lebte zurückgezogen in einem für seine Verhältnisse bescheidenen Einfamilienhaus am Rande der Stadt.
Lange Spaziergänge in den umliegenden Wäldern in seiner eng begrenzten Freizeit entschädigten ihn für den stressigen Alltag. Oft setzte er sich auf einen umgestürzten
Baum, manchmal auf einen Baumstamm. Erzwungene Pausen, die ihm ein schmerzender Fuß aufzwang.
Seit zehn Jahren lebte er allein. Seine Frau hatte sich nach nur drei Ehejahren von ihm getrennt. Wie jeder Mensch, hatte auch er seine Eigenarten. Franziska konnte damit nicht umgehen. Das Risiko einer neuen Bindung und einer möglicherweise weiteren Enttäuschung wollte er nicht eingehen. Flüchtige Bekanntschaften, die er auf seinen Geschäftsreisen machte, blieben ohne Nachhall. Er hatte sich an dieses Leben gewöhnt, fand es sogar angenehm.
Er litt weder an Langeweile noch fühlte er sich einsam.
Der Regen hatte an Stärke zugenommen, so
dass die Tanne nicht mehr ausreichend Schutz bot. Schnellen Schrittes ging er zu seinem Auto, das er etwas entfernt vom Grundstückseingang geparkt hatte.
Ein unauffälliger grauer VW Passat. Ihn in dieser ruhigen Wohngegend vor der lange Zeit unbewohnten Villa zu parken, hätte vielleicht die Aufmerksamkeit der Nachbarn geweckt. Das wollte er vermeiden. Es würde sich noch früh genug herumsprechen, dass er die Villa gekauft hatte.
Er fuhr Richtung Stadtgrenze. Der Verkehr war überschaubar. Ungewöhnlich für einen Freitagabend. Es mochte dem Wetter geschuldet sein, wie auch das frühe Einsetzen der Dämmerung. Der feuchte
Anorak lag auf dem Rücksitz, behinderte ihn nicht beim Fahren. Aus den Lautsprechern erklang die Ballettmusik aus "Romeo und Julia".
Er hatte eine CD eingelegt. Ab und an nahm er die Hand vom Lenkrad und machte mit ihr zum Takt der Musik graziöse Bewegungen. In zwanzig Minuten würde er zu Hause sein. Zeit genug, um seinen Gedanken nachzuhängen.
Dass er die Villa gesehen hatte, verdankte er einem Zufall. Ein guter Kunde aus Bremen hatte einen Hinweis bekommen, dass sie zum Verkauf stünde. Da er sich in Berlin nicht auskannte, hatte er ihn gebeten, ihn zum Besichtigungstermin zu begleiten. Eigentlich hatte sein Zeitplan anders
ausgesehen, doch die Bitte abzulehnen schien ihm nicht klug. Immerhin war der Kunde ein Großabnehmer.
Verabredungsgemäß hatten sie sich mit der Maklerin, einem Vertreter der Stadtverwaltung und einem Mitarbeiter der Denkmalschutzbehörde vor dem Grundstück getroffen. Obwohl die Räumlichkeiten und der Verkaufspreis seinem Kunden zusagten, schreckte er vor dem Erwerb zurück.
Die Auflagen der Denkmalschutzbehörde standen den baulichen Veränderungen, die er vornehmen wollte, entgegen.
Doch Bastian hatte sich sofort in die Villa verliebt. Genau genommen, hatte er sich in einen Raum verliebt. Seine Größe von
100 m² mit einer 10 m-Fensterfront an der
Rückseite der Villa erweckte den Eindruck eines Saales. Welchem Zweck er einmal gedient hatte, konnte nur vermutet werden. Vielleicht wurde er als Salon genutzt
in dem man Gäste empfing oder Abendgesellschaften abhielt. Vielleicht fand hin und wieder tatsächlich ein kleiner Ball in ihm statt. Niemand wusste es.
Bastian wusste welchem Zweck der Raum einmal dienen würde. Blitzschnell hatte sich vor seinem inneren Auge ein Bild manifestiert, wie er ihn gestalten würde.
Beziehen würde er die Villa nicht. Sie nur ab und zu nutzen. Er würde wieder tanzen.
Eine Legende warum er die Villa erworben hatte, würde ihm noch einfallen.
Es war Sonnabend. Besuchstag bei seiner Mutter. Leise erklang die Musik aus "Schwanensee" aus dem Autolautsprecher. Einmal im Monat fuhr er in die
70 km entfernt liegende Seniorenresidenz, in der seine Mutter seit drei Jahren lebte.
Nach ihrem zweiten Schlaganfall, der sie an den Rollstuhl fesselte, ihr die Selbständigkeit nahm, weil sie auf Hilfe bei den einfachsten persönlichen Verrichtungen angewiesen war, war es ihr Wunsch gewesen, das große Haus, in dem sie mit ihrem Mann gelebt hatte, zu verkaufen.
Fast körperlich handlungsunfähig, war ihr Geist doch wach geblieben.
Eine Vollzeitpflege in der vertrauten Umgebung lehnte sie ab. Personal, das für
ihr leibliches Wohl und Sauberkeit im Haus
hätte Sorgen können, wollte sie nicht ständig um sich haben.Sie bevorzugte den Kontakt zu Menschen, die gleichgesinnt, die sich dem künstlerischen Milieu verbunden fühlten. In Eigeninitiative konnte sie das nicht mehr bewerkstelligen. So hoffte sie in der Seniorenresidenz, in der sich überwiegend Künstler eingemietet hatten, das entsprechende Umfeld zu finden.
Als Primaballerina an der Staatsoper hatte sie ein erfolgsverwöhntes Leben geführt. Auftritte in Paris, London und Wien bescherten ihr Berühmtheit. Beatrice Larsen war nicht nur Liebhabern des klassischen Balletts ein Begriff.
Die Zeiten ihrer Abwesenheit waren für
Bastian immer besonders schlimm. Er lebte dann bei seiner Großmutter, einer warmherzigen Frau, die ihm die Mutter jedoch nicht ersetzen konnte. Seinen Vater hatte er nicht kennengelernt. Er starb noch vor seiner Geburt bei einem tragischen Unfall. So lebte er mit seiner Mutter allein. Beide verband ein liebevolles und inniges Verhältnis.
Im Kindergartenalter nahm sie ihn oft zu den Trainingsstunden und zu den Ballettproben in die Oper mit. Er saß dann ganz still am Rand des Probenraumes und bestaunte, nein bewunderte seine schöne Mutter. Als er älter wurde, nutzte er jede freie Minute um nach der Schule in die Oper zu fahren.
Wen wunderte es, dass der Wunsch in ihm
keimte, ebenfalls Tänzer zu werden. Als er ihn äußerte, nahm ihn seine Mutter in den Arm.
"Ach, mein lieber Junge, das ist ein hartes Brot. Es bedeutet üben, üben und nochmals üben ... und auf vieles verzichten. Es gibt dir aber auch vieles. Die Fähigkeit perfekt den Körper zu beherrschen, ihn mit der Musik eins werden zu lassen und das so aussehen zu lassen, als wäre es eine mühelose Übung, erfordert Geduld, Kraft und bereitet dir oft Schmerzen. Belohnt wirst du mit der Begeisterung des Publikums."
"Ich möchte tanzen, Balletttänzer werden", war seine kurze Antwort gewesen.
"Gut", sagte sie, "wenn der Trainingsraum frei ist, werden wir einmal in der Woche eine
Stunde üben. Dann sehen wir weiter."
Natürlich wusste sie, dass eine wöchentliche Übungsstunde nicht ausreichen würde.
Er fieberte diesen Stunden immer entgegen und konnte es kaum erwarten, die Ballettschuhe und das enge Trikot wieder anzuziehen. Konzentriert folgte er den Anweisungen seiner Mutter. Drehte sich, breitete die Arme aus, versuchte den Hals zu strecken, übte sich an den ersten Sprüngen.
Wenn er das Aufleuchten in den Augen seiner Mutter sah, war ihm das Lob genug.
Dann hatte er eine Arabesque oder ein Passé besonders gut getanzt. Dass er Schmerzen hatte verschwieg er.
In Wien lernte seine Mutter Heinz Kröger kennen. Den Mann, der in derselben Stadt wie sie lebte und ihre zweite große Liebe wurde. Bastian war wenig angetan von der nunmehr unterbrochenen Zweisamkeit, die er mit seiner Mutter genoss. Er war gerade zwölf Jahre alt geworden und hatte seine Mutter, da gerade Ferien waren, nach Wien begleitet. Die Ballettschule auf die er seit einem Jahr ging, hatte ebenfalls Sommerpause. Seine Mutter hatte ihn dort angemeldet, da sie häiufigere Trainingsstunden für notwendig hielt. Den Probenraum in der Oper konnte sie nicht uneingeschränkt nutzen. Er war dem Ensemble vorbehalten.
Außerdem stellte sie bei Bastian zunehmend Ermüdungserscheinungen fest, die sie auf ihre mangelnde Lehrmethode zurückführte. Dass er Schmerzen hatte wusste sie nicht. Seine Angst war zu groß, dass er keinen Unterricht mehr nehmen dürfte, wenn er sich seiner Mutter offenbarte.
Die zwei Wochen in Wien vergingen wie im Fluge. Die Wiener Staatsoper hatte seiner Mutter die Chefchoreografie des Ballettensembles angeboten und stellte in Aussicht, sie später als Ballettdirektorin einzusetzen. Sie hatte um vier Wochen Bedenkzeit gebeten ... und lehnte ab.
In Berlin hatte sie sich häufig mit Heinz Kröger getroffen. Sie hatte sich verliebt. Eine Fernbeziehung wollte sie nicht führen. Durch
ihre Gastauftritte im Ausland waren sie schon ofr genug getrennt. Er war standortgebunden, da sein großes Unternehmen in Berlin war.
Bastian hatte nach anfänglichen Berührungsängsten Sympathie für den Freund seiner Mutter entwickelt. Schon ein Jahr nach ihrem Kennenlernen heirateten Heinz Kröger und seine Mutter. Sie zogen in das Haus seines Stiefvaters. In ihm fand Bastian einen verlässlichen Freund und Mentor.
Wenige Tage nach seinem achtzehnten Geburtstag wurde er adoptiert. Sein Stiefvater hatte gewartet bis Bastian das Alter und eine entsprechende Reife besaß, um diese Entscheidung mittreffen zu
können. Zu diesem Zeitpunkt besuchte er die Ballettschule schon lange nicht mehr. Sein Traum war zerplatzt. Eine unbehandelte Stressfraktur des rechten Mittelfußes war daran Schuld. Deshalb hatte er bei Belastungen des Fußes immer Schmerzen. Den vom Zeh gestreckten Fuß bis zum Schienbein in eine gerade Linie zu positionieren würde ihm nie gelingen.
Seine Mutter machte sich Vorwürfe, dass sie das nicht bemerkt hatte. Die Erfahrung hätte es sie erkennen lassen müssen. Ihre tröstenden Worte prallten an ihm ab, er zog sich zurück und trauerte seinen Träumen nach. Erst ein Gespräch mit seinem Stiefvater öffnete ihm die Augen.
"Wolltest du tanzen, weil du Spaß daran
hattest oder wolltest du auf der Bühne vor Publikum glänzen?", fragte er ihn. Er konnte die Frage nicht beantworten. Mit vierzehn Jahren differenzierte man noch nicht. Aber er dachte darüber nach.
Nach einigen Tagen sagte er zu seinem Stiefvater:
"Das Tanzen macht mir Spaß. Ich mag es, mich zu den Klängen der Musik zu drehen, zu wenden, Figuren zu kreieren."
"Dann mach es zu deinem Hobby. Das Haus ist groß genug. Du kannst im Wintergarten tanzen, in der Diele oder im Wohnzimmer. Du bist keinem Leistungsdruck unterworfen und tanzt eben nur so lange, dass es dir keine Schmerzen bereitet. Beruflich musst du dich jedoch neu
orientieren. Wenn du möchtest, helfe ich dir dabei."
Und Bastian tanzte, in jeder freien Minute.
Oft schaute seine Mutter ihm zu, gab Hinweise, lobte, tadelte, verlor nicht aus den Augen, dass ihm Grenzen gesetzt waren.
Manchmal tanzte sie mit ihm gemeinsam.
Wenn sie die Musik aussuchte, wusste er, was sie wählen würde. Tschaikowskis "Nussknacker". Sie würden einen Pas de deux tanzen. Zuckerfee und Prinz. Es waren seine schönsten Erinnerungen an das Tanzen.
Nach dem Abitur ging er nach Hamburg um Maschinenbau zu studieren.
Die Entscheidung, dass er in der Firma seines väterlichen Freundes arbeiten würde,
war längst gefallen. Trotz eines finanziellen Polsters wollte er in Hamburg keine Wohnung beziehen und lebte in einer Studenten-WG.
Zeit und Räumlichkeiten fehlten, um seiner Tanzleidenschaft weiter zu frönen.
Wenn er in den Semesterferien zu Hause war, dann tanzte er jedoch hin und wieder. Und wie früher, schaute seine Mutter ihm zu.
Sie hatte inzwischen die Choreografie des Balletts der Berliner Staatsoper übernommen.
Sein Arbeitsleben nach dem Studium in der Firma bescherte ihm schmutzige Hände.
Erst nach und nach erklomm er die Stufen in die Chefetage. Im Fernstudium machte er nebenbei seinen Abschluss in
Wirtschaftswissenschaften. War er zu ehrgeizig? Zu seiner Mutter sagte er:
"Wenn ich das eine nicht machen kann, werde ich das andere wenigstens richtig machen."
War er glücklich? Diese Frage hatte er sich nie gestellt. Er war zufrieden.
Als er mit Franziska am Stadtrand das eigene Haus bezog, machte er ab und an ein paar Tanzübungen. Er wollte nicht gänzlich einrosten. Doch Franziska befremdete das. Es führte dazu, dass sie noch nicht einmal Ballettaufführungen in der Oper mit ihm besuchte.
Und dann starb Heinz Kröger. Plötzlich. Unerwartet. Von heute auf morgen übernahm Bastian die Leitung und damit die
Verantwortung für die Firma. Das war vor zehn Jahren.
Entschlossen löste sich Bastian von den Gedanken an die Vergangenheit.
Er bog in die Zufahrtstraße zur Seniorenresidenz ein. Heute würde er seine Mutter überraschen. Ein Lächeln zog über sein Gesicht.
Er suchte im Schrank nach einer Vase für die Blumen, die er seiner Mutter mitgebracht hatte. Sie saß im Sessel.
Der kleine Mahagonitisch vor ihr war bereits gedeckt. Für Kaffeetassen, Kaffee und Kuchen hatte das Personal gesorgt.
"Irgendetwas ist passiert. Du bist heute so aufgekratzt, irgendwie anders", sagte sie.
Ihre Sprache war verwaschen. Deutlich artikulieren konnte sie seit ihrem zweiten Schlaganfall, der nicht nur den linken Arm und das linke Bein lähmte, sondern auch das Sprachzentrum betroffen hatte, nicht mehr.
Bastian stellte die Vase mit den Lilien auf eine Anrichte. Dann ging er zum Tisch und goss Kaffee ein. Den Sessel, in dem seine Mutter saß, schob er näher an den Tisch, damit sie mit einer Hand, bequemer an Kuchenteller und Tasse gelangen konnte.
Dann sprudelte es aus ihm heraus.
"Ich habe eine Villa gekauft. Schon vor einem Jahr ...".
Er erzählte, was ihn dazu bewogen hatte,
wie aufwendig die Renovierungs- und
Restaurationsarbeiten waren, dass er die Villa inzwischen zweimal einem guten Kunden aus Hannover für einen dreitägigen Geschäftsbesuch zur Verfügung gestellt hatte. Diesem Zweck würde die Villa auch weiterhin dienen. Er hatte einige Kunden, die so eine Unterkunft, einem anonymen Hotelzimmer vorzogen. Diese Nutzung lieferte ihm die Erklärung für den Erwerb der Villa.
"... aber du hättest doch unser großes Haus beziehen können. Umbauten wären ohne Einschränkungen möglich gewesen",
unterbrach ihn seine Mutter.
"Ich habe so viele Jahre nicht getanzt, dass mir das gar nicht in den Sinn gekommen ist. Es wäre auch keine gute
Idee gewesen. Wie hätte ich den Umbau erklären sollen. Ich habe auch hin und wieder Gäste. Was hätten sie wohl zu einem saalähnlichen Raum gesagt?
Der Saal in der Villa ist verschlossen. Er ist übrigens wunderschön geworden.
Die Kunden, die nur zwei oder drei, höchstens vier Tage in der Villa übernachten, interessiert er nicht. Die ihnen zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten genügen ihnen vollends."
"Daraus schließe ich, dass du deine Tanzleidenschaft vor anderen immer noch verbirgst. Warum nur? Es ist doch ein wunderbares Hobby."
"Ach Mama, was würde man über mich sagen, wüsste man von meiner
Leidenschaft."
"... aber die Zeiten haben sich geändert.
Nun, bei mir ist dein Geheimnis sicher."
Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihr Gespräch. Eine junge Frau betrat das Zimmer.
"Entschuldigen Sie die Störung, Frau Larsen, aber es ist Zeit für Ihre Spritze ..."
"Schon gut, mein Sohn bleibt ja noch ein bisschen."
Bastian war aufgestanden und ans Fenster getreten. Katharina Weigel fuhr mit ihrem Elektro Scooter gerade vom Park- auf den Hauptweg. Sie und seine Mutter hatten schnell Freundschaft geschlossen. Eine Bibliothekarin, die früher einen kleinen Buchladen betrieben hatte. Eine Erbschaft
gestattete ihr, sich in der Seniorenresidenz eine kleine Wohnung zu mieten.
Geschlossene Räume boten ihr Sicherheit. In ihrer Wohnung konnte sie mit Hilfe von zwei Gehhilfen den Alltag, bis auf einige Einschränkungen, noch bewältigen. Die beiden Frauen verbrachten viel Zeit gemeinsam. Oft saßen sie im Park - eine Pflegekraft schob seine Mutter im Rollstuhl dorthin, da sie ihn selbst nicht bedienen konnte -, führten lange Gespräche, und manchmal las Katharina seiner Mutter vor. Es mangelte seiner Mutter auch nicht an anderen Kontakten in der Residenz. Bastian war froh darüber.
"Gibt es draußen etwas zu sehen?", rief seine Mutter.
"Frau Weigel ist gerade aus dem Park gekommen."
"Sie hatte heute Besuch. Bestimmt kommt sie am Abend noch zu mir."
Bastian ging zurück zum Tisch. Dabei fiel sein Blick auf einen Obstteller mit Weintrauben und Aprikosen, der auf einem zweiten Mahagonitisch in der Nähe des Fensters stand. Seine Mutter hatte ihre eigenen Möbel in die Residenz mitgenommen.
Jetzt lachte sie laut.
"Das Obst hat mir Katharina gestern mitgebracht. Wir bekommen hier alles, doch den Wochenmarkt freitags im Ort lässt sie sich nicht entgehen. Dann kann ich mit meinem "Mercedes" ´mal ein bisschen
weiter fahren, sagt sie immer. Manchmal bringt sie mir Blumen, machnmal saure Gurken. Sie ist so eine Liebe. Nun, du kennst sie ja inzwischen."
Bastian setzte sich wieder in den Sessel und griff nach der gesunden Hand seiner Mutter.
"Mama, am nächsten Sonnabend hole ich dich ab. Du sollst den Saal sehen ... und ich werde tanzen ... für dich ... wie früher.
Seit einem viertel Jahr trainiere ich wieder. Ich war ein wenig eingerostet und musste mich recht anstrengen, aber die Schrittfolgen beherrschte ich noch."
"Junge, wie soll das gehen? Ich bekomme regelmäßig Medikamente, täglich meine Spritze ... und ich müsste vielleicht auch
einmal auf die Toillette. Bei Letzterem benötige ich schon besondere Hilfe."
"Ich werde alles mit den Verantwortlichen absprechen. Es wird doch ein Zeitfenster geben, das frei von Maßnahmen oder Behandlungen ist. Möglicherweise lässt sich auch etwas verschieben. Es würde sich ja nur um höchstens vier Stunden handeln. Wir waren schon gemeinsam in dem kleinen Eiscafe im Ort und mit Frau Weigel bist du manchmal zwei Stunden im Park.
"... aber das ist alles in der Nähe der Residenz ..." seufzte sie.
Sie verließ ungern das Areal der Residenz. Es gab ihr Sicherheit. Er wusste das.
"Mach´dir keine Sorgen. Das schaffen wir beide."
Als er seine Mutter verließ, war ein Strahlen in ihren Augen, wie er es lange nicht mehr gesehen hatte. Absprache mit der Leiterin des Pflegepersonals hatte er bereits getroffen.
Während der Rückfahrt erklang die Musik aus "Giselle".
Als am Sonntagmorgen das Telefon klingelte, goß er sich gerade seine Tasse Kaffee ein. Das Frühstück wollte er an diesem Morgen etwas länger ausdehnen, bevor er in die Villa fuhr.
"Herr Kröger", meldete sich die Leiterin der Seniorenresidenz, "Ihre Mutter hatte heute Nacht einen Schlaganfall. Leider konnten unser Hausarzt und der gerufene Notarzt ihr nicht mehr helfen. Sie verstarb kurz nach
dem Eintreffen des Notarztes."
Nach Erhalt der Todesnachricht war er in die Residenz gefahren, um in einem persönlichen Gespräch Einzelheiten zu erfahren. Vom Pflegepersonal erfuhr er, dass seine Mutter am Abend ungewöhnlich aufgeregt war. Es war wohl die Freude über den bevorstehenden Ausflug, aber auch die Sorge, ob alles gut gehen würde. Obwohl das Personal ihr versichert hatte, dass schon alles abgesprochen war, mischte sich ihre Freude mit den immer wieder auftretenden Ängsten. Bastian machte sich Vorwürfe. Hatte er seine Mutter überfordert, sie gar überrumpelt.? Doch die Freude war ihr anzusehen gewesen, allerdings auch ihre
Sorge. Die Gefühle, die ihn bewegten, wechselten von tiefer Trauer zu Unverständnis, weil sie ihm nicht vertraut hatte ... und der großen Enttäuschung, dass sie ihn nicht mehr tanzen sehen konnte.
Die Woche war angefüllt mit der Abwicklung von Formalitäten, die der Tod seiner Mutter erforderte. Seine geschäftlichen Termine nahm sein Stellvertreter wahr. Nur wenn seine Anwesenheit unbedingt erforderlich war, erschien er zu einer Beratung.
Am Freitag fuhr er ein letztes Mal in die Residenz. Er benutzte einen Firmentransporter, da er die beiden Mahagonitische, an denen seine Mutter so gehangen hatte, und zwei Ölgemälde abholen wollte. Die übrigen Möbel überließ
er der Residenz, da von dieser schon Interesse bekundet wurde. Er hätte auch einen Mitarbeiter beauftragen können den Transport abzuwickeln. Doch die Direktorin benötigte von ihm noch einige Unterschriften, also erledigte er alles mit einem Mal.
Jetzt saß er ihr gegenüber, während sie ein Formular ausfüllte. Auf dem Tisch stand eine kleine Kassette. Sie enthielt den wenigen Schmuck seiner Mutter. Sie war keine Schmuckträgerin. Nur zwei Schmuckstücke trug sie mit Freude. Die Perlenohrringe, die ihr Bastians leiblicher Vater geschenkt hatte, und die Goldkette mit dem großen Kunzitanhänger von seinem Adoptivvater.
Er unterschrieb das Formular, das ihm die Direktorin über den Tisch schob, griff nach
der Kassette und verabschiedete sich. Im Hinausgehen blickte er aus dem Fenster.
Frau Weigel fuhr mit ihrem "Mercedes" auf dem Hauptweg in Richtung Zufahrtstraße.
Die beiden Kronleuchter warfen ihr Licht auf die Mitte des Saales. Die schweren altrosa Samtvorhänge an der Fensterfront waren zugezogen. An der gegenüberliegenden Wand beleuchteten Wandlampen die kleinen Sitzgruppen, die in Abständen dort platziert waren. Aus dem Lautsprecher erklang die Fantasie-Ouvertüre aus "Romeo und Julia". Das Interieur ähnelte einem Bühnenbild. Langsam erloschen die Wandlampen. Die Sitzgruppen waren nur noch schemenhaft zu erkennen. Das Licht der Kronleuchter
dimmte ein wenig dunkler. Die Musik klang aus.
Neue Klänge durchdrangen den Saal. Bastian tanzte den Romeo, drehte sich geschmeidig, streckte die Arme, leistete hervorragende Fußarbeit, verschmolz mit der Musik und der Bühnenfigur. Seine Sprünge waren nicht hoch, aber perfekt. Standsicher.
Der Blick der Frau, die in einem Sessel an der Wand saß, war starr auf einen imaginären Punkt gerichtet. Ihre Augen folgten nicht den graziösen Bewegungen des Tänzers. Ruhig lagen ihre Hände im Schoß. Das einzige Leben bildete der große Edelstein an ihrem Dekolleté, der in der Dunkelheit das vormals eingefangene Licht versprühte.
Bastian hatte seinen Tanz beendet. Elegant verbeugte er sich. Keine Hände erhoben sich um ihm Beifall zu spenden.
Der geschäftliche Alltag hatte Bastian wieder eingeholt. Termine mit Kunden, Abteilungsleitermeetings, Geschäftsessen, Beratungen mit seinen engsten Mitarbeitern über geplante Investionen ... er kam kaum zum Luftholen. In einer Woche war die Beerdigung seiner Mutter, größer als er es wünschte. Doch seine Familie war bekannt, seine Mutter einmal berühmt gewesen. Entsprechend groß würde die Trauergesellschaft sein. Er wünschte, dieser Tag wäre schon vorbei.
Er war froh, dass endlich Freitag war.
Heute abend würde er sich mit einem Glas Wein und guter Musik auf seine Terrasse setzen und einmal an gar nichts denken.
Die Sekretärin brachte ihm, wie immer um diese Zeit, wenn er im Büro war, Kaffee und die Zeitung.
Gewohnheitsmäßig las er zuerst den Wirtschaftsteil, überblätterte die Politnachrichten und las dann den Lokalteil.
Sein Blick streifte den Polizeireport und blieb an einer Meldung hängen.
Die Polizei bittet um Mithilfe.
Seit vergangenen Freitag wird Katharina W. vermisst. Sie trug eine weiße Bluse und eine dunkelblaue Hose. Die Seniorin ist Rollstuhlfahrerin und Bewohnerin der Seniorenresidenz "Bettina von Arnim".
Sie wurde zuletzt auf dem Wochenmarkt
in Storkow gesehen.
Die Polizei schließt nicht aus, dass sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein könnte. Zweckdienstliche Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle entgegen.
Bastian faltete die Zeitung zusammen und warf sie in den Papierkorb.
Morgen würde er in die Villa fahren. Seit einer Woche hatte er nicht mehr trainiert. Seine nächste Aufführung musste gut vorbereitet werden.
Brubeckfan LIebe Kara, da bleibt bißchen was offen für die Phantasie am Winterabend. (Du magst Norman Bates?) Du hast wie immer die Motive überzeugend zusammengestellt, und kein Detail zuviel. Nur die Kommas... um wenigstens etwas zu meckern. Viele Grüße, Gerd |
KaraList Lieber Gerd, Norman Bates mag ich nicht, aber den Film. :-) Ja, die Geschichte bleibt offen ... welche Vorbereitungen wird Bastian für seine nächste "Aufführung" treffen? Kommas???? ... ich gehe recht großzügig mit ihnen um ... oder bin ich doch zu sparsam ... oder sind sie falsch gesetzt ... letzteres wäre fatal. :-))) Ein herzliches Dankeschön für das Weihnachtsgeld. Freu! LG Kara |
Brubeckfan Kommas fehlen hier immer mal. Im 2. Satz würde ich eins setzen, in der Mitte der S. 6 und 8, na ja. Gemütlichen Advent! Gerd |
KaraList Im 2. Satz kommt auch ein Komma hin! :-) Schon erledigt! S. 6 habe ich auch schon abgearbeitet. Manchmal bin ich fleißig. Der Rest kommt nach und nach. Das geht ja gar nicht, dass über meine Interpunktion gemeckert wird. :-)) Ich wünsche Dir einen schönen 1. Advent, lieber Gerd. LG Kara |
Brubeckfan "Manchmal bin ich fleißig"... 40 Seiten sprechen irgendwie dafür... |
Bleistift "Pas de deux..." Der Titel bleibt dem Inhalt auf makabere Weise treu, auch wenn sich diese Geschichte zum Ende hin ins moralisch Dunkelschwarze zu verfärben beginnt... ...smile* Dennoch auf Deine ganz eigene Weise, mit Sorgfalt und wohlgewählten Worten geschrieben... ...smile* LG Louis :-) |