Dunkel und bedrohlich lag die Höhle vor ihm. Er dachte an die Worte seines Vaters: „Pass auf, das die Achtern dich nicht bei Tageslicht entdecken.“ Velm fürchtete sich, aber er wusste, er musste gehen. Er wusste, das Schicksal seiner Familie und der ganzen Sippe hing von ihm ab. Mit letzter Kraft schleppte er sich in die Höhle. Jetzt erst spürte er die Erschöpfung und die Müdigkeit. Er lehnte sich an die Höhlenwand und schloss für einen Moment seine Augen. Dann ließ er sich an der Höhlenwand hinab gleiten. Sein Kopf sank auf seine Brust und er schlief ein.
Als er die Augen erschrocken aufriss, merkte er, dass der Abend nahte. Es hatte aufgehört zu schneien, aber dafür legte sich langsam Dunkelheit über das Land. Mühsam raffte der kleine Junge sich auf und ging tiefer in die Höhle hinein. In einiger Entfernung entdeckte er einen schwachen Lichtschein. Woher mochte der kommen? Wenn ich dahingehe, dann werde ich es feststellen, dachte er bei sich und machte sich auf den Weg. Ab und zu stieß er an feuchte Felswände. Die Arme weit ausgestreckt tastete er sich mühsam vor, um sich nicht zu verletzen. Nur allmählich wurde es heller. Schließlich erreichte er die Höhle des Drachen. Nie hätte er gedacht, dass ein Drache so groß sein könnte. Er hatte ihn zwar fliegen sehen, aber er da wusste er nicht, wie hoch der Drache war. Nun lag er vor ihm in seiner ganzen enormen Größe. Velm kam es so vor, als könne der Drache mit seinem Körper das ganze Dorf, in dem er aufgewachsen war, bedecken. Kinder haben aber für Größen und Entfernungen ein völlig anderes Empfinden als Erwachsene, so dass der Drache für ihn größer erschien, als er tatsächlich war.
Velm sah dünnen Rauch aus den Nüstern des Drachen emporsteigen. Er sah auch, dass die Schwanzspitze des Drachen aufgeregt hin und her schwang. Das Tier atmete schwer. Velm trat näher heran. Als er nur noch wenige Meter vom Drachen entfernt war, öffnete dieser seine Augen. Velm erkannte, dass er sich in diesen Augen spiegelte. Mühsam hob der Drache seinen Kopf und blickte auf seine Achselhöhle. Velm folgte diesem Blick und erkannte die Verletzung des Drachen. Blut tropfte gleichmäßig aus der Wunde, in der noch eine Speerspitze steckte. Die Achtern, dachte Velm, die haben ihm das angetan. Ich muss etwas machen, aber was? Zaghaft trat das Kind näher an dieses mächtige Wesen heran. „Ich tu dir nichts, ich will dir nur helfen“, flüsterte er. Durch ein Blinzeln ließ der Drache Velm erkennen, dass er es wusste und dass er den Knaben verstand. „Ich muss dir etwas wehtun, wenn ich denn Speer hinausziehe“, sprach Velm und umfasste mit kräftigem Griff das Ende des Speeres. Er musste einen Fuß gegen den Drachen stemmen, weil er den Speer sonst nicht hätte herausziehen können. Ein Zucken glitt über den Drachenkörper. Für einen Moment wich Velm erschreckt zurück. Er hatte den Speer herausgezogen und hielt ihn fest in seiner Hand.
Allerdings tropfte das Blut nun nicht mehr, sondern es floss aus der Wunde heraus. Velm wusste, wenn er jetzt nicht handeln würde, dann würde der Drache verbluten. Was aber sollte er tun? Er war doch nur ein kleiner Junge. Wie konnte er dem Drachen helfen? Wenn er sterben würde, dann wäre auch sein Volk verloren und alles wäre umsonst.
Plötzlich wusste er, was zu tun war. Er war Velm, das Drachenkind, er verfügte über Kräfte, die sonst keiner besaß. Velm steckte seinen Arm tief in die Wunde hinein und umschloss mit seinen Fingern die verletzte Ader. Dabei lehnte er sich fest an den Drachenkörper. Er fühlte die Nähe, die Wärme und die Verbundenheit. Er fühlte aber auch, wie sich die Wunde schloss. Velm fühlte sich stark wie nie zuvor in seinem Leben. Jetzt wusste er, dass er auserwählt war. Jetzt wusste er, dass er seinen Weg gehen könnte und auch gehen würde.
Er zog seinen Arm aus der Wunde heraus und sah, dass sich die Wunde des Drachen langsam schloss. Die Blutung hörte auf. Noch einmal blinzelte der Drache, dann schlief er ein.
Erschöpft, aber glücklich, schmiegte Velm sich in die eben versorgte Achselhöhle des Drachen und schlief glücklich und zufrieden ein.