Kurzgeschichte
Engel im Schnee - Eine Weihnachtsgeschichte

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"Zunächst war die Katze darin verschwunden, dann der Hund, später gar die Kühe und letztlich sogar..."
Veröffentlicht am 28. November 2017, 36 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Ich ...bin Österreicherin ...studiere Archäologie, Germanistik und Geschichte ...vertrage Kritik, solange sie begründet und ehrlich ist ...lese quer durch viele Genres ...glaube anders als Max Frisch und ähnlich wie Bert Brecht dass Literatur sehr wohl (wenn auch nur in geringem Maße) dazu beitragen kann, gesellschaftiche Veränderungen zu erwirken
Zunächst war die Katze darin verschwunden, dann der Hund, später gar die Kühe und letztlich sogar...

Engel im Schnee - Eine Weihnachtsgeschichte

Dicke Schneeflocken rieselten vom Himmel, färbten den Morgen grau-blau und erlaubten dem Tag nicht so recht zu erwachen. Raschelnd versuchten die Fichten Widerstand zu leisten, während Dächer und Balkone schon längst unter einer weißen Decke verschwunden waren, eins geworden mit der kristallinen Welt, die sie umgab. Stille schlich durch die Fensterscheiben, kroch eine Weile am Boden entlang, streifte den Teppich, kletterte sogleich den Bettpfosten hinauf unter die Decke und umfing das Mädchen, das augenblicklich die Augen aufschlug und tief einatmete. Es musste gar nicht erst nach draußen sehen, um zu wissen, dass es schneite.

Schon flog die Bettdecke zur Seite, kleine Füße setzten auf dem Teppich auf und trugen den zierlichen Körper zu den Vorhängen, die das Zimmer in sanftes Gelb tauchten. Mit einem Ruck wurden sie weggezogen und der Winter konnte dem Kind ungehindert ins Gesicht blicken. Eine Hand klatschte an die Scheibe, als wolle sie hindurch greifen, um sogleich einen Schneeball zu formen. Alles sah so weich aus, so angenehm ganz und schwerelos. „Katharina!“ Der Ruf störte die Ruhe, war aus der Küche gekommen und den Gang heraufgeschwebt, um das Kind deutlich

unsanfter zu wecken, als es der Schnee getan hatte. Völlig vertieft in den Anblick der umherwirbelnden Flocken, die ihr gesamtes Blickfeld ausfüllten und es unmöglich machten, die Berge im Hintergrund zu erkennen, rührte sich Katharina nicht. Somit musste die Mutter ein zweites Mal rufen, gar ein drittes Mal, bis die Staunende sich endlich vom Treiben dort draußen lösen konnte und mit bloßen Füßen zur Treppe hastete. Zurück blieb nur der Abdruck ihrer Finger auf dem Glas. Von Stufe zu Stufe hopsend näherte sich das Mädchen dem Stimmengewirr, das aus dem letzten Zimmer im Gang herüberwaberte. Seine Füße waren durch

den kalten Fliesenboden inzwischen fast taub geworden. Dennoch trat es mit einem breiten Lächeln ein, flitzte zuallererst zum Adventskalender, der neben dem Kühlschrank an der Wand hing und öffnete mit flinken Fingern die 23, deren Position es schon gestern Abend genauestens überprüft hatte. Sekunden später lag die Süßigkeit auf ihrer Zunge und begann zu schmelzen. Nun konnte sie sich auf die Eckbank setzen und mit den Erwachsenen frühstücken, deren Gespräch den morgendlichen Schneefall nicht angemessen zu würdigen schien. Ihre Mutter wedelte mehrmals zerstreut mit den Händen, strich sich damit das dunkle

Haar aus dem Gesicht und klagte darüber, dass das Auto einfach nicht anspringen wollte und selbst wenn es wieder laufen würde, so wären die Straßen momentan so tückisch und ungeräumt, dass sie es gar nicht erst wagen würde, einen Fuß darauf zu setzen. „Wenn nur der Papa da wäre“, seufzte sie und lächelte Katharina dabei traurig an, die noch nicht wusste, dass der es wohl nicht bis zum morgigen Weihnachtsfest nachhause schaffen würde. Die Großmutter versuchte indessen dem Kind Wollsocken über die kalten Füße zu ziehen, scheiterte jedoch daran und legte die dicken grauen Strickerzeugnisse

kopfschüttelnd an ihrer Seite ab. Sofort griff das Mädchen danach und wenig später konnte es seine Zehen wieder fühlen. Wo denn der Papa sei, wollte das Kind nun wissen und ob er bald da sein würde, es müsse ihm nämlich etwas Wichtiges erzählen. Sie, die sie hier alle am Tisch säßen, würden das nicht verstehen können. Nur der Papa dürfe es hören. Niemand wollte so recht das Antworten übernehmen. Die Großmutter rührte in ihrem Kaffee, der Großvater blickte gedankenverloren auf das Butterbrot, das vor ihm auf dem Teller lag, als könne er sich nicht dazu entschließen, ob er es essen wolle oder nicht und die Mutter

hatte sich erhoben, um sich noch einen Kaffee zu machen. Das Schweigen genügte Katharina jedoch keineswegs als Antwort. Sie bohrte weiter nach, ließ nicht locker und schaffte es schließlich, der Mutter zu entlocken: „Er wird bald da sein.“ Dies klang zwar wenig überzeugend, genügte aber, um sie erst einmal zufrieden zu stellen und sich wichtigeren Dingen zuzuwenden. Wann denn das Christkind den Christbaum bringe, wollte sie wissen. Letztes Jahr wäre der ja schon recht früh dagewesen. Wieso er jetzt noch nicht da sei, ob es sich etwa verflogen hätte bei dem ganzen Schnee und so. Mit jedem Wort, das gesprochen

wurde, schien die Mutter unglücklicher zu werden. Ihre Hände waren nun fest um die Kaffeetasse geklammert, als sie noch einmal nach draußen sah, wo das Weiß noch immer die Umgebung aufsaugte, keine Ecken und Kanten übrig ließ, an denen man sich hätte festhalten können. „Weißt du“, begann da die Großmutter, der das Rühren nun doch zu anstrengend geworden war, „weißt du, als ich noch jünger war, nur ein bisschen älter als du jetzt, da hat das Christkind auch einmal lange auf sich warten lassen.“ Neugierig blickte Katharina auf und wartete auf mehr. Auch der Großvater hob nun den Blick und schien sich in den Augen seiner Ehefrau zu verlieren, in

denen sich eine Geschichte abzuspielen begann, die auch das Kind in seinen Bann zog. Es war kalt gewesen, furchtbar kalt und stürmisch. Der Schnee hatte sich nicht auf den Bäumen halten können, war dennoch unaufhaltsam vom Himmel gefallen, Stunde um Stunde, Tag um Tag. Zunächst war die Katze darin verschwunden, dann der Hund, später gar die Kühe und letztlich sogar der Urgroßvater selbst, der heroisch mit der Schaufel in der Hand gegen den Winter kämpfte, um wenigstens den Weg zum Stall einigermaßen begehbar zu halten. Da mussten ja auch die Kinder hin, um

Eier einzusammeln, Hühner und Schafe zu füttern, die Kühe zu striegeln und beim Ausmisten zu helfen. So flossen die Tage dahin, grau in grau der Himmel, weiß die Welt, der Blick am Zaun, der das Grundstück begrenzte, brechend. Einzig der Kalender, der in der Küche hing und an dem man die Tage bei Anbruch der Nacht abrechnete, wusste noch wie nah das Weihnachtsfest bereits gerückt war. Die Kinder hatten kaum Zeit gehabt, in Vorfreude zu schwelgen, so beschäftigt waren sie gewesen mit der Stallarbeit und dem Schneeräumen, zu dem sie der Vater oft mitnahm. Die Schule hatten sie seit Tagen nicht besucht, zu weit und zu gefährlich wäre

der Weg dorthin gewesen. So machten sie das Beste aus ihrer Zeit, tollten, wenn sie nicht gebraucht wurden, im Schnee herum, bauten Häuser, Männer und Tiere, formten Engel und tunkten einander ein. Einmal holten sie unter Aufsicht des Vaters sogar ein Kalb aus dem Stall, angeleint, um ihm den Schnee zu zeigen. Nacheinander wurden sie von dem Tier, das freudig durch die Wehen sprang, hinterhergeschleift als stünden sie auf Skiern, bis sie einknickten und am Bauch weiterschlitterten. Waren sie draußen, so wurde viel gelacht. Erst wenn sie ins Haus zurückkamen, von oben bis unten durchnässt, mit roten Wangen und Nasen, steifgefrorenen

Fingern, die kribbelten, sobald sie sich der Wärme des Ofens näherten, als würden tausende kleiner Ameisen darin herumkrabbeln, drückte ihnen die Stille auf Ohren und Brust, schnürte die Freude ein und ließ jeden Ansatz eines Lachens bereits in der Kehle ersticken. Denn die Mutter war krank, schon seit Wochen, konnte sich kaum aus dem Bett bewegen, um mit ihnen zu essen und reagierte empfindlich auf Lärm, der ihr körperlich wehzutun schien. Man bemühte sich, leise zu sein in ihrer Nähe, ja keinen unnötigen Laut von sich zu geben. Das hatte ihnen auch der Vater eingeschärft. Deshalb hielten die Kinder sich fern von ihr, soweit es eben ging.

„Das ist keine schöne Geschichte“, warf Katharina da ein, die kurzfristig aus der Trance erwacht war, in welche die Geschichte sie bisher versetzt hatte. Ihre Großmutter sah sie aufmerksam an und nickte, lächelte jedoch zugleich und meinte: „Warte, Kathi, die Geschichte geht noch weiter. Sie wird besser, das kann ich dir versprechen.“ Daraufhin nickte auch der Großvater, der immer noch abwesend wirkte, als wüsste er bereits, was noch kommen würde. „Die Mutter war nicht ganz allein“, fuhr die Großmutter fort und das Mädchen

begann sofort wieder zu lauschen und sich in der verschneiten Erzählung zu verlieren. Die älteste Tochter wich tagsüber nicht von ihrer Seite, half ihr beim Waschen, beim Essen und war stets da, wenn die Mutter sonstige Bedürfnisse hatte, bei denen sie Unterstützung benötigte. Nebenbei war sie es nun, die den Haushalt organisierte. Sie kochte, teilte die Geschwister zum Putzen, Abwaschen und Kehren ein, flickte Löcher in Hosen, Hemden und Socken, achtete darauf, dass das Feuer nie ausging und brachte abends alle zu Bett, selbst wenn sie sich dagegen sträubten.

So war auch sie es, die als erste besorgt zum Fenster hinaus blickte, als der Vater am Abend eines langen Tages noch immer nicht nachhause gekommen war. Am Morgen war er aufgebrochen, um einem Bauern, dessen Schafe ausgebüxt waren, bei der Suche nach den Tieren zu helfen. Es war schon zu finster, um noch etwas klar erkennen zu können, dennoch hielt sie Ausschau in der Hoffnung, seine Laterne bald am Tor aufleuchten zu sehen. Das Licht aber blieb aus, obwohl sie die ganze Nacht lang wartete, den Tag nicht endgültig am Kalender als vorübergezogen anstreichen wollte; nicht solange nicht alle zuhause waren.

So graute der Morgen des 23. Dezember ohne sich deutlich vom Grau der dahinscheidenden Nacht abzugrenzen. Plötzlich war es Tag und die älteste Tochter wusste nicht, was sie den Geschwistern sagen sollte, die nun eines nach dem anderen in die Stube getorkelt kamen, noch trunken vom Schlaf, von wohligen Träumen erfüllt, die erst langsam erloschen, je wärmer ihre bewollsockten Füße wurden, die sie dem Ofen entgegenstreckten. Sie fragten. Erhielten keine Antwort. Fragten erneut. Erhielten Schweigen. Wagten nicht mehr zu fragen. Verließen das Haus und machten sich an die Arbeit. In den Stall,

Hühner und Schafe füttern, ausmisten, Eier einsammeln, Kühe striegeln, die hungrig nach dem Heu verlangten, das ihnen stets vom Vater gegeben worden war, da die Gefahr, von einem Horn erwischt zu werden, zu groß schien. Aber der Vater war nicht da und die Kühe hungrig. Da gab man ihnen Heu, tunlichst auf die Hörner achtend, man wollte ja nicht aufgespießt werden. Nicht auch das noch. Zurück ins Haus, aus den feuchten Kleidern, in die Stube, wo die Schwester bereits am Kochen war, die Mutter schlafend, nur nicht zu laut. Sie sollte ja nicht geweckt werden, hatte es ohnehin schwer genug, musste nicht auch noch

vom abgängigen Vater erfahren. Keines der Kinder wollte nach draußen. Der ständige Schneefall, den sie einst so sehr begrüßt hatten, lastete nun auf ihnen wie klobiger Fels, drückte die Gemüter. Es wurde gewartet, gehofft und gebangt. Bis sie es nicht mehr aushielten. Einer musste gehen und die Nachbarn fragen. Vielleicht gab es eine Erklärung für die eine leere Hälfte des elterlichen Ehebettes, eine annehmbare Erklärung. So schickte man also Martha los, Katharinas Großmutter, die große Mühe hatte, sich durch die Schneewehen hindurch zu kämpfen. Wieder und wieder sackte sie bis zu den Knien ein, war innerhalb weniger Atemzüge völlig

durchnässt und konnte kaum atmen, da der Wind ihr andauernd Schneeflocken in Augen, Nase und Mund blies, an denen sie zu ersticken glaubte, während sie ihr ins Gesicht bissen. Sie hüllte sich tief in ihren Schal und marschierte weiter voran in eine Richtung, in der sie den Nachbarshof vermutete. Ganz sicher konnte sie nicht sein, war es doch viel zu trüb, um tatsächlich etwas erkennen zu können. Es schien ihr als wären Stunden vergangen, als sie endlich den Umriss eines Gebäudes in der Ferne ausmachen konnte. Ihre Nase, Ohren, Finger und Zehen konnte sie kaum noch spüren, auch die Augen ließen sich nur noch unter

großer Anstrengung offen halten. Dennoch schaffte sie es bis zur Haustür, klopfte kurz an, trat dann ein, um wenig später unter Schmerzen aufzustöhnen, als ihre halb erfrorenen Glieder in der Wärme des Kachelofens wieder aufzutauen begannen. Unvermittelt sah sie sich einer riesigen Tanne gegenüber, die festlich geschmückt worden war und den Raum fast zur Hälfte ausfüllte. Am Tisch saß versammelt die Familie und blickte mit großen Augen zum überraschenden Besuch hoch. Sie solle sich erst einmal setzen, war der allgemeine Konsens, um wieder etwas Leben in sich hinein zu bekommen. Man bot ihr von der Suppe an, die sie dankend

annahm. Es fiel ihr anfangs jedoch schwer den Löffel zu heben, weshalb sie sich darauf beschränkte, die einfache Holzschüssel, die man ihr gegeben hatte, mit den kribbelnden Fingern zu umklammern. Endlich fand sie auch ihre Stimme wieder, wenngleich ihre Worte von gelegentlichem Zähneklappern gestört wurden. Ob sie wüssten, wo ihr Vater wäre, ob es ihm gut ginge, ob sie etwas gehört hätten, wollte sie wissen. Doch keiner wusste eine Antwort zu geben. Sie müsse wohl weitersuchen, aber nicht bei diesem Wetter. Da hielte es ja nicht mal das Christkind aus da draußen. Bei diesen Worten horchte Martha auf.

„Das Christkind?“, fragte sie besorgt. „Unser Christkind?“ Der alte Mann, der diese verstörenden Worte von sich gegeben hatte, nickte bestätigend, doch das Mädchen wollte das nicht glauben und wies auf den herausgeputzten Baum, der neben dem Ofen stand. „Wer hat dann den da gebracht?“, bohrte es triumphierend nach. „Der Papa“, antwortete da der Nachbarsjunge, den Martha aus der Schule kannte. Peter hieß er und war aufgesprungen, um zum Christbaum hinüber zu gehen. „Opa hat gemeint, bei dem Wetter fliegt das Christkind entweder über uns hinweg oder es versteckt sich in einer sicheren Höhle im

Wald. Der Papa musste ihm deshalb unter die Arme greifen, zumindest bis es aufhört zu schneien.“ Das Mädchen blinzelte verunsichert, warf noch einen Blick auf die Tanne und erhob sich. Es müsse weiter nach dem Vater suchen. Vielleicht fände es dabei auch das Christkind und könne es auch mit nachhause nehmen. Die Erwachsenen sahen sich an, als würden sie das nicht gutheißen, doch keiner hielt Martha auf, als sie die Tür durchschritt. Kaum hatte sie diese aber hinter sich zugeknallt, da wurde sie wieder aufgerissen. Ob sie Begleitung wolle, fragte Peter, während er sich in seine Winterjacke zwängte und in die Stiefel schlüpfte. Noch ehe das

Mädchen etwas erwidern konnte, war der Junge schon neben ihm in den Schnee gehüpft, griff wie selbstverständlich nach einem Schlitten, der an der Wand lehnte und begann ihn hinter sich herzuziehen. Wofür sie denn den Schlitten bräuchten, wollte Martha wissen. Falls einer nicht mehr könne, müsse der andere eben ziehen, gab Peter zurück und hieß sie auf den Schlitten zu sitzen, er würde sie ein Stück weit ziehen. Er bemühte sich, dieses Versprechen auch tatsächlich einzuhalten, scheiterte jedoch an den Schneemassen. Durch Marthas Gewicht sanken die Kufen einfach viel zu tief ein. So gingen sie also weiter nebeneinander

her, schweigend, bis das Mädchen die raschelnde Stille durchbrach, indem es fragte, ob das Christkind tatsächlich verhindert sei. Der Nachbarsjunge nickte betrübt und fragte, ob ihr Vater dem Engerl auch beim Geschenkebesorgen unter die Arme gegriffen hätte, was sie verneinen musste. „Dann lass uns das übernehmen“, begeisterte sich Peter und steuerte den nächsten Hof an, der sich aus dem Schneetreiben heraussschälte. So zog Martha also weiter, unerschrocken gegen den Schneefall antrabend, vom Nachbarsjungen begleitet, der einen Schlitten hinter sich her zog, auf dem sie transportierten, was

sie bekamen. Gemeinsam stapften sie durch den Schnee, wortlos, mit ihren Schals im Gesicht, klopften an allen Türen an, fragten nach dem Vater und nach den Dingen, die das Christkind ihnen dieses Jahr wohl eher nicht würde bringen können. Und die Leute gaben, was sie konnten, wenngleich keiner den Mann, den sie suchten, gesehen haben wollte, was das Mädchen von Tür zu Tür trauriger machte. Die kleine Fichte, die auf ihrem Schlitten hinter den Kindern herfuhr, die Holzfiguren, Wollsocken, Schokolade-Sterne und nicht einmal die Vogelpfeife, mit der man tatsächlich eine Rauchschwalbe nachahmen konnte,

vermochten Marthas Sorgen lindern. Ihr ganzer Körper fühlte sich bereits steifgefroren an, als die Dämmerung einsetzte und sie zum Umkehren zwang. Um sich aufzuwärmen, liefen sie einen Großteil der Strecke bis zu Peters Hof, wo er sich von ihr verabschiedete und sie allein weiterzog mit dem Schlitten im Schlepptau, der schwerer und schwerer zu werden schien. Völlig entkräftet kam sie zuhause an, ließ die Geschenke im Garten stehen und hastete in die Stube, wo ihr ganzer Körper in schmerzhaftes Kribbeln ausbrach, das minutenlang anhielt. Ihre Geschwister hüpften ihr entgegen, halfen ihr dabei, Handschuhe, Schal, und

Mütze abzulegen und zogen sie dann rasch in die Stube. Sie hätte nicht überraschter sein können, wäre das Christkind höchstselbst an ihrem Tisch gesessen. So aber blickten ihr Vater und Mutter entgegen, beide lächelnd, die Mutter nicht vor Schmerz stöhnend. Martha konnte nicht anders als in Tränen auszubrechen vor Erleichterung und sank in die Umarmung des Vaters, der sie leise zu trösten versuchte. Er habe den Doktor aufgesucht, erklärte er, der im nächsten Dorf wohne, weshalb es so lange gedauert habe. Der habe sich erst überreden lassen müssen, mit hierher zu kommen und nach der Mutter zu sehen, was er schließlich aber getan habe und

das Medikament, das er ihr gegeben habe, wirke tatsächlich. So würden sie alle zusammen Weihnachten feiern können. Bei diesen Worten fiel Martha der Schlitten ein. Sie flüsterte dem Vater ins Ohr, was sie getan hatte, dass sie nicht sicher gewesen war, ob das Christkind es diesen Winter zu ihnen schaffen würde, dass sie daher beschlossen hatte, es zu unterstützen. Das Lachen des Vaters füllte das gesamte zweistöckige Haus mit Leben, als er ihr half, die Kleinigkeiten hinauf zu tragen. Die mickrige Fichte wurde auf den Tisch gestellt und geschmückt als hätten sie nie einen schöneren Christbaum besessen, die

Geschenke aber wurden in einem Kästchen verstaut, vor den Blicken der jüngeren Geschwister verborgen, um die Hoffnung, das Christkind würde sich bis zum Weihnachtsabend doch noch einen Weg durch den Schnee bahnen, aufrechtzuerhalten. Am Morgen des 24. Dezember ließ Martha es sich nicht nehmen, in aller Früh nach draußen zu eilen, sich in einen Haufen unberührten Schnees zu werfen und kräftig mit Armen und Beinen zu schlagen. Sie war zufrieden, als sie ihr Werk begutachtete. Das Christkind würde die Botschaft schon verstehen und weiter fliegen zu den Familien, die sich nicht selbst hatten versorgen können, davon

war sie überzeugt. Laut lachend hüpfte das Mädchen ins Haus zurück, den schönsten Schneeengel zurücklassend, den es je geformt hatte. „Mama, wieso machst du es nicht einfach wie die Oma?“, fragte das Kind da unvermittelt. „Falls das Christkind bei dem Schnee nicht selbst kommen kann, hat doch sicher irgendeiner unserer Nachbarn Eier oder Socken oder Milch abzugeben, vielleicht sogar irgendwas aus Holz?“ Die Großmutter lachte und trank den letzten Schluck ihres Tees. Ihre Hand lag unter der des Großvaters, dem sie in der Geschichte den Schlitten zu verdanken

gehabt hatte. Peter hatte in den darauffolgenden Tagen häufig bei ihnen vorbeigeschaut und hatte Martha seitdem nicht mehr aus den Augen gelassen. Das tat er auch jetzt nicht. Katharina aber hatte nur Augen für ihre Mutter, die ungläubig die Hände vor den Mund geschlagen hatte und nach draußen starrte. Mit einem spitzen Schrei eilte sie zur Tür, um sie aufzureißen. Das Mädchen war ihr hinterhergeeilt und warf sich gleich darauf dem Vater in die Arme, der versuchte etwas hinter seinem Rücken zu verbergen. „Sind das Geschenke?“, fragte Katharina unvermittelt und huschte um ihn herum, um genauer hinzusehen. Und tatsächlich,

der Vater hatte einen Korb voller Kleinigkeiten in der Hand, den er nun ertappt zu Boden stellte. Schokolade, Blumen, Gutscheinkuverts, Buntstifte, ein Malbuch…er kam gar nicht erst dazu, zu erklären. Das Mädchen war schon davongeflitzt und zwängte sich in seine Winterkleidung. Dann hastete es noch einmal auf den Vater zu und deutete ihm, dass es ihm etwas ins Ohr flüstern wolle. Er beugte sich hinab und lauschte: „Das Christkind wird sich freuen, Papa, dass du ihm unter die Arme gegriffen hast.“ „Ich dachte heuer eher lokal“, erläuterte der Vater verwundert der Mutter, als Katharina bereits nach draußen gehuscht

war, wo sie sich sogleich in den Schnee warf. Sie formte nicht nur einen einzigen, auch nicht zwei, sondern gleich vierundzwanzig Schneeengel, die durch das Grau hindurch bis zum Himmel hinauf sichtbar sein sollten, um dem Christkind mitzuteilen, dass es sich um ihre Familie keine Sorgen mehr machen musste. © Fianna 27/11/2017

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Über den Autor

Fianna
Ich
...bin Österreicherin
...studiere Archäologie, Germanistik und Geschichte
...vertrage Kritik, solange sie begründet und ehrlich ist
...lese quer durch viele Genres
...glaube anders als Max Frisch und ähnlich wie Bert Brecht dass Literatur sehr wohl (wenn auch nur in geringem Maße) dazu beitragen kann, gesellschaftiche Veränderungen zu erwirken


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silberfunke Die erste Weihnachtsgeschichte, die ich dieses Jahr lese und gleich eine so schöne.
Herrlich. Deine Geschichte läht richtig zum Träumen ein.

LG
Silberfunke
Vor langer Zeit - Antworten
Fianna Freut mich, dass meine Geschichte dir gefällt!

Dankeschön für's Kommentieren, den Favo und die Coins!

Liebe Grüße
Anna
Vor langer Zeit - Antworten
KaraList Ein sehr schöner Erzählstil, liebe Fianna. Mit der Wahl der Worte und den ausgefeilten Formulierungen ist es Dir gelungen, Bilder vor den Augen des Lesers entstehen zu lassen ... zumindest vor meinen. :-)
Gefällt mir seh!
LG
Kara
Vor langer Zeit - Antworten
Fianna Das freut mich sehr!

Danke dir für's Kommentieren und den Favo!

Liebe Grüße
Anna
Vor langer Zeit - Antworten
Schwanenfeder so ein Märchen...wunderbar geschrieben, strahlend und weihnachtlich, liebevoll und schön....

frohe Weinachten!

Schwanenfeder
Vor langer Zeit - Antworten
Fianna Freut mich, dass dir die Geschichte gefällt!

Dankesehr für's Lesen und Kommentieren!

Liebe Grüße
Anna
Vor langer Zeit - Antworten
Buhuuuh Sehr gut geschrieben Fianna! :)

Simon
Vor langer Zeit - Antworten
Fianna Danke dir!

Liebe Grüße
Anna
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Willie Ja, ein Städter könnte solche Prosa wohl kaum schreiben. Diese Fülle von Natur, auch Märchenhaften und einfachen Menschen berührt- tut gut zu lesen.
b.G.
Sweder
Vor langer Zeit - Antworten
Fianna Freut mich, dass dir meine Geschichte gefällt!

Dankeschön für's Kommentieren und den Favo!

Liebe Grüße
Anna
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