Der frühe Kuckuck
Als wären selbst sie nervös, huschten die Zeiger der Uhr zittrig und viel zu schnell voran und spiegelten damit die innere Unruhe des jungen Mannes, der hinter dem Verkaufstresen der kleinen, gut sortierten Buchhandlung stand und sich mit fahrigen Fingern den Schweiß von der Stirn wischte, als bereits die Tür, pünktlich um 17:27, mit einem leisen Klingeln aufgestoßen wurde und der Grund für die allgegenwärtige Anspannung sich anschickte, das Geschäft zu betreten. Der vermutlich direkt von Phileas Fogg abstammende, schmächtige Mann Mitte Fünfzig, fuhr
sich wie jedes Mal zuallererst mit der Rechten durch das schüttere, an den meisten Stellen bereits ergraute Haar, seufzte als hätte sich mit einem Mal eine unvorstellbar schwere Last auf seinen Rücken gelegt und schlurfte dann, ohne die flüchtenden Angestellten auch nur eines Blickes zu würdigen, in Richtung der Bestseller-Abteilung davon.
Unruhig tickte die Uhr weiter in der Stille, bis ein Raunen sich erhob, das leise bis in den Eingangsbereich zu vernehmen war.
„Sagt, wo sind die Vortrefflichen hin, wo find ich die Sänger, die mit dem lebenden Wort horchende Völker entzückt. Nein, nein, nein, hier finde ich
sie nicht. Ganz bestimmt nicht.“
Keine Antwort erklang, was den spätnachmittäglichen Besucher, jedoch keineswegs daran hinderte, das Gespräch fortzusetzen.
„Schund, wohin man schaut! Bei mir kommt sowas gar nicht erst rein. Schon aus Prinzip nicht. Bin ja nicht die Wohlfahrt, nicht.“
Es klapperte und kurz darauf klatschte etwas Schweres auf dem Boden auf, was den tapferen Verkäufer, der als einziger todesmutig auf seinem Posten geblieben war, erschrocken zusammenzucken ließ. Möglichst unauffällig und mit angstvoll verzogenem Gesicht näherte jener sich nun der Abteilung, aus der noch immer
ein leiser Monolog ertönte.
„Ihr ärmsten der Armen müsst hier stehen im Schatten, nicht mal anständig abgestaubt und diese protzigen Emporkömmlinge springen den kaufwilligen Unwissenden farbenklatschend ins Gesicht und blenden sie für das Wahre.“
Eine Frau mittleren Alters schüttelte verständnislos und leicht verärgert den Kopf, als sie sah, wie der Gesprächige andächtig mit den Fingern über die Buchrücken der Deutschen Klassiker strich.
„Das habt ihr nicht verdient“, flüsterte er, wandte sich entschlossen dem beleuchteten Bestseller-Regal zu,
schnappte mit flinken Fingern zwei Exemplare heraus und ließ sie rücksichtslos zu Boden fallen, wo bereits andere verstreut lagen. Ehe der Angestellte regulierend eingreifen konnte, schaltete sich die Frau dazwischen: „Jetzt hören Sie aber auf!“
Mit zwei großen Schritten war sie auf den anderen zugegangen und griff nach dem Buch, das er soeben aus dem Regal gezogen hatte, um es ebenfalls zu den anderen zu befördern. Völlig überfordert schüttelte der Verkäufer, der die Szene wie festgefroren beobachtete, den Kopf, um der Kundin zu signalisieren, dass sie sich besser möglichst schnell in Sicherheit bringen sollte. Jene hörte
jedoch nicht, sondern entriss dem bedächtig Randalierenden einfach das Objekt seines Abscheus und deutete nun ihrerseits ein Kopfschütteln an.
„Sie sind doch selbst Bibliothekar“, erboste sie sich, woraufhin ihr Gegenüber ihr zum ersten Mal ins Gesicht sah, jedoch nicht direkt. Seine Augen huschten hin und her wie ein Schmetterling auf Nektarsuche, nur um sie ja nicht direkt ansehen zu müssen. Als er jedoch antwortete, waren seine Worte bestimmt und trotz der geringen Lautstärke, die er anschlug, so eindringlich, dass nicht nur der engagierten Dame, sondern auch dem etwas abseits stehenden Verkäufer ob
ihrer Kraft ein kühler Schauer über den Rücken lief.
„Selbst Bibliothekar? Habt ihr das gehört? Ich bin der Bibliothekar, DER Bibliothekar!“
„Die Dame hat es sicher nicht so gemeint, Herr Schneider“, versuchte der fast unmerklich am ganzen Körper zitternde Verkäufer nun die Situation zu entschärfen, doch abrupt wandte sich das Gesicht des Alten mitsamt seiner flatternden Augen ihm zu.
„Bibliothekar, mein Jungchen“, wiederholte er nachdrücklich. „Herr Bibliothekar.“
„Natürlich“, gab der Angestellte klein bei, in der Hoffnung, den anderen damit
zufriedenstellen zu können und ihn möglichst schnell wieder loszuwerden. Die Zeiger der Uhr schienen inzwischen stehen geblieben zu sein.
Eine Weile standen die drei im Dreieck da, ohne sich direkt anzusehen, während die Sekunden dahinkrochen, bis der Minutenzeiger endlich den Neuner erreicht hatte. Mit einem hellen Klingen sprang ein Kuckuck aus dem kleinen Fensterchen der Uhr hervor und verkündete eine viertel Stunde zu frühzeitig die volle Stunde.
„Sie müssen Ihre Uhr reparieren“, sagte da der Bibliothekar, wie er es jedes Mal machte an diesem Wochentag zu dieser Uhrzeit. Dann deutete er mit einem
ernsten Lächeln im Gesicht auf das Chaos, das er angerichtet hatte. „Die müssen Sie umsortieren, sonst springen sie wieder aus dem Regal.“
Mit diesen Worten zog er die Schultern hoch und schlurfte zum Ausgang, wo er sich eine zerknautschte Mütze aufsetzte und den grauen Mantel fester um sich zog, bevor er die Tür etwas schwerfällig öffnete. Ein erleichtertes Schnaufen entfuhr ihm, das klang, als hätte er soeben eine Mine vor dem Einsturz bewahrt; dann verließ er den Buchladen ohne ein weiteres Wort. Es war ein guter Tag gewesen.
© Fianna 06/10/2016