Feuer im schnee
Ein sanfter Wind wirbelte vereinzelte Schneeflocken durch die Luft, schob ein paar Wolken zur Seite, sodass einzelne Sonnenstrahlen sich einen Weg Richtung Erde bahnen konnten. In der Ferne war das Geschrei von zankenden Krähen zu vernehmen, die um ihre Beute rauften. Die Reinheit der Schneedecke ringsum war durch keinerlei Fußspuren gestört worden. Ebenmäßig breitete sie sich über die umgebende Hügelkette aus. Weder Mensch noch Tier schienen sich in den letzten Tagen hierher verirrt zu haben. Dennoch lief hier etwas gehörig falsch.
Auf einem der Hügel lag ein junger
Mann im Schnee und starrte konzentriert die großen roten Flecken an, die sich störend auf das idyllische Gesamtbild auswirkten. Woher kamen sie? Ringsum standen nur vereinzelt Bäume, nicht nahe genug, um vermuten zu lassen, dass sie dabei eine Rolle spielen könnten. Dennoch, obwohl nichts auf eine Gefahr hinwies und die Gegend völlig menschenleer zu sein schien, blieb der Mann vorsichtig und beobachtete weiter. Inzwischen waren seine Hände, die in dünnen, wollenen Handschuhen steckten, ziemlich steif gefroren, doch die Angst, die durch seine Adern kroch, lenkte ihn davon ab. Vor seinem Gesicht bildeten sich in unregelmäßigen Abständen weiße
Atemwölkchen. Trotz der herrschenden Kälte standen auf seiner Stirn Schweißperlen, die er gedankenversunken mit einer Hand wegwischte. Seufzend fuhr er sich danach mit den in Handschuhen steckenden Fingern durch das dichte rötlich-braune Haar. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.
Ein beständig sich näherndes Knirschen und kurz darauf folgendes Schnauben ließ ihn herumfahren. Sein Herz schlug von einem Augenblick zum anderen schneller und seine Hand glitt unwillkürlich zu dem dicken Wanderstock, den er stets bei sich trug und der nun neben ihm im Schnee lag.
Zwei bräunlich-grüne Augen blinzelten ihn teilnahmslos an, gefolgt von einem weiteren unzufrieden klingenden Schnauben. Augenblicklich beruhigte sich der Mensch wieder und wandte den Blick erneut in die andere Richtung, die ihm wesentlich bedrohlicher vorkam. Das Tier, das sich ihm genähert hatte, trottete weiter auf ihn zu, blieb dann stehen und blickte ebenfalls zum rotbefleckten Schnee hinüber. Es schnaubte erneut. Nichts rührte sich, während der Wind auffrischte.
Plötzlich senkte das Tier den Kopf und biss dem Mann unvermittelt in die Seite, was jener, der durch mehrere Schichten
Kleidung geschützt war, zuerst gar nicht mitbekam. Dann jedoch schüttelte es den Kopf, ohne den Stoff loszulassen, woraufhin der Mensch erschrocken hochfuhr und den Stock in Richtung des unerwarteten Angreifers hielt. Er hatte die Stirn gerunzelt, was in Anbetracht der Tatsache, dass er sich lediglich einem Schaf gegenüber sah, wenig verwunderlich war. Das Tier blökte eindringlich und wollte wieder nach dem Mantel schnappen, doch der Mann wich dem irritiert aus, woraufhin es unwirsch mit dem Fuß stampfte. Erst jetzt fielen ihm auch die gewundenen Hörner auf, die es auf dem Kopf trug. Sein Fell war zottelig, dabei aber fast vom selben
Weiß wie der Schnee. Wiederum blökte es und stampfte dabei mit dem Fuß auf, als wolle es ihn zum Aufstehen bewegen. Das tat der Mann dann auch. Zuvor sah er sich jedoch noch einmal besorgt um. Es war doch wohl ganz bestimmt nicht dieses aufdringliche Wesen gewesen, das ihn bei Erreichen dieses Ortes so vorsichtig hatte werden lassen. Auch wenn die eindringlichen Augen des Schafes ihn ganz eindeutig fixierten, so schien keine ernsthafte Gefahr von ihm auszugehen.
Inzwischen war aus der leichten Brise ein ernstzunehmender Wind geworden, der an den Kleidern des Mannes zerrte und immer wieder Schneewehen in seine
Richtung blies. Es war wohl an der Zeit, sich ein geeignetes Lager für die Nacht zu suchen. Hastig klaubte er seinen Rucksack auf, warf ihn sich auf den Rücken und setzte sich dann in Bewegung. Allerdings kam er nur drei Schritte weit, dann spürte er einen Zug an seinem Mantel und wandte sich kopfschüttelnd um. Das durfte doch nicht wahr sein!
Fast etwas betreten blickte das Schaf ihm entgegen und blökte anklagend. Dann wandte es sich um und schritt in die andere Richtung davon. Dies nahm der Mann zum Anlass, seinen Weg fortzusetzen, doch kaum hatte er den ersten Baum passiert, da spürte er
erneut, dass das Tier ihn am Weitergehen hindern wollte.
„Was willst du von mir?“, fuhr er es gereizt an. Er hatte keine Zeit für solcherlei Spielereien. In dieser Jahreszeit wurde es schnell finster und er wollte einen sicheren Unterschlupf gefunden haben, ehe es soweit kommen würde. Diese Gegend war zu gefährlich, um im Freien zu übernachten. Die Handelsstraße war nicht fern, was Räuber anlockte, die auch nicht davor zurückschrecken würden, großzügig einen einfachen Wanderer von seinen Lasten zu befreien. Wie es zu erwarten gewesen war, antwortete das Schaf nicht, sondern schlackerte nur mit den Ohren,
als hätte es zumindest verstanden, was der Mensch gesagt hatte. Dann machte es noch einen Schritt auf eben jenen zu, biss sich wieder in seinem Mantel fest und zog ihn leicht in die Gegenrichtung. Gleich darauf ließ es wieder los, vielleicht weil es Angst vor dem Stock hatte, den er immer noch in der Hand hielt. Es blökte noch einmal, wandte sich dann um und trabte davon.
„Ich glaube nicht, dass ich das jetzt wirklich tue“, murmelte der Mann leise vor sich hin, was wohl auch dann niemand gehört hätte, wenn jemand anwesend gewesen wäre, da der Wind inzwischen mit lautem Heulen über die Hügel pfiff. Ohne weiter darüber
nachzusinnen folgte er also dem Schaf, das nur ein einziges Mal den Kopf wandte, um zu überprüfen, ob sein Opfer ihm nun endlich nachlief. So führte es den Mann eine ganze Weile bis zu einem einzigen Baum, der von ein paar Büschen umgeben war. Dort stellte es sich hin, drehte sich und blickte dem Menschen entgegen, der in einiger Entfernung stehen blieb. Es war dumm gewesen, so schrecklich dumm. Aus welchem Grund sollte man einem Schaf hinterherlaufen, nur weil es einen auf der Suche nach Futter immer wieder angerempelt hatte? Dem einen tieferen Sinn beizumessen, sah ihm wieder einmal ähnlich. Seine Schwester würde ihn mit Sicherheit laut
auslachen, wenn er ihr diese Geschichte erzählen würde.
Inzwischen war es schon merklich dunkler geworden. Die Sonnenstrahlen, die er zuvor noch beobachtet hatte, waren gänzlich erloschen und eine dichte Wolkendecke verdeckte den Himmel. Es hätte wenig Sinn, noch einmal umzukehren und in dem Wäldchen Schutz zu suchen, wie er zu Beginn angestrebt hatte.
Plötzlich schien die Luft zu vibrieren und ein markerschütterndes Brüllen erklang hoch oben am Himmel. Entsetzt hob der Mann den Kopf und versuchte den Urheber dieses fürchterlichen Geräusches auszumachen, doch ehe er
etwas sehen konnte, war das Schaf wieder da und zerrte diesmal beharrlicher an seinem Mantel. Vor Anspannung drehte er sich etwas zu schnell und traf das Tier versehentlich mit dem Stock am Kopf. Ein Dumpfes Klacken erklang und das Schaf trat erschrocken einen Schritt zurück. Seine Augen blickten irritiert und empört zugleich. Doch dafür hatte der Mensch gerade keinen Blick übrig. Wie erstarrt schaute er in jene Richtung, aus der er gerade eben gekommen war. Das konnte doch nicht wahr sein! Wie war das bloß möglich? Träumte er etwa? Das würde einiges erklären.
Hinter ihm blökte das Schaf und er
spürte wiederum einen Zug am Mantel, diesmal so fest, dass er fast das Gleichgewicht verloren hätte. Dennoch riss er seinen Blick nicht von dem Drachen los, der gerade Kreise über den gar nicht so weit entfernten Bäumen zog. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er genau dort drüben noch gestanden und jetzt war da dieses Wesen, das es eigentlich gar nicht geben dürfte.
Erneut erbebte die Luft unter dem Brüllen des Drachen, dicht gefolgt von einem gleisend hellen Lichtschein. Selbst auf diese Entfernung war die Hitze deutlich spürbar, die von dem Feuer ausging, das augenblicklich den gesamten Waldstreifen in Brand setzte.
Fassungslos stand der Mensch da und starrte die Flammen an. Das konnte doch nicht wahr sein…das durfte nicht wahr sein.
Erst das leise Blöken, das seltsamerweise das Heulen des Windes zu übertönen vermochte, riss ihn aus seiner Starre. Obwohl es ihm nicht behagte, dem tobenden Drachen den Rücken zuzudrehen, sah er sich nach dem Schaf um.
„Hast du das etwa gewusst?“, fragte er mit einem leichten Zittern in der Stimme. Jetzt wurde er wohl endgültig verrückt. Im Widerschein des in der Ferne lodernden Feuers konnte er sehen, wie das Tier mehrmals mit den Ohren
wackelte. Sein Blick war ernst. Nie zuvor hatte der Mann eine solche Ausdruckskraft in den Augen eines Tieres gesehen.
„Du hast es gewusst“, beantwortete er seine Frage selbst und fügte dann etwas leiser hinzu. „Danke.“
Das Schaf schüttelte sich und mit einem Mal klappte es ein Paar kleine grüne Flügel auf, die einige Male auf und ab schlugen und den Schnee aufwirbelten. Überrascht riss der Mann die Augen auf und begann dann verzweifelt und überrascht zu lachen.
© Fianna 21/11/2015