Erneut ein Versuch durch den NaNoWriMo endlich mal wieder einen Roman zu Ende zu schreiben, diesmal als einziges Konzept dafür diese Frage:
Wie bewacht man etwas, das schon längst verloren, das eigentlich bereits vergangen ist und vor allem, weshalb sollte man so etwas Wahnwitziges überhaupt versuchen in Zeiten wo jeder einzelne tagtäglich um sein eigenes Überleben zu kämpfen hat?
Zarte Schneeflocken wurden vom Wind umhergewirbelt, der pfeifend über die undichten Dächer hinwegfuhr und das Klappern übertönte, das aus keiner bestimmten Richtung zu kommen schien. Die Gipfel des umgebenden Gebirges, die ansonsten aufgrund ihrer Schwärze so klar erkennbar waren, wirkten nun verwischt und verschmolzen zu einer einzigen Masse aus dunklem Gestein. Auf dem schmalen Weg, der sich zwischen wuchtigen Felsen und vereinzelt wachsenden Krüppelkiefern hindurchschlängelte, hatte sich schon eine dünne Schneeschicht gebildet. Es
war der einzige Zugang zu dem Plateau auf dem einst ein prächtiger Tempel gestanden hatte. Von der einstigen Schönheit zeugten nur noch ein paar bröckelige Mauerreste, teilweise waren auch spitz zulaufende Dachgiebel erhalten, sowie mächtige Portale und eine einzige allen Stürmen und Wetterlagen trotzende Kuppel aus leuchtend weißem Marmor. Genau diesen Ort hatte das Mädchen sich ausgesucht, um das Schneetreiben einigermaßen vom Wind geschützt zu beobachten. Mit untergeschlagenen Beinen saß es auf dem kalten Fußboden, dessen einstmals beeindruckendes Mosaik zur Hälfte zerstört worden war durch
herabbröckelndes Gestein und die wechselhaften Witterungen. Gehüllt in einen dünnen grünen Mantel und mit vor Kälte zitternden Händen hockte sie also da und versuchte das Brot zu essen, das lediglich mit einer dünnen Schicht Butter bestrichen war. Dieses Unterfangen stellte sich als beinahe unmöglich heraus, was einerseits an den niedrigen Temperaturen lag, die hier draußen herrschten, andererseits an ihren wild umherflatternden dunkelbraunen Haaren, die ihr ständig vom Wind ins Gesicht geblasen wurden, wenn sie versuchte, ihre Mahlzeit zu verzehren. Das resignierende Schnauben, das ihr entfuhr, wurde vom Wind
davongetragen, ehe es jemand hätte hören können. „Es ist schon ein kleines bisschen frisch hier draußen.“ Von dem Mädchen unbemerkt hatte sich ein junger Mann genähert, der sich nun ebenfalls unter der Kuppel zu Boden fallen ließ, einen mit Butter bestrichenen Laib Brot auspackte und beherzt hineinbiss. Auf seine Feststellung bezüglich der herrschenden Kälte hatte er von Seiten des Mädchens nur ein undeutbares Brummen geerntet. „Verrätst du mir, weshalb du das Brüllen des Schneesturmes dem Schweigen unserer Leute vorziehst?“, durchbrach er nach einer stummen Weile die
Wortlosigkeit. Belustigt zog das Mädchen die Augenbrauen hoch und musterte ihn mit seinen klaren blauen Augen. „So wie du es formuliert hast, Kjell, bedarf es keiner Antwort mehr, finde ich.“ Kjell grinste schelmisch und fuhr sich mit einer Hand durch das kurze, schwarze Haar. „Nun, das war wohl meine Absicht, aber danke, dass du meine Vermutung so eindeutig bestätigt hast, Riva. Das macht alles so viel einfacher.“ „Du kennst mich doch“, gab jene zurück. „Aber du magst doch eigentlich die Ruhe“, fing er von Neuem an.
„Ja, Ruhe, aber nicht diese angespannte Stille. Die glauben alle, dass man uns vergessen hat, nur weil sich Roland mal ein paar Tage verspätet.“ „Eine Woche, Riva, er ist schon eine Woche überfällig. Uns gehen langsam die Vorräte aus.“ Daraufhin schwieg Riva eine Weile und richtete ihren Blick wieder auf das Schneetreiben. Kjell hatte Recht. Sie hatten zwar noch einen Sack voll mit Zwieback und eine halbe Kiste Dörrfleisch, doch das würde höchstens noch für eine weitere Woche reichen und auch das nur dann, wenn sie es sehr stark rationierten. Dennoch glaubte sie fest
daran, dass Roland noch kommen würde. Er musste einfach. Fröstelnd versuchte sie, die Hände unter ihrem Mantel zu verbergen, nachdem sie das Brot auf ihrem Bein abgelegt hatte. „Wir sollten reingehen“, begann Kjell erneut als er sich erhob. Mit seinen braunen Augen mustere er die Sitzende, die sich nicht von der Stelle rührte. „Er wird auch nicht früher auftauchen, nur weil du hier draußen wartest. Das einzige, was passieren wird, ist, dass du krank wirst und das wird deinem Vater ganz bestimmt nicht gefallen. Es würde uns allen zur Last fallen.“ Lautlos seufzte Riva. Natürlich war es so, wie Kjell es sagte, doch irgendetwas
in ihr sträubte sich dagegen. Als ob Rolands Erscheinen tatsächlich davon abhängig wäre, dass sie ihn hier erwartete. Allerdings waren ihre Hände schon taub vor Kälte, vermutlich waren auch ihre Beine schon in Schneidersitzposition festgefroren. Ohne sich umdrehen zu müssen, wusste sie, dass Kjell noch immer hinter ihr stand und wartete. „Glaubst du, ihm ist etwas zugestoßen?“, fragte sie so leise, dass der andere es gar nicht hätte hören dürfen, doch Kjells Ohren glichen die Schwäche seiner Augen aus. „Er wurde bestimmt nur aufgehalten“, erklärte er, wobei sein Blick etwas ganz
anderes sagte, doch Riva hatte ihm immer noch den Rücken zugekehrt. „Nichts hält Roland auf“, flüsterte jene jetzt, während sie sich erhob und an die Mauer herantrat, die ihr noch bis zur Brust reichte. Kalter Wind peitschte ihr nun ungebremst ins Gesicht und verwirbelte ihr langes Haar. Kjell trat zu ihr und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Er wird schon noch kommen“, meinte er beruhigend, dann zog er sie leicht am Arm. „Komm jetzt, mein Vater möchte mit dir sprechen.“ Riva runzelte die Stirn. „Was will er denn von mir?“ Entschuldigend hob Kjell die Schultern. „Das weiß nur er allein.“
„Na gut, ich komme gleich.“ „Das hast du auch vor einer Stunde schon gesagt.“ „Diesmal meine ich es auch so. Versprochen“, fügte sie auf seinen zweifelnden Blick hin hinzu. Seufzend und kopfschüttelnd wandte er sich um und ging. Bewegungslos stand Riva da, nun wieder allein, und betrachtete den fallenden Schnee. „Nichts hält Roland auf“, wiederholte sie leise, dann drehte sie sich um und schritt auf einen großen Spitzbogen zu, der direkt in den Felsen gemeißelt worden war. „Nur der Tod“, fügte sie noch nachdenklich hinzu, bevor sie im Inneren
des Berges verschwand. * Angenehme Wärme schlug ihr entgegen als sie sich der Küche näherte, von wo aus leises Stimmengewirr zu hören war. Ihr Vater hatte ihr erklärt, dass der ursprüngliche Zweck dieses Raumes ein ganz anderer gewesen war. Anscheinend hatte dieses halbgroße, fast quadratische Zimmer vor langer Zeit einmal dem Tempelvorsteher als Schlafgemach gedient. Da es der am besten erhaltene und zugleich am kärglichsten eingerichtete Bereich der Ruine war, hatten sie ihn in Beschlag genommen,
um dort zu kochen, zu schlafen und einfach beisammen zu sitzen. Es hätte zu viel Holz gebraucht, um auch weitere Zimmer zu beheizen, weshalb alle sechzehn Personen im selben Abschnitt des Tempels schliefen. Etwas Platz für sich hatte man nur durch von der Decke herabhängende Stoffbahnen oder aus Steinen und Kisten errichtete provisorische Mäuerchen geschaffen. „Da bist du ja endlich“, sprach ihr Vater sie an, wobei er ihr sanft eine Hand an die Wange legte. „Du bist ja halb erfroren! Hier.“ Er drückte ihr die warme Tasse in die Hand, die er gehalten hatte. „Den hast du jetzt nötiger als
ich.“ Dankend nickte Riva und nahm einen Schluck von dem heißen Getränk, wobei sie sich die Zunge verbrannte. „Sobald du dich etwas aufgewärmt hast, solltest du zu Gunther gehen. Er hat vorhin ein paar Mal nach dir gefragt. Scheint wohl um etwas Wichtiges zu gehen.“ Seufzend gab das Mädchen seinem Vater zu verstehen, dass es verstanden hatte. Wieso wollten heute bloß alle etwas von ihr? Dabei wollte sie selbst doch nur allein sein. Noch ehe sie hätte entscheiden können, wen der beiden sie als erstes aufsuchen würde, erblickte sie Gunther, der quer durch den Raum auf
sie zuschritt. Das Grinsen, das er im Gesicht trug, gefiel ihr nicht. Seufzend blickte sie ihm entgegen und nippte noch einmal an ihrem Tee, was sie sogleich bereute, da sie sich erneut verbrannte. „Riva!“, rief Gunther, wobei sein Grinsen noch unangenehmer wurde. Ohne stehenzubleiben, ergriff er das noch über die Hitze des Getränks fluchende Mädchen am Ärmel seines Mantels und schleifte es mit sich. Riva wusste, dass es zwecklos war, Widerstand zu leisten, weshalb sie ihm freudlos folgte. Bevor sie den Raum verließen, nahm Gunther eine der Fackeln mit, die beim Ausgang an der Wand befestigt waren, während Riva ihren Becher auf einem Tisch
abstellte. „Schon wieder, Gunther?“, fragte jene lustlos und trottete ihm hinterher, doch er gab ihr keine Antwort und schritt weiter aus, sodass sie sich beeilen musste, um ihm folgen zu können. Eigentlich wusste sie bereits, wo er hin wollte. Nicht zum ersten Mal bereute sie, dass sie es ihm gezeigt hatte. Er nahm das Ganze viel zu ernst. Schweigend erreichten sie einen Gang, an dessen Ende sich zwei Türen befanden. Der rechte Raum war einst eine Bibliothek gewesen und auch heute noch fand sich darin eine beeindruckende Masse an Büchern, manche mehr, manche weniger gut erhalten. Einige davon –
eigentlich der Großteil – waren in einer Sprache verfasst worden, die heute die wenigsten Menschen noch beherrschten. Riva war eine dieser wenigen, da ihr Vater sie darin unterrichtet hatte, seit sie lesen konnte. Deshalb hatte man sie auch mit der Aufgabe betraut, die anderen darin zu unterrichten, so auch Gunther. Jener ging jedoch, wie sie es erwartet hatte, nach links, wobei er die Fackel im Gang vor dem Zimmer zurückließ. Widerwillig betrat auch Riva die kleine Kammer, die den ursprünglichen Bewohnern des Tempels wohl als Abstellraum gedient hatte. Kaum war sie eingetreten, da schloss Gunther auch schon die dünne, morsche
Brettertür hinter ihr. Unmotiviert steckte sie sich mit wenigen schnellen Bewegungen das Haar hoch. „Dir ist schon klar, dass dein Vater mich eigentlich damit beauftragt hat, dir das Lesen beizubringen?“ „Das sagst du jedes Mal“, kam es aus der Dunkelheit zurück. „Lesen wird mich im Leben nicht weiterbringen.“ „Aber das hier?“, konterte das Mädchen wenig überzeugt. „Ich könnte als Söldner arbeiten.“ Schnaubend schüttelte Riva den Kopf ob so viel in einem einzigen Kopf versammelter Dummheit. „Ich habe dir doch schon tausendmal erklärt, dass das kein Kampftraining ist.
Es ist Meditation! Meditation! Und wir brauchen hier keine Söldner. „Kjells Vater hat gemeint, es könnte sein, dass es bald Krieg gibt“, erklärte Gunther ohne auf ihren provozierenden Tonfall weiter einzugehen. Verblüfft hob Riva eine Augenbraue. „Wie kommt er denn darauf?“ „Frag ihn das doch selbst.“ Unvermittelt wurde das Mädchen am Bein von einem Stock getroffen. „Wie unvorsichtig“, wurde dies auch gleich von Gunther kommentiert und ein zweiter Schlag folgte, der sie an der Hüfte traf. Mit einem genervten Schnauben tastete Riva in der Dunkelheit umher, bis sich ihre Finger um einen
drei Daumen dicken Holzstiel schlossen. Ein Klacken durchbrach die Stille, als sie instinktiv den Gegenstand in die Höhe riss, um damit Gunthers nächsten Angriff abzuwehren. Dem folgte ein beständiger Schlagabtausch in völliger Dunkelheit. Zu hören war lediglich das Aufeinanderprallen der Stöcke und das Keuchen derjenigen, die jene in Händen hielten. Riva musste eingestehen, dass Gunther eindeutig besser geworden war im Vergleich zu den Malen, an denen sie sich zuvor schon für diese Beschäftigung getroffen hatten. Sie hatte einige Mühe, sich seiner zu erwehren und nicht nur einmal konnte er ihre Verteidigung durchdringen und fügte ihr schmerzhafte
Hiebe zu, was ganz bestimmt blaue Flecken geben würde. Mindestens doppelt so oft, gelang ihr jedoch selbst ein Treffer, da der Junge wesentlich erpichter darauf war, selbst anzugreifen als sich zu schützen, was das Mädchen ihm auch immer wieder vor Augen führte. „Falls. Du. Tatsächlich. Jemals. Söldner. Werden. Solltest. Wird. Dich. Das. Den. Kopf. Kosten“, keuchte sie während sie verbissen versuchte, seine Angriffe abzuwehren. Er reagierte darauf nur, indem er seinen Stock noch schneller wirbeln ließ, sodass sie nun wirklich Mühe hatte, die Schläge zu parieren. Schritt für Schritt wich sie weiter
zurück, um einen passenden Moment abzuwarten, um zurückzuschlagen, doch ehe sich ein solcher finden ließ, hatte sie mit dem Rücken die Wand erreicht. „Du…“ Ehe sie ihre Kapitulation zu Ende sprechen konnte, wurde die Tür aufgestoßen und ein flackernder Lichtschein fiel herein, der die beiden fast zeitgleich erstarren ließ. Mit lautem Klackern fielen die Stöcke, die sich im einfallenden Fackelschein als Besenstiele entpuppten, zu Boden. Im selben Maße peinlich berührt standen die beiden nur wenige Handbreit voneinander entfernt da und starrten blinzelnd zur Tür, in der sich eine Silhouette abzeichnete, die eine
Fackel hielt. „Riva? Was treibt ihr beide da eigentlich?“ Das Mädchen entspannte sich ein wenig, als es Kjells Stimme erkannte und innerhalb weniger Herzschläge hatte es sich an Gunther vorbeigeschoben, der sich immer noch keuchend ebenfalls zu dem Neuankömmling umwandte und erklärte: „Was geht das dich an?“ „Schon gut, schon gut.“ Kjell hob beschwichtigend die Arme als er den aggressiven Unterton in der Stimme des anderen registrierte. „Ich habe eigentlich nur dich, gesucht, Riva. Ich sagte dir doch bereits, dass mein Vater dich sprechen will. Auch wenn er überaus
geduldig ist, so ist es doch respektlos, ihn so lange warten zu lassen, also kommst du jetzt bitte endlich mit?“ „Entschuldige, Kjell.“ Wieso schaffte er es bloß immer, ihr mit nur wenigen Worten ein so furchtbar schlechtes Gewissen einzureden. Ohne sich noch einmal zu Gunther umzusehen, schritt sie dem Freund hinterher, versuchte ihre Atmung wieder einigermaßen zu normalisieren und sich den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen. Allein an Kjells Körperhaltung konnte sie sehen, wie enttäuscht er von ihr war, was sie noch verlegener machte. „Kjell, es tut mir leid“, wiederholte sie, schloss zu ihm auf, packte ihn am Arm
und drehte ihn zu sich, sodass er sie ansehen musste. „Gunther hat mich einfach mitgeschleppt, gleich nachdem ich reingekommen bin.“ „Es ist mir ganz egal, was ihr beide da gemacht habt, aber meinem Vater gegenüber ist es wirklich nicht angebracht. Ich habe dir vorhin schon zum zweiten Mal gesagt, dass er dich sprechen möchte und jetzt hat er mich zum dritten Mal losgeschickt. Das würde er nicht tun, wenn es nicht um etwas Wichtiges gehen würde, also bitte, Riva, ganz egal wer oder was jetzt wieder dazwischen kommen sollte, such ihn jetzt sofort auf, tu mir diesen Gefallen.“ Mit diesen Worten wandte er sich von
ihr ab und legte dann die letzten paar Schritte zur Küche ohne sie zurück. Riva blieb im Dunkeln stehen, vor sich nur der Lichtschein, der aus dem belebten Raum in den Gang fiel, hinter sich, noch in der Finsternis verborgen, hörte sie Gunthers schlurfende Schritte. Sie würde diese Sache beenden müssen. Für solche Zwecke hatte ihr Bruder ihr das nicht beigebracht und es würde auch ihrem Vater nicht gefallen, wenn er jemals davon erfahren sollte, was sie nicht hoffte. Sie würde noch einmal mit Kjell darüber sprechen müssen. Sie wusste zwar nicht, welchen Reim er sich auf die Sache gemacht hatte, aber es war besser es herauszufinden, bevor er Gelegenheit
hatte, es jemandem mitzuteilen. Um nicht erneut auf Gunther zu treffen und von ihm verschleppt zu werden, setzte sie sich nun in Bewegung und trat wieder in die Wärme der Gemeinschaft ein. Es war ihr unangenehm, dass sie Kjells Vater so lange hatte warten lassen, weshalb es ihr jetzt schwer fiel, einfach so auf ihn zuzugehen und ihn darauf anzusprechen. Er saß nicht mit den anderen am Feuer, weshalb sie sich bis zum Ende des Raumes vorarbeiten musste, wo ein dickes Stofftuch von der Decke hing und einen einzigen Schlafplatz begrenzte. Wie es bei ihnen üblich war, wenn man sich einem zugezogenen Vorhang näherte, stampfte
Riva dreimal mit dem Fuß auf den Boden und wartete auf eine Einladung, die prompt folgte, indem der Vorhang zurückgezogen wurde. „Komm rein, Kind!“ Mit einer klaren Geste, wies Hoimar ihr einen Platz auf einer der Kisten zu, die neben seinem Lager standen, das aus einem Schlafsack aus Schaffell und drei einfachen grauen Decken bestand. Er selbst ließ sich im Schneidersitz darauf nieder und lehnte sich gegen einen Kistenstapel, der an der Wand stand. Sobald er eine angenehme Sitzposition gefunden hatte, richtete er den Blick seiner bereits trüb gewordenen grauen Augen auf das Mädchen, das sich
sichtlich unwohl fühlte. „Hoimar, es…es…bitte entschuldige, dass ich dich so lange habe warten lassen. Es war nicht meine Absicht. Ich wurde aufgehalten.“ „Wir halten uns stets nur selbst auf, Riva“, gab der Mann zu bedenken, doch seine Stimme klang versöhnlich, wenngleich sein Blick auch abwesend wirkte, so als hätte er ihre Entschuldigung gar nicht wirklich wahrgenommen, da er bereits an andere, wichtigere Dinge dachte. Während er so dasaß und nachdenklich schwieg, musterte das Mädchen den Vater seines guten Freundes und stellte wieder einmal fest, wie unterschiedlich die beiden doch
in ihrer Erscheinung waren. Kjell war groß gewachsen, fast eineinhalb Köpfe größer als sein Vater, der flachsblondes, an einigen Stellen bereits ergrautes, schütteres Haar hatte, während auf Kjells Kopf ein wilder Wust schwarzen Haares wucherte. Zumindest wäre dies der Fall, wenn er nicht immer so penibel darauf achten würde, sein Haar kurz zu halten. Ganz anders verhielt es sich jedoch bei ihrem Charakter. In dieser Hinsicht war Kjell ganz klar das Ebenbild seines Vaters. Niemals hob er die Stimme, was auch gar nicht nötig war, da er immer die richtigen Worte fand, um dem Gesagten Nachdruck zu verleihen. Wenn er arbeitete, tat er dies bedächtig und
präzise. Er mochte keine Ungenauigkeit, war mit sich selbst und seiner Leistung nie ganz zufrieden und neigte dazu, leise Selbstgespräche mit sich selbst zu führen, weshalb er von manchen auch häufig aufgezogen wurde. Riva wusste, dass ihn das manchmal verletzte, doch er war viel zu stolz, um das zu zeigen, stieg eher noch auf die Scherze ein und tat als wäre ihm ihr Spott völlig egal. Über Hoimar zu spotten würde hingegen niemand wagen. Er war nicht nur der älteste ihrer Gruppe und genoss deshalb ein hohes Ansehen, sondern verdiente sich jenes auch durch seine unleugbare Begabung, Dinge vorauszusehen. Er wusste, wann es klüger war, einen Sturm
abzuwarten, welche Gemäuer man an welchen Tagen besser mied, welche Steine von Bedeutung waren und welche einfach nur Steine waren. Tatsächlich hatte er, trotz seines immer schwächer werdenden Augenlichts, einen besonderen Blick dafür, was man besser aufheben sollte und was sich bedenkenlos wegwerfen ließ. Außerdem schien er auch immer gut darüber informiert zu sein, was sich in der Welt außerhalb dieser Tempelmauern abspielte. Seit fast dreieinhalb Jahren waren sie nun schon hier, lebten, arbeiteten, lernten. Von der Außenwelt drang nicht viel zu ihnen durch. Meist war es Roland, der sie mit Neuigkeiten
versorgte. Doch Hoimar schienen seine Berichte nie wirklich zu überraschen. Manchmal stellte er dann Fragen, die nur Sinn ergeben konnten, wenn er über die Geschehnisse im Reich bereits Bescheid wusste. Riva hatte ihren Vater einmal danach gefragt, ob der Alte vielleicht irgendwelche besonderen magischen Kräfte besaß, woraufhin jener sie nur ausgelacht hatte. „Magie“, hatte er gesagt, „existiert nur in unseren Köpfen. Wir sehen einen Blitz und weil wir uns nicht erklären können, wie so etwas entstehen kann, schieben wir es übernatürlichen Kräften zu. Das ist menschlich, aber nichts desto trotz dumm, Riva. Also bitte, stell mir keine
solchen Fragen mehr und konzentriere dich besser auf dein Buch.“ Hoimars sanfte, wenn auch manchmal etwas brüchige Stimme, riss das Mädchen aus seinen Erinnerungen. „Das, was ich dir jetzt sage, Kind, muss unter uns bleiben. So ist es sicherer. Ansonsten könnte es die anderen beunruhigen und es genügt, wenn wir beide uns Sorgen machen.“ Skeptisch runzelte Riva die Stirn. Diese Einleitung gefiel ihr ganz und gar nicht. Noch weniger behagte ihr allerdings der Blick, mit dem Kjells Vater sie bedachte. Auf diese Weise sah man Menschen an, die gerade jemanden verloren hatten, der ihnen nahe stand.
„Ist etwas mit Roland?“, platzte es da aus dem Mädchen heraus, woraufhin Hoimar mahnend eine Hand hob. „Leise bitte“, erklärte er und setzte gleich hinzu. „Deinem Bruder geht es gut. Um ihn mache ich mir keine Sorgen.“ Eine Welle der Erleichterung bahnte sich durch Rivas Körper. „Wird er bald auftauchen?“, fragte sie gleich weiter, doch Hoimar schüttelte nur nichtssagend den Kopf. „Es geht nicht um ihn, Mädchen. Es geht um dich. Ich habe da etwas gesehen, das…“ Unvermittelt verstummte er und hob den Kopf. „Habe ich dir nicht
beigebracht, dass es sich nicht gehört, anderer Leute Gespräche zu belauschen, Kjell?“ „Entschuldige, Vater“, kam es hinter dem Vorhang zurück. Der Junge machte keinerlei Anstalten, jenen zur Seite zu schieben. „Ich wollte nicht lauschen, aber auch euer Gespräch nicht unterbrechen. Andreas schickt mich, dich zu holen. Er hat da etwas gefunden, das du dir ansehen solltest und er meinte es sei dringend.“ „Sag ihm, dass ich zu ihm komme, sobald ich hier fertig bin. Es wird nicht mehr lange dauern.“ Hinter dem Vorhang ertönte ein bestätigendes „Mhm“, und gleich darauf
konnte man hören, wie Schritte sich entfernten. Seufzend schüttelte Hoimar den Kopf. „Der Junge wird noch als Kurier enden, wenn er so weitermacht.“ Ehe Riva sich dazu äußern konnte, hob er abwehrend die Hand. „Du hast ja gehört, dass wir nicht viel Zeit haben, also bitte, unterbrich mich nicht. Roland wird kommen, bald, und er wird deine Hilfe brauchen. Es wird Krieg geben, in absehbarer Zeit, wenn er nicht bereits losgebrochen ist, was ich nicht ausschließen kann. Du hast sicher mitbekommen, wie angewiesen wir auf das Wohlwollen der einzelnen Fürsten sind. Wir brauchen ihr Geld, wir brauchen ihre Vorratslieferungen, um
unsere Forschungen fortsetzen zu können. Genau das steht aber jetzt auf dem Spiel. So ein Krieg ist eine kostspielige Sache, die Menschen werden furchtbar zu leiden haben und niemanden wird es interessieren, ob ein paar Verrückte versuchen, einem alten Tempel seine Geheimnisse zu entreißen. Sie wissen nicht, wie wichtig unsere Forschungen hier sind. Wir können ihnen auch nicht die Wahrheit sagen. Die Gefahr die daraus erwachsen würde, wäre wesentlich größer als der Nutzen, den wir daraus ziehen könnten. Deshalb müssen sie auf andere Weise davon überzeugt werden, uns weiter zu unterstützen. Roland schafft das nicht
allein. Dafür ist er schon viel zu sehr einer von ihnen geworden. Er hat schon lange vergessen, weshalb wir all diese Mühen auf uns nehmen. Er braucht dich. Wir brauchen dich. Verstehst du das?“ Von Wort zu Wort war Rivas Blick skeptischer geworden, das Stirnrunzeln hatte sich tief in ihr Gesicht eingegraben. „Du weißt schon, dass das nach einer ziemlich öden, schon tausendmal erzählten Geschichte klingt?“, fragte sie in einem Anflug unpassenden Humors, doch Hoimars Blick blieb ernst und voller Sorge, weshalb sie sich räusperte und schnell hinzufügte: „Ich, tut mir leid, aber was hat das denn mit mir zu tun? Wieso
gerade ich?“ „Dein Vater hat dir doch sicher von deiner Mutter erzählt?“ Hoimar verlagerte sein Gewicht und streckte schließlich die Beine aus, während er auf eine Antwort wartete, die das Mädchen lediglich mit einer leichten Kopfbewegung gab. „Kein Wort davon?“, bohrte der Alte weiter nach. „Er hat gemeint sie wäre eine Tochter aus reichem Hause gewesen und ihr Vater ganz und gar nicht erfreut von ihrer Schwangerschaft, weshalb er sie gedrängt hätte, mich gleich nach der Geburt wegzugeben.“ „Ja, so kann man es wohl auch
ausdrücken“, meinte Hoimar und wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. „Aber das kann dir auch Roland erzählen. Ich bin sicher, dass dein Vater sich ihm in dieser Sache eher anvertraut hat. Jedenfalls führt der Weg zur Sicherung unserer Forschung über deine Mutter, die du gemeinsam mit deinem Bruder aufsuchen wirst. Wenn du sie überzeugen kannst, schaffst du das auch mit den anderen. Kjell hat mir gesagt, dass du recht gut für eine Sache einstehen kannst, hinter der du stehst. Deshalb gehe ich auch davon aus, dass du gut für diese Aufgabe geeignet bist. Natürlich könnten wir auch einen der älteren und erfahreneren schicken, aber
wir brauchen die Leute hier. Unsere Arbeit darf nicht unterbrochen werden und wir sind ohnehin nicht viele.“ „Ich soll also meine Mutter aufsuchen und sie um Geld bitten?“ Es war eine sonderbare Vorstellung, doch Riva musste zugeben, dass ihr der Gedanke gefiel, endlich diesen Menschen, der doch eigentlich eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielen sollte, kennenzulernen. „Das ist nur der Beginn des Ganzen“, gestand Hoimar bereitwillig. „Alles Weitere besprechen wir, sobald Roland hier eintrifft, damit ich nicht alles doppelt erzählen muss. Da wäre nur noch eine Sache, der Haken, der in jeder
Geschichte natürlich aufzutreten hat.
Dieser kleine Seitenhieb auf ihre vorige Bemerkung, ließ Riva schmunzeln.
„Und der wäre?“
„Du wirst das Ende der Geschichte nicht erleben.“
© Fianna 02/11/2015
EagleWriter Das ist hart. Oder auch nicht, je nachdem wie Hoimar seinen letzten Satz gemeint hat. Gibt ja viele Möglichkeiten sowas zu interpretieren. Ich hab Anfangs noch gar nicht einordnen können, warum die Leute überhaupt im Tempel sind und erst auf ein eher distopisches Setting getippt. Na bin mal gespannt wo das hinführt Ach ja und was Kjell sich gedacht haben könnte, als er Riva und Gunther in der quasi Besenkammer entdeckt ? Ich glaube das können wir uns alle denken ^^ lg E:W |
Fianna Ich weiß wieder mal selbst nicht genau, wo diese Geschichte überhaupt hinführt. Ich hab mich erst gestern dazu entschlossen, es wieder mal beim NaNoWriMo zu probieren, weil ich in letzter Zeit einfach nichts mehr zu Ende bringe. Bisher habe ich noch nicht in Richtung Dystopie gedacht, aber wer weiß schon, was meine Geschichte vorhat. :-) Und das mit der Besenkammer wird wohl noch einiges an Erklärungsbedarf brauchen. Danke wie immer für's Lesen, die Coins, den Favo und den ausführlichen Kommentar! Liebe Grüße Anna |