Geneigter Zuhörer, setz dich nieder und lausche dem, was ich zu erzählen habe. Es liegt schon einige Jahre in der Vergangenheit, dass in der nahen Stadt M solche Geschehnisse die Gemüter der braven Bürger erregten, dass noch heute manch wundersame Geschichte gesponnen wird über das Leben des Totengräberlehrlings Augustin. Ich selbst habe diesen jungen Mann nicht persönlich kennen lernen dürfen, aber ich habe alle Berichte über ihn zusammengefügt, sodass ich nun alle unglaublichen Ereignisse seines Lebens wie eine Karte vor mir ausgebreitet sehe,
welche ich lese und doch erstaunt bin, dass sie existiert. Doch will ich nicht weiter zaudern und euch das Folgende berichten. Doch wundert euch nicht, solltet ihr währenddessen an euren Sinnen beginnen zu zweifeln, denn hinter allem Wahrgenommenen lauern Dinge, die dem dafür nicht empfindlichen Sinnen verborgen bleiben müssen. Es begab sich, dass der junge Augustin zu M in seiner kleinen Hütte auf dem Friedhof im Schein einer Kerze saß und den Geräuschen der Nacht lauschte. Wie er dahin kam? Nun, der junge Bursche, geübt im Umgang mit der
Feder, war eine Person, welche gerne in den Tag hinein lebte. Dies war ganz gegen die strengen Ansichten seines Vaters, der den Sohn schon lange lieber würde ein ehrliches Gewerbe würde betreiben sehen, als dass dieser immerzu in Bücher und Papiere vertieft war. Augustin schrieb und dichtete nach alter Manier, wie es ihm die Bücher vorgaben, welche ihm seine Frau Mutter hinterlassen hatte, die starb, als der Junge gerade 12 war. Dieses Erbe behagte dem Vater nicht, welcher von Kunst nichts hielt, da sie nur den Körper verweichliche. So kam es auch, dass er den nun ganze 20 Lenze zählenden Sohn in die Welt
entließ, auf dass er sich endlich einen Beruf würde suchen. Doch verbrachte Augustin mehr Zeit mit dem Bücherstudium und dem Schreiben, als der Suche nach einem Broterwerb. Da er nun aber auch, wie jedes andere lebende Wesen, Nahrung und Kleidung bedurfte, sowie einer Zuflucht vor dem Sturm, so musste er sich schweren Herzens von seiner Liebe, den Schriften, abwenden. In jener zeit war es Brauch, dass sich ein jeder Handwerksmeister auf dem Marktplatz stellten und sich aus den wartenden Burschen die Gesellen suchten. Augustin kam, er hatte die zeit wieder vergessen, recht spät. Sodann
blieben nur die Gewerbe, welche keinem jungen Burschen behagten, weil sie unedel waren. So fand er sich schnell als Geselle des städtischen Totengräbers wieder, einem alten Mann mit, was man nicht für möglich hätte halten wollen, geradezu liebevollen Gesichtsausdruck. Augustin war diese Arbeit genauso wenig wert, wie eine jede andere. Er bedurfte ihrer lediglich um genug Geld zum Leben zu haben. Für mehr interessierte er sich nicht. Zudem würde diese Arbeit ihm genug Möglichkeiten eröffnen ganz ungestört seinen Gedanken nachgehen zu können. So war es ihm doch möglich die Last des Philistertums mit der Schönheit des
Müßigganges zu verbinden. Er lebte in der ihm zugewiesenen Hütte, welche ein alter Kanonenofen erwärmte. Im Schein einer Wachskerze schrieb er nieder, was er am Tage ersonnen hatte. Die ersten Monate beim alten Hades, dies war in der Tat der Name des Totengräbers, verbrachte er immer so und hatte dabei eine beachtliche Sammlung kleinerer Schriften angehäuft sowie unfertiger Fragmente, die ihm mit jedem Tag gelungener erschienen. Die stille Würde der Arbeit, die Stille selbst, mit der er und sein Lehrmeister ihrem täglichen Geschäft nachgingen, die weite des Ortes und die Mystik, die
über allem schwebte, all dies inspirierte ihn zutiefst. Als er in die pechschwarze Nacht hinausblickte, wünschte er sich, dass er sich wie ein großer Vogel in die Lüfte könne erheben und mit weit gespannten Flügeln über die Szenerie der Nacht fliegen könne. Ganz versunken in diese Gedanken klopfte es an seiner Türe. Vorsichtig öffnete er sie einen Spalt und erkannte eine zitternde Gestalt in weißem Gewand davor, welche vom hereinbrechenden Regen ganz durchnässt war. „Bitte lasst mich ein, dass ich meine Sachen trocknen kann. Ich bin eine Besucherin, die der Regen überraschte.“ Er bat sie einzutreten. Vor ihm stand eine
junge Dame mit leichenblasser Haut, sodass der Schnee dagegen grau erscheinen musste. Ihr Haar war schwarz wie Kohle und die Lippen trugen ein erfrorenes Blau zur Schau. Die Augen waren ganz dunkel, als würden sie nicht das erspähen, was ist, sondern das, was hinter den Dingen ist, ihrer Wesenheit. Gebannt von der zierlichen Gestalt im nicht minder weißen Gewand, brachte er keinen Ton hervor, als sie sich an seinen Ofen setzte und die klammen Hände rieb. „Verzeiht mein spätes Eindringen, doch ich wandelte auf dem Friedhof, hatte mich gerade zum Gehen gewandt, da überraschte mich der heftige Sturm.
Mein Name ist Lilith, Tochter des verstorbenen Gewänderhändlers Gütlich. Wie ruft man euch?“ Sie blickte mit ihren schwarzen Augen zu Augustin auf, welcher ganz gebannt dastand, aber dann doch wieder die Fähigkeit fand ihr etwas zu erwidern. „Augustin. Ich bin der Geselle des alten Hades. Ich…verzeiht mir meine Verstocktheit, doch mir ist, als hätte ich euch schon einmal geschaut. Und doch bin ich mir sicher, dass wir uns noch nicht begegnet sind.“ Sie rieb ihre Arme und zitterte leicht. „Gebt mir bitte eine Decke, Augustin. Und dann berichtet mir, woher wir uns
kennen.“ Er gab ihr die große Kamindecke und setzte sich zu ihr, wobei er ein Stück Papier in Händen hielt. „Bitte lest dies. Ich schrieb es vor nicht mehr als drei Tagen. Darin ist eine Erscheinung beschrieben, die der Euren, so erscheint es mir, wie eine Zwillingsschwester gleicht.“ Mit einem flüchtigen Lächeln las die Frau ein Fragment von Augustin. „Ihr seid wortgewandt für den Gesellen eines Totengräbers. Ich erkenne vor mir einen Künstler. Und…wie erschien euch die Gestalt, welche Ihr hier beschreibt?“ „Es war ein Traum, sie erschien darin und war so lebendig, als stände sie
neben mir. Sodass ich erschrak bei meinem ersten Blick auf Euch, dass mein Traum wäre aus meiner Gedankenwelt erhoben worden und erstanden hier auf Erden.“ Lilith lächelte nun stärker. „Vielleicht habt Ihr da nicht Unrecht und ich bin wirklich Euren Träumen entsprungen.“ „Dann sagt mir, Lilith, welche meinen Träumen entsprang, was Ihr zu dieser Stunde auf dem Gottesacker zu suchen hattet.“ „Das, was wohl jede Seele sucht, die hier umher wandelt. Die Nähe zu den Seelen derer, die nicht mehr auf dieser Erde wandeln, aber in unseren Herzen die Zeit überdauern. Meine geliebten
Eltern sind das Ziel meiner täglichen Besuche.“ Dies gemahnte Augustin daran, dass auch er jeden Tag, sobald sein Werk verrichtet war, das Grab der Mutter aufsuchte. „So sag mir, Traumgebilde, warum muss es diese späte Stunde sein?“ Die junge Frau nahm seine Hand und führte sie sachte über ihr Gesicht. „Du siehst und fühlst, dass meine Haut nicht die eines Menschen ist. Ich kann kein Sonnenlicht sehen, ohne dass es mich verbrennt. Ich leide Höllenqualen, wenn nur ein Strahl von Apollos Gestirn mich trifft. Ich habe die Sonnenkrankheit. Darum muss ich
hierher, sobald die Sonne ihre letzten grausamen Strahlen ausgesandt hat. Der alte Hades lässt mir eine kleine Pforte offen, sodass ich unbemerkt von den Blicken der Menschen hierhinein schlüpfen kann.“ Sie senkte ihr Haupt und sprach mit trauriger Stimme weiter. „Meine Mutter, ich konnte sie nur noch auf Bildern erblicken. Sie verstarb bei meiner Geburt an wilden Fieber. Meinem Vater war ich zu Lebzeiten nur eine große Last. Er liebte mich, weil ich ein verstoßenes Kind war. Aber ebenso litt er an jenem Umstand. Drei Sommer ist es nun her, dass sein gepeinigtes Herz Ruhe an der Seite seiner ewig geliebten
Frau gefunden hat. Und ich, das Unheil, ich muss weiterwandeln im Wissen, meine Eltern getötet zu haben. Deshalb tue ich jede Nacht Buße an ihrem Grab, sodass, wenn wir uns dereinst wiedersehen, sie mich mit offenen Armen empfangen.“ Von dieser Geschichte wurde das Herz von Augustin so angerührt, dass er die Fremde in seine Arme schloss, sodass sie an seiner Schulter weinen konnte. Dabei empfand er eine Nähe zu diesem traurigen Geschöpf, wie zu keinem Zweiten auf Gottes Erde. Diese Frau war ihm im Traum erschienen und hatte sein wahres Ich geschaut. Beide verband ein unsichtbares Band, welches
stärker war als das stärkste Tau des größten Schiffes, welches die Erde je gesehen hat. „Ich danke Euch, dass Ihr mir eure Gastfreundschaft und Euren Trost dargeboten habt.“ „Ihr seid kein Unglück, Lilith. Ihr seid ein Fräulein, von ganz besonderer Art. Noch nie erblickte ich ein Wesen, das in mir solch heftige Zuneigung hervorrief, wie Euch. Ich spüre in mir, wie diese Begegnung ganz neue Ideen in mir zum Vorschein bringt. Mein Kopf ist trunken von dem, was mein Herz ihm zuruft. Tausend Dinge will ich niederschreiben, doch ist das Chaos zu groß, als dass nur ein deutsches Wort würde
herausdringen. Millionen Empfindungen durchfahren mich, kaum einer kann ich einen Namen geben, so exotisch sind sie. Doch will ich sie alle ergründen und schließlich triumphierend einen Hymnus darauf schreiben, was mir in jener Nacht wiederfuhr. Wenn überhaupt, dann seid ihr eine Muse, die Freundin eines jeden Künstlers.“ Die weiße Frau gab ihm einen eisig kalten Kuss, welcher auf seiner Wange brannte, wie weißes Feuer. „Ich danke Euch für diese artigen Worte. Und ich freue mich schon jetzt auf den glückseligen Tag, da Euer Hymnus vollendet sein wird. So bitte ich Euch, dass ich jede Nacht zu Euch
kommen kann und Eure Muse sein darf.“ „Bitte Traumgestalt, entschwinde mir nie wieder. Gerne erwarte ich mit heißem Fieber deine Wiederkehr“, entfuhr es seiner entzündeten Brust. Worte, die nicht aus seinem Kopf zu kommen schienen, sondern aus anderen Sphären. „So kehre ich denn morgen wieder. Für heute verlasse ich Euch. Habt Dank für alles.“ Mit diesen Worten legte sie die Kamindecke nieder und begab sich wieder hinaus in die pechschwarze Nacht. Auf den kleinen Punkt, wo zuletzt ihr weißes Gewandt schimmerte, blickte Augustin gebannt noch viele
Minuten, obwohl kein Schimmer davon mehr erkenntlich war. Dann schloss ihm der süße Schlummer die Augen bis zum nächsten morgen.