Kurzgeschichte
Eine Vorweihnachtsgeschichte

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"Eine Vorweihnachtsgeschichte"
Veröffentlicht am 29. November 2008, 14 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Es fällt mir nicht leicht, etwas über mich zu schreiben. Also ganz kurz: 52 Jahre alt,glücklich geschieden, Mutter von drei Superkindern, Psychologisch-technische Assistentin - fühle mich viel jünger als ich bin. Noch Fragen, dann fragt ruhig, ich stehe jederzeit Rede und Antwort.
Eine Vorweihnachtsgeschichte

Eine Vorweihnachtsgeschichte

Beschreibung

Diese Geschichte schwirrt mir schon länger im Kopf herum, jetzt muss sie zu Papier.

Und wieder einmal war der Advent gekommen. Eigentlich liebte sie diese Zeit, die Lichter, die klare frostige Luft, die Weihnachtsmusik und natürlich auch die Vorfreude auf Weihnachten. Was sie allerdings in dieser Zeit hasste, das war das Einkaufen, aber es ließ sich ja nicht vermeiden, schließlich musste ihre Familie etwas zu Essen haben.

Sie suchte immer denselben Supermarkt auf. Schon vor Wochen war ihr aufgefallen, dass nicht weit von der Eingangstür entfernt ab und zu ein junger Mann stand. Er musste so ungefähr 15 Jahre alt sein, schätzte sie. Er schien zu niemandem dazuzugehören, denn er war immer allein. Auch seine Kleidung war nicht der Jahreszeit angemessen. Ständig trug er dieselben Sandalen mit dicken Socken, eine Jeans mit großen Rissen, aber das war wohl sowieso gerade modern und eine abgewetzte Jeansjacke. Er stand da, allein, an die Wand gelehnt, den Blick in die Ferne gerichtet, als würde er dort etwas suchen. Er stand einfach nur da, stundenlang und wirkte dabei verloren und klein. Ab und zu klaubte er eine Packung Tabak aus seiner Tasche und drehte sich mit klammen Fingern eine Zigarette. Dann zog er den Rauch ganz tief in seine Lunge. Wenn er den Rauch wieder ausblies, dann reckte er seinen Kopf zum Himmel.

Sie wohnte in einer kleinen Stadt, wo fast jeder jeden kannte. Diesen Jungen aber hatte sie erst vor wenigen Wochen zum ersten Mal wahrgenommen. Sie hatte ihn eine Weile beobachtet, aber auch ihre Zeit war bemessen, so dass sie an ihm vorbeihastete, ihre Kinder und die Waren ins Auto verfrachtete und sich wieder auf den Heimweg machte. In der Hektik ihres Alltages hatte sie diesen Knaben dann auch bald wieder vergessen.

Jetzt aber war Vorweihnachtszeit. Vielleicht sehen die Menschen, oder zumindest einige Menschen, in dieser Zeit deutlicher hin, vielleicht macht sich mehr Menschlichkeit in den Menschen breit, vielleicht hatte sie aber auch tatsächlich etwas mehr Zeit als sonst.

An diesem Tag hatte sie sich allein auf den Weg zum Supermarkt gemacht. Schon als sie auf den Parkplatz fuhr, bemerkte sie den jungen Mann, der wieder einmal an der gewohnten Stelle stand. Es war eisig kalt an diesem Tag. Der Junge trat in seinen Sandalen von einem Fuß auf den anderen. Ab und zu hob er seine Hände zum Mund und blies seinen warmen Atem hinein. Ansonsten war es aber wie immer. Immer wieder ließ er seinen Blick in die Ferne schweifen. Unschlüssig blieb sie ein Weilchen neben ihrem Wagen stehen, schüttelte dann den Kopf und begab sich in den Supermarkt, um ihre Einkäufe zu erledigen.

Der Einkauf dauerte nicht lange. Sie schob den Einkaufswagen zu ihrem Auto und packte alles in den Kofferraum. Aus den Augenwinkeln nahm sie war, dass dieser junge Mann sie intensiv dabei beobachtete. Das war ihr unangenehm. Wieso starrte er gerade sie an? War irgendetwas an ihr nicht in Ordnung? Suchend ließ sie ihren Blick über ihre Kleidung gleiten: Nein, alles war perfekt, so wie sie es liebte. Sie schob den Einkaufswagen wieder zurück. Dann sah sie wieder zu dem jungen Mann, der inzwischen wieder in die Ferne starrte. Sie verharrte einen Moment. Sie hatte das Gefühl, irgendetwas tun zu müssen, irgendetwas, sie konnte heute nicht untätig nach Hause fahren. Sie spürte, ihr Gewissen würde ihr keine Ruhe lassen.

Ganz gegen ihre Gewohnheit ging sie zum Imbisswagen, der vor dem Supermarkt stand: „Eine Currywurst Pommes und einen Becher Tee, bitte“, bestellte sie. Sie nahm diesen kleinen Imbiss und ging zielstrebig auf den jungen Mann zu. „Hier“, sagte sie und drückte ihm Teller und Becher in die Hand. Ungläubig sah er sie an, murmelte leise: „Danke“ und machte sich dann heißhungrig über Speise und Getränk her. Ketchup lief aus seinen Mundwinkeln, den er mit seinem Jackenärmel wegwischte. Er kaute hastig, trank zwischendurch immer wieder einen Schluck von dem dampfenden Tee, sah sie an und lächelte zaghaft. Wortlos wandte sie sich ab und machte sich auf den Heimweg.

Etwas war anders seit diesem Tag. Der Junge ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Er hatte sich, ohne selbst etwas davon zu ahnen, in ihr Herz geschlichen. Wenn sie beim Hausputz an dem leeren Gästezimmer vorbeikam, dachte sie an ihn. Wo mag er wohl schlafen? Wenn sie mit ihrer Familie um den Esstisch herum versammelt war, an dem immer wieder Stühle leer blieben, fragte sie sich: Bekommt er regelmäßig etwas zu essen? So, wie er ihr Geschenk verschlungen hatte, sah das ganz anders aus.

Eines Tages stand sie vor dem Kleiderschrank im Schlafzimmer. Dort hing eine schöne warme Winterjacke ihres Mannes, die dieser schon seit Jahren nicht mehr trug: „Sie ist unbequem“, hatte er gesagt. Auch die Winterstiefel, die er nur noch ab und zu im Garten trug, hatten schon bessere Tage gesehen. Nun aber verstaute sie diese Sachen und noch einige Kleidungsstücke mehr in einer großen Plastiktüte, bevor sie sich zum nächsten Einkauf aufmachte.

Schon von weitem sah sie das gewohnte Bild. Da stand er mit seinen Sandalen im Schnee. Er zitterte vor Kälte und blies immer öfter seinen warmen Atem in die klammen Hände. Nun nahm er das Feuerzeug aus seiner Tasche, hielt seine kalten Hände dicht über die Flamme, während sein Blick in die Ferne gerichtet war. Plötzlich zog er die Hand zurück, weil er der Flamme zu nah gekommen war. Sie holte die Tasche aus dem Kofferraum, ging schnurstracks auf ihn zu und drückte ihm mit einem leisen: „hier“ die Sachen in den Arm. Wieder einmal glitt dieses Lächeln über sein Gesicht. Schnell verschwand er in der Gästetoilette des Supermarktes. Sie erledigte inzwischen ihre Einkäufe. Als sie wieder aus dem Supermarkt heraustrat, sah sie ihn wieder an seinem gewohnten Platz stehen. Die Sandalen hatte er gegen die alten Winterstiefel ihres Mannes getauscht. Die viel zu große Winterjacke schlang er um seinen Körper. Lächelnd und mit feuchten Augen starrte er lächelnd in die Ferne.

Auch ihr stiegen die Tränen in die Augen, während sie sich auf den Weg zu ihrem Auto machte.

Vorsichtig schlug sie Zuhause im Kreise ihrer glücklichen Familie immer wieder das Thema an, was die anderen Familienmitglieder davon halten würden, wenn sie wenigstens über Weihnachten einen Gast hätten. Sie erzählte von dem jungen Mann. „Der sieht nett aus, aber so traurig“, sagte ihre kleine Tochter. „Muss ich ihn mit meinen Spielsachen spielen lassen?“ maulte ihr Sohn vorsichtig. „Mach doch was du willst, das machst du ja sowieso“, war der Kommentar ihres Mannes.

Jetzt waren es nur noch 14 Tage bis Weihnachten und ihr Entschluss stand fest. Diesmal fuhr sie zwar wieder zum Supermarkt, aber nicht, um dort einzukaufen, sondern um sich und der Welt ein Geschenk zu machen.

Da stand er wie gewohnt. Er grinste breit, als er sie kommen sah. Sie ging direkt auf ihn zu, nahm seine Hand und sagte nur: „Komm.“ Willenlos folgte er ihr, ohne zu wissen, was mit ihm geschah. Sie hatte diesen Zeitpunkt absichtlich so gewählt. Ihr Mann war bei der Arbeit und die Kinder waren in der Schule. Sie nahm ihn mit nach Hause. Dort angekommen, ließ sie ihm ein warmes Bad ein und richtete etwas zu Essen für ihn her. Als  sie nach einer ganzen Weile, die er in dem warmen Wasser verbracht hatte, mit ihm am Esstisch saß und ihm zusah, wie er das Essen in sich hineinschlang, glitt ein Lächeln über ihr Gesicht. Die Kleidung ihres Mannes, die sie für ihn herausgesucht hatte, war viel zu groß. Sie würde ihn neu einkleiden müssen, dachte sie. Nach dem Essen führte sie ihn ins Gästezimmer: „Hier wirst du schlafen“, sagte sie. Er hatte die Augen weit aufgerissen, brachte nur ein „Aber“ hervor, bevor er ins Bett stieg und prompt einschlief. Er schlief bis zum nächsten Morgen.

Langsam, ganz allmählich erfuhr sie seine Geschichte. Er sei nur einer von vielen gewesen in der großen Stadt, eines von den verlorenen Kindern. Sein Vater hätte die Familie verlassen, seine Mutter hätte mehr und mehr getrunken und fast jeden Tag einen neuen Mann mit nach Hause gebracht. Als sie endlich einen gefunden hatte, der bereit war, länger bei ihr zu bleiben, begann für ihn ein Martyrium, denn auch dieser Mann trank. Immer wenn er betrunken war, dann schlug er ihn, oft ohne Anlass, einfach nur, weil er da war. Irgendwann hatte er es nicht mehr ausgehalten und war weggelaufen. Niemand hatte ihn vermisst. Die anderen Kinder und Jugendlichen auf der Straße ertränkten ihre Frustration im Alkohol oder sie nahmen Drogen. So hatte er nicht enden wollen, deshalb war er in die kleine Stadt gegangen. Geschlafen hatte er in leeren Häusern. Sein Essen hatte er sich geklaut oder die Reste gegessen, die die Leute beim Imbiss stehenließen. Tabak war sein einziger Luxus gewesen. Den finanzierte er sich durch das Sammeln von Pfandflaschen, die er immer wieder in den Papierkörben der Stadt gefunden hatte. Er liebte den Platz am Supermarkt, weil er dort glückliche Familien sah. Dann ließ er den Blick in die Ferne schweifen, denn in seinen Träumen war auch er in so einer Familie, ein geliebtes Kind. Oft hatte sie mit ihm geweint, ihn getröstet, ihn in ihre Arme genommen und ihm gezeigt, was Mutterliebe sein kann.

Das ist nun zwei Jahre her. Damals war es eine Laune in der Vorweihnachtszeit gewesen, ein stummer Hilfeschrei, der in ihr Herz gedrungen war. Mittlerweile aber war er ein vollwertiges Familienmitglied. Seine Mutter hatte keine Schwierigkeiten gemacht, als sie ihr angeboten hatten, ihn zu adoptieren, denn alles sollte offiziell sein. Die Familie hatte ihn mit offenen Armen aufgenommen. Ihre kleinen Kinder waren mittlerweile stolz auf den großen Bruder, ihr Mann war begeistert von einem Gesprächspartner und einem großen Sohn, der begeistert mit ihm Schach spielte. Er hatte seinen Schulabschluss gemacht und eine Lehre als Gärtner begonnen. Er liebte es, an der frischen Luft zu sein. Er hatte gelernt zu lachen, aber wenn er im Garten werkelte, richtete sich sein Blick immer wieder in die Ferne. Dann lächelte er und flüsterte leise: „Danke.“

Und wieder war Weihnachten nah. „Du bist mein Christkind“, hatte sie zu ihm gesagt und er spürte, wie stark wahre Liebe sein kann. „Du bist mein Weihnachtsengel, Mama“, sagte er zu ihr.

 

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Hörbuch

Über den Autor

Chrissy55
Es fällt mir nicht leicht, etwas über mich zu schreiben. Also ganz kurz: 52 Jahre alt,glücklich geschieden, Mutter von drei Superkindern, Psychologisch-technische Assistentin - fühle mich viel jünger als ich bin. Noch Fragen, dann fragt ruhig, ich stehe jederzeit Rede und Antwort.

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Chrissy55 Re: Vorweihnachtsgeschichte -
Zitat: (Original von Abendstern am 30.11.2008 - 18:55 Uhr) schön, dass du sie zu Papier gebracht hast !
Berührend und auch voller Spannung geschrieben, mein Kompliment, liebe Chrissy

herzliche Grüße
und einen wunderschönen Restadventsonntag
Waltraud


Ich danke dir, Waltraud. Freut mich, dass dir meine Geschichte gefallen hat. Sie schwirrte schon seit einiger Zeit in meinem Kopf herum, so dass ich es gar nicht erwarten konnte, sie endlich zu schreiben.
LG Chrissy
Vor langer Zeit - Antworten
Chrissy55 Re: Eine -
Zitat: (Original von ulla am 30.11.2008 - 18:20 Uhr) wunderschöne, berührende Geschichte
lg
ulla


Ich danke dir, Ulla, wenn es nur im wirklichen Leben auch so sein könnte.
Eine schöne Vorweihnachtszeit und LG Chrissy
Vor langer Zeit - Antworten
Chrissy55 Re: Vorweihnachtsgeschichte -
Zitat: (Original von PaulG am 30.11.2008 - 17:25 Uhr) Hallo Chrissy hab mich zwar fast nicht an so eine lange Geschichte heran gewagt - aber es hat sich gelohnt. Da kommt sehr viel Herzlichkeit durch...

Liebe Grüsse in deine Vorweihnachtszeit
Paul


Vielen Dank, Paul, freut mich, dass du sie trotz der Länge gelesen hast und dass sie dir gefällt. Auch in deine Vorweihnachtszeit ganz liebe Grüße
Chrissy
Vor langer Zeit - Antworten
Chrissy55 Re: wow -
Zitat: (Original von Alaways am 29.11.2008 - 22:41 Uhr) Liebe chrissy

das ist einfach nur super süß die geschichte.
Da fühlt man richtig mit. Ist echt ein super gelungenes werk. Mir fehlen die Worte.
einfach schön.

LG Steffen


Oh Mann, soviel Lob habe ich überhaupt nicht erwartet. Ich freu mich total. Ich weiß gar nicht so recht, was ich darauf antworten soll. Aber es ist schön zu wissen, dass diese Geschichte soviel Anklang bei dir finde. Vielen Dank noch einmal.
LG Chrissy
Vor langer Zeit - Antworten
Abendstern Vorweihnachtsgeschichte - schön, dass du sie zu Papier gebracht hast !
Berührend und auch voller Spannung geschrieben, mein Kompliment, liebe Chrissy

herzliche Grüße
und einen wunderschönen Restadventsonntag
Waltraud
Vor langer Zeit - Antworten
ulla Eine - wunderschöne, berührende Geschichte
lg
ulla
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PaulG Vorweihnachtsgeschichte - Hallo Chrissy hab mich zwar fast nicht an so eine lange Geschichte heran gewagt - aber es hat sich gelohnt. Da kommt sehr viel Herzlichkeit durch...

Liebe Grüsse in deine Vorweihnachtszeit
Paul
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