Gerade heute musste ich wieder einmal an eine Geschichte denken, die mir vor vielen Jahren passiert ist. Meine Tochter hat damals die Tätigkeit als Zeitungsausträgerin von ihrem Bruder übernommen. Sie hatte die Aufgabe, jeden Mittwoch ein Mitteilungsblatt auszutragen, welches jeder Haushalt bekam. Ab und zu holte sie sich dazu die Unterstützung von Freundinnen. So war es auch an diesem verhängnisvollen Tag. Swea und Andrea machten sich mit Inlinern auf den Weg, diese Blätter zu verteilen. Es war ein sonniger, warmer Sommertag. Wie oft hatte ich schon gepredigt: „Fahrt bitte nicht ohne Handgelenk- und Knieschoner.“ Wie so oft versprachen sie es mir, hielten sich aber letztendlich doch nicht daran.
Nach ca. einer Stunde stand Swea aufgelöst vor meiner Haustür. Sie hatte Tränen in den Augen und beichtete: „Du, Mama, Andrea hat sich verletzt, sie hatte keine Handgelenk- und Knieschoner an und ist in einer Kurve hingefallen. Jetzt tut ihr das rechte Handgelenk ganz doll weh. Sie ist schon Zuhause bei ihrer Mama.“ Die Familie wohnte in der Nachbarschaft, also eilte ich gleich hinüber. Andrea saß in einem Sessel und hielt sich ihr schmerzendes Handgelenk. Die Tränen rannen ihr über das Gesicht. Ich ging zu ihr, nahm sie in den Arm und sagte: „Ich fahre jetzt sofort mit dir ins Krankenhaus.“ Sie nickte nur stumm und trottete hinter mir her.
In der Notfallambulanz angekommen mussten wir recht lange warten, bis sie endlich untersucht werden konnte, denn es war ziemlich viel los. Endlich war es so weit. Es wurde eine Röntgenaufnahme angefertigt, auf der deutlich zu erkennen war, dass ihr Handgelenk gebrochen war. Jetzt weinte Andrea noch mehr. Der Arzt schickte uns zurück in die Wartezone, damit er in Ruhe mit Andreas Mutter telefonieren und ihr das Ergebnis der Untersuchung mitteilen konnte. Wir saßen still nebeneinander, Andrea weinte immer noch. Sie hatte offensichtlich Angst vor dem, was jetzt kommen sollte. Ach, dachte ich, eigentlich muss doch nur ein Gipsverband angelegt werden. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich das weinende Mädchen. Sie tat mir unendlich Leid. „Möchtest du einen Bonbon?“ fragte ich sie, weil ich dachte, Ablenkung wäre jetzt die richtige Therapie. Gern griff Andrea zu, lächelte mich gequält an und aß dann genüsslich die Süßigkeit.
Schon kurz darauf stand der Arzt vor mir und meinte: „Wir müssen den Bruch operieren. Wann hat sie denn das letzte Mal gegessen?“ Vor Schuldgefühlen rot anlaufend antwortete ich: „Gerade eben, ich habe ihr einen Bonbon gegeben.“ Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich und in grimmigem Ton sagte er: „Dann können wir heute nicht mehr operieren, ich ruf die Mutter noch einmal an.“
Ich zuckte die Achseln, sah Andrea an und lächelte. Mein Blick wanderte weiter über den Flur dieser Notfallambulanz. Am Ende des Flures stand ein Krankenhausbett in der Art, wie sie benötigt werden, um Patienten durch das ganze Gebäude zu transportieren. Darauf lag ein kleines Mädchen, das ich auf ca. 6 Jahre schätzte. Es war nur ein dunkler Lockenkopf von dem Kind zu sehen. Dieses Kind weinte bitterlich. Weit und breit war nichts von den Eltern zu sehen. Offensichtlich war dieses arme Mädchen völlig allein. Ich stand auf, ging ein paar Schritte auf sie zu, sah sie an und lächelte. Sie aber weinte weiterhin. Sie tat mir sehr Leid. In diesem Moment hatte ich einfach nur das Gefühl, irgendetwas tun zu müssen, aber was. Bonbons, dachte ich, Bonbons können sehr tröstlich sein in Situationen wie diesen. Ich hielt es für eine gute Idee, also machte ich mich auf zum Arzt, lächelte ihn an und fragte: „Meinen Sie, ich kann dem kleinen Mädchen da hinten einen Bonbon geben?“ Er hielt die Muschel des Telefons zu, funkelte mich ausgesprochen wütend an und brachte mit gepresster Stimme hervor: „Nun hören Sie doch endlich auf, hier Bonbons zu verteilen.“
Mit eingezogenen Schultern und voller Schuldgefühle zog ich mich zurück und pflanzte mich auf den Stuhl neben Andrea. Ich fühlte mich in diesem Moment nicht wirklich wohl, dabei hatte ich es doch nur gut gemeint.
Schon kurze Zeit später stand der Arzt vor uns, drückte mir einen Zettel in die Hand und erklärte mir, dass Andreas Handgelenk am nächsten Morgen operiert werden würde. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er mich nicht wirklich gut leiden kann.
Vielleicht hätte ich den Arzt lieber fragen sollen, ob ich das weinende Mädchen in den Arm nehmen darf, denn Umarmungen schaden nicht, können aber unheimlich tröstlich sein.
Andreas Handgelenk ist übrigens folgenlos verheilt und seit diesem Erlebnis legten die Mädchen beim Fahren mit Inlinern zuverlässig Handgelenk- und Knieschützer an.
So hatte also auch diese Geschichte etwas Gutes.