15
Grau und trostlos standen sie da und streckten ihre zarten Glieder gen Himmel. Die Luft ringsum, die von düsterem Nebel getränkt war, bewegte sich kein bisschen und kein einziger Laut war zu vernehmen. Die Welt schien stumm zu sein,…stumm und farbenblind gleichermaßen.
Vorsichtig bewegte Tyquan sich voran, setzte einen Fuß vor den anderen, als wäre er nicht sicher, ob seine Beine sein Gewicht tragen konnten. Und doch taten sie es ohne Probleme. Er wusste ohnehin nicht, weshalb er überhaupt gezweifelt hatte,…wenn er es genau nahm, so
wusste er gar nichts, konnte sich an rein gar nichts erinnern, hatte keine Ahnung, wo er war, wer er war, was er war.
Das einzige, das er wusste, war, dass er diese Bäume berühren musste, dass er sich davon überzeugen musste, dass sie echt waren und nicht nur ein Hirngespinst, eine Spielerei des Nebels, der sich nicht von der Stelle rührte.
Unvorstellbar langsam näherte er sich ihnen. Fast schien es, als würden sie sich beständig von ihm fortbewegen, sobald er auch nur einen Schritt in ihre Richtung getan hatte und obwohl er aus einem für ihn unerfindlichen Grund vollkommen erschöpft war, ging er weiter, ließ sich nicht aufhalten. Weder
von seinen schweren Gliedern noch von dem Pfeifen, das nun in seinen Ohren einsetzte. Es war kein Geräusch dieser Welt, sondern ein Ton, der die Stille ersetzen sollte, da sein Verstand völlige Lautlosigkeit nicht kannte.
Ein vorbeihuschender Schatten zog die Aufmerksamkeit des Limaren auf sich. Hastig wandte er sich um, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren, doch das war auch schlechterdings unmöglich, denn inzwischen waren mehrere dieser Dinger aufgetaucht, schwebten durch die ansonsten bewegungslose Luft; die einen schneller, die anderen langsamer…manche davon mit einer solch großen Geschwindigkeit, dass sie nur für
Augenblicke sichtbar waren.
Überrumpelt von der plötzlichen Betriebsamkeit hielt Tyquan an und versuchte sich neu zu orientieren. Die Bäume, die er anfangs noch so klar hatte erkennen können, waren plötzlich verschwunden. Rund um ihn herum gab es nur noch Nebel. Nebel und umherziehende Schatten, die es jedoch nicht wagten, sich ihm zu nähern.
Von einem Moment auf den anderen durchfuhr ein eisiges Ziehen seine Schulter, breitete sich über seinen gesamten Oberkörper aus und gelangte schließlich in seinen Bauch, schien seine Eingeweide einzufrieren. Mit einem Keuchen sackte er in die Knie, presste
die Hände gegen seinen Magen, als könne dies das grässliche Druckgefühl vertreiben, das sich darin ausgebreitet hatte.
In eben diesem Moment begannen die Schatten sich zu verdichten; sich zu vereinen; Gestalt anzunehmen, nur um im nächsten Moment wieder in Formlosigkeit zu zerfließen.
Schließlich versagte auch noch Tyquans Atmung. Röchelnd schnappte er nach Luft, die in viel zu geringen Mengen vorhanden zu sein schien. Seine Lunge schien sich schmerzhaft zusammenzuziehen…seine Augen konnten nichts Klares mehr erkennen. Es gab keine Konturen mehr, keine Linien, alles
verschwamm in Sinnlosigkeit und völliger Tristheit. Grau. Alles war so grau….so farblos…so trostlos…
*
Das Eis hatte sich plötzlich in Feuer verwandelt…eine Flamme, die auch nicht im Geringsten daran dachte an Hitze zu verlieren und sie schien ihn von innen zu verzehren.
„Also ehrlich, ich glaube ja nicht, dass der schon wach ist“, drang da eine nicht ganz unbekannte Stimme durch den Schleier des Schmerzes hindurch.
„Oh doch, der ist wach…aber das Mittelchen von diesem Zauberer hat
offensichtlich das gehalten, was er versprochen hat. So sollte es kein Problem sein, ihn zu transportieren und gleichzeitig einer Verwandlung entgegen zu wirken.“
„Also so ganz verstehe ich das immer noch nicht“, meinte da wieder die erste Stimme. „Er ist also in einer anderen Welt? Wie soll das eigentlich gehen, wenn sein Körper doch hier ist?“
„Ach vergiss es einfach,…das musst du nicht verstehen…so ganz verstehe ich es ja auch nicht. Hauptsache ist doch, dass es funktioniert und zwar reibungslos….ich habe keine Lust mich mit einem wütenden Limaren herumzuschlagen. Da habe ich
wesentlich besseres zu tun….und diesen verdammten Bengel müssen wir auch wieder einfangen. Da wir haben, was er wollte, wird er sich vielleicht darauf beschränken uns einen Arm auszureißen anstatt des Kopfes, aber ich für meinen Teil hänge doch ziemlich an meinen Gliedmaßen.“
„Naja…allzu weit kann der ja nicht sein mit den kurzen Beinen.“
„Wir sollten ihn nicht unterschätzen“, mischte sich nun noch ein dritter ein. „Schließlich hätte auch keiner erwartet, dass er so mir nichts dir nichts die Seiten wechselt.“
Langsam glitten Tyquans Gedanken wieder ab, konnten sich nicht mehr am
Gesprochenen festklammern und wurden zu wirren Lauten, die er nicht mehr identifizieren konnte. Die Augen hatte er ohnehin nicht öffnen können und nun verschwand er wieder in jenem grauen Reich, das sein Geist von allein nicht mehr würde verlassen können. Denn die Welt der Schläfer ließ diejenigen, die sie einmal in ihren Bann gezogen hatte, nicht mehr so schnell los, wie es den meisten lieb gewesen wäre.
*
Wasser spritzte als Nico die Oberfläche durchbrach und nach Luft schnappte. Ringsum war es stockdunkel, sodass er
weder erkennen konnte, wo die nächste Wand, noch wo das Ufer war; wenn es denn überhaupt ein Ufer gab, was er ja nicht wirklich voraussetzen konnte. Wild um sich strampelnd, um nicht unterzugehen, bewegte der Junge sich einfach in die Richtung, in die er gerade blickte, in der Hoffnung auf Grund zu treffen.
Für einen Moment glaubte er einen Luftzug zu spüren, was auf einen Durchgang nach draußen schließen ließ, doch schon wenige Augenblicke später war er sich dessen nicht mehr so sicher. Ob der Kälte des Wassers, durch das er schwamm, zitterte er bereits unkontrolliert und es fiel ihm immer
schwerer, an der Oberfläche zu bleiben. Vor allem seine Kleider wogen schwer an seinem Körper und drohten ihn nach unten zu ziehen.
Seine einzige Hoffnung war, dass seine Füße bald auf Boden treffen würden. Ansonsten würde es schlecht für ihn aussehen, denn Gliedmaßen spürte er bereits nicht mehr. Und so tauchte er bei jedem Schwimmzug tiefer unter und jedes Mal fiel es ihm schwerer, weiter zu paddeln.
Völlig unverhofft prallte sein Fuß gegen einen kantigen Stein, woraufhin ein ziehender Schmerz einsetzte. Hastig tastete sich der Junge weiter vor und fand bald darauf einen weiteren Stein,
auf dem er für eine Weile stehen blieb, um wieder zu Luft zu kommen. Erst als er sich einigermaßen gefangen hatte, wagt er, einen Fuß voranzusetzen und er atmete erleichtert auf, als er merkte, dass er wohl so etwas wie ein Ufer entdeckt hatte.
Hastig zog er sich an Land, rückte vom Wasser fort, so weit es ihm möglich war und atmete dann erst einmal tief durch. Ihm war eiskalt. Alles an seinem Körper schien zu zittern, sogar seine Augenlider. Vorsichtig hob er diese an, doch das machte keinen Unterschied. Es war stockfinster. Nur ein beständiger leichter Wind wies darauf hin, dass es eine Öffnung geben musste, die nach draußen
führte. Nachdem der Junge sich einigermaßen gefangen hatte, erhob er sich und tastete sich auf diesen Luftzug zu. Dabei kam er nur sehr langsam voran, weil er ständig fürchtete, irgendwo anzustoßen. So irrte er eine ganze Weile umher, musste sich hin und wieder bücken, um unter Felsspalten hindurchzukriechen oder über Geröll hinweg klettern, immer auf der Spur des Windes, der ihm entgegenwehte.
Endlich, als er schon gefühlte Stunden gewandert war, tat sich vor ihm eine Öffnung auf. Die plötzliche Helligkeit blendete ihn, sodass er mehrmals blinzeln musste, um nicht völlig blind zu sein. Nun wurde sein Schritt schneller.
Die letzten paar Meter lief er fast.
Kaum hatte er die Höhle hinter sich gelassen, da streckte ihn völlig aus dem Nichts etwas nieder.
„Na warte, Kleiner. So leicht kommst du uns nicht davon.“
Nico hörte die Worte nur noch undeutlich. Das eisige Wasser, der kräftezehrende Weg durch die Minen und der Schlag ins Gesicht hatten ihn all seine Kräfte gekostet. So bekam er nicht mehr mit, wie ihm Fesseln angelegt wurden und man ihn auf einen Karren legte, direkt neben jenen Mann, der so kurz zuvor noch versucht hatte, ihm das Leben zu nehmen.