Prolog
21. Erster Morgen. 775 ÄIII n.Br. – Burg Stolzeswall, Fürstentum Viné
Von allen Wünschen, die in den Geistern der Menschen gellen, schreit der nach Beständigkeit, nach Ewigkeit mit der lautesten Stimme, aber auch mit der größten Vermessenheit. Dies wurde dem alten Sir Marner Fried bewusst, als man ihn über die zersplitterten Pflastersteine den Ruinen von Stolzeswall entgegenschleifte. Die gewaltige Festung war einst ein Monument eben jenes Wunsches gewesen, welches nun jedoch als ein steinernes Skelett in den
verregneten Nachthimmel ragte. Er wehrte sich nicht gegen die groben Hände, die seine Schultern gepackt hatten und ihn gegen die Rinnsale zerrten, die vom Hügel aus herab flossen. Was geschehen würde, war unausweichlich.
Meine Zukunft endet hier, erkannte er und konnte dabei nicht behaupten, von dieser Aussicht betrübt zu sein. Stattdessen fand er etwas Schönes darin, einen Hauch von Gerechtigkeit. Das Schicksal, welches ihn nun erwartete, hatte er verdient. Ein fehlgeleiteter Mann, besessen von einer Idee, nur ein Mensch, der sich an einer entscheidenden Stelle geirrt hatte und in
die bodenlose Grube des Bösen gefallen war, das unter dem Mantel des Rechtschaffenen flanierte.
Seine Knie donnerten bei jedem Ruck auf das Pflaster, dass der Schmerz nach wenigen Metern als ein Ächzen aus seinem Mund quoll. Doch die Schergen zu seinen Seiten straften ihn mit Missachtung, schienen nur noch schneller zu gehen und heftiger an seinen Schultern zu reißen. Einst hatte er es genossen desnachts im Regen umherzuwandern, doch an diesem Abend konnte er dem schwärzlichen Glanz, der die ganze Welt bedeckte, keine Schönheit abgewinnen. Heute sah er nur künftiges Unheil, das im beißenden Wind
schwelgte, in den brandenden Wellen unter den Klippen johlte, aus den kahlen Bäumen gellte und in den bemoosten Steinen sang. Ein Unheil, das er selbst geboren hatte und das die ganze Welt verschlingen würde wie der Regen, der nun auf ihn niederprasselte.
Für einen Augenblick stach die Frage durch seinen Geist, ob in seinem Herzen nur ein Keim von Reue blühte, doch er wusste, dass er nie anders hätte handeln können. Er wünschte es zwar, doch das erschien ihm bedeutungslos. Er hatte nie eine Wahl gehabt und solange es diese nicht gab, gab es auch nichts zu bereuen.
Der zerrüttete Weg flachte ab, als sie die Spitze des Hügels erreichten, wo sich
ein eingefallener Torbogen über ihre Köpfe spannte. Dahinter deutete die Ruine eines Turms mit drei verwitterten Steinfingern auf den fahlen Mond, der am pechschwarzen Himmel prangte. Zu Füßen des alten Gemäuers erstreckte sich ein Innenhof, überwuchert von farnartigem Gestrüpp, das im Wind langsam wogte. Aus dem Pflaster waren groteske Bäume hervorgebrochen, deren kahle Äste sich entropisch gen Himmel schraubten. Der Frühling schien diesen Ort nie erreicht zu haben, denn statt Blüten und Blätter trugen die Bäume die Leichen gehängter Männer, die wie makabre Marionetten im Wind baumelten. Sie glotzen ihn aus ihren
leeren Augen an. Der Tod hatte auf ihren Gesichtern den Tanz von Erleichterung, Schrecken und Schmerz eingefroren. Ein versteinertes Mahnmal dessen, was ihn erwarten würde.
Während die Schergen ihn über den Hof zerrten, zollten grobe Stimmen Beifall. Kaum hatten sie seine Ohren erreicht, erkannte er unzählige Gestalten, mehr Schatten denn Männer. Einige trugen grobe, dunkle Kutten, andere einfache Lederrüstungen, eine Meute, die einer Banditenrotte gleichgekommen wäre, hätte es unter ihnen nicht jenen einen Mann gegeben, dem sie ihn entgegenschleiften.
Er ragte direkt vor einer Steinformation
auf, die Marner als den ehemaligen Eingang des verfallenen Turms erkannte. Der knielange, gesteppte Waffenrock aus nachtschwarzem Stoff schien seinen hageren Körper noch zu strecken. Versilberte Panzerplatten zierten die schmalen Schultern, doch da er Marner den Rücken zugewandt hatte, konnte er weder ein Wappen noch sonst einen Hinweis auf die Identität des Mannes erkennen.
„Ihr sterbt hier“, der Unbekannte sprach, ohne sich umzudrehen, und mit einer Stimme, aus der nur Kälte wisperte.
Er hatte längst gewusst, dass er in dieser Nacht, an diesem Ort, unter diesem Himmel sein Ende finden würde, doch
bis zu diesem Moment keine Furcht davor empfunden. Obgleich er sich sicher gewesen war, hatte er es einfach nicht realisieren, nicht für wahr halten können. Die Vorstellung war unwirklich gewesen, bis zu jedem Moment, da der Fremde es ihm vorgehalten hatte. Die Stimme kannte keine Zweifel, keine Eventualitäten. Was sie sagte, war und wurde Wirklichkeit.
Er konnte nichts auf diese Worte erwidern, konnte nicht schreien, dass es ungerecht war, denn er wusste, dass das nicht gestimmt hätte. Keine Phrase, kein Andenken für die Nachwelt, kein Grabstein. Es hatte seinen Kopf leer gefegt, es gab nichts mehr außer dem
Tod. Die Vorstellung drehte ihm den Magen um, dass er Mühe hatte, sich nicht in das fahle Gras zu erbrechen.
Nachdem er nichts erwidert hatte, drehte sich der Mann vor ihm langsam um. Marner sah ihn an und erschrak, denn was dort zurückstarrte, war kein menschliches Gesicht, sondern eine aus Silber gegossene Maske. Obgleich diese das Antlitz eines Menschen zeigte, hätte er niemals gewagt, es auch als menschlich zu bezeichnen. Was er sah, war ein Ausdruck voller Kälte auf einem feinzügigen, makellosen Gesicht aus reinstem Silber, dessen schmale Lippen sich nach unten bogen und dessen Augen kaum mehr als fadenscheinige Schlitze
waren. Dennoch strotzte das Machwerk von einem Detailreichtum, der ihn erwarten ließ, jeden Moment ein höhnisches Lächeln über die metallenen Lippen huschen zu sehen. Als es ihm endlich gelang, seinen erstarrten Blick von dem stählernen Gesicht abzuwenden, senkte er ihn auf die Brust des Waffenrocks. Dort prangte in hellstem Weiß das Wappen eines Richtschwerts, dessen Griff stilisierte Engelsflügel entsprangen.
Immortalisten, schoss ihm der Name der fanatischen Glaubensgemeinschaft durch den Kopf, die sich hinter diesem Emblem verbarg. Bevor er jedoch noch einen weiteren Gedanken daran
verschwenden konnte, hob der Maskierte erneut die Stimme:
„Marner Fried…“, aus der Kälte seines Tonfalls wisperte ein kaum merklicher Hauch von Bedauern. Irgendetwas regte sich in Marners Erinnerungen, ohne dass er wusste, was es war.
„Wer sind diese Männer?“, fragte er und deutete mit den Augen, denn seine Arme waren immer noch im eisernen Griff der Schergen gefangen, auf die gehängten Silhouetten.
„Feinde Gottes“, entgegnete der Fremde, diesmal ohne Bedauern, aber auch ohne Abschätzigkeit, „Wie auch Ihr.“
„Dann…“, die Worte blieben ihm in der Kehle stecken, die trotz des Regens
verdorrte wie eine Rose in der Wüste. Erst einige Herzschläge später gelang es ihm, den Rest des Satzes herauszuwürgen:
„…bringen wir es hinter uns.“
„Nein“, entgegnete der Unbekannte, wobei er ihm so nahe kam, das sein Atem die Maske beschlagen ließ, „Ihr werdet mir Namen nennen.“
Es war grotesk, diese Frage an diesem Ort, die Erwartung seines Gegenübers, dass er sie auch noch beantworten würde. Er wusste, dass ihn ein Immortalist des Glaubens wegen nicht foltern durfte. Egal wie er handelte, es würde ihn nur der Strick erwarten.
„Nein“, erwiderte auch er, worauf ein
merkwürdiger Zischlaut unter der Maske ertönte.
„Sei es, wie es ist“, der Unbekannte klang geradezu gleichgültig, bevor er sich mit Befehlston an die Schergen wandte, „Hängen!“
Das Wort war noch nicht verhallt, da fuhr erneut ein Ruck durch Marners Schultern, er wurde von den Füßen gerissen und nach hinten geschleift, während der Maskierte neben ihm her marschierte.
„Euch wird Gerechtigkeit widerfahren, im Inferno.“
Die Worte klangen wie die eines Propheten, doch sie waren von solcher Zweifellosigkeit, dass selbst er sie
glauben musste. Von einem Herzschlag auf den anderen erdrückte ihn maßlose Schuld, dass sein Geist darunter zerquetscht wurde. Er nahm gar nicht wahr, wie man ihm die Schlinge um den Hals legte und ihn auf den Schemel hievte, bis er aufrecht stand und in die Augen des Leichnams blickte, der ihm gegenüber baumelte. In diesem Moment sprudelte es aus seinem Mund heraus und er hörte sich sagen:
„Mara…Craelon Schadov…“
Der Regen rann ihm über das Gesicht und vermischte sich mit seinen Tränen zu einem nie enden wollenden Fluss, er schmeckte das Salz und die Bitterkeit.
„Also doch“, sprach der Fremde, „Auch
sie werden sich der Gerechtigkeit des Herrn stellen.“
Jemand trat den morschen Hocker um. Der Ruck fuhr durch Marners ganzen Körper, doch das Knacken hörte er nicht mehr. Er hörte gar nichts mehr, er sah nur noch; nur noch Flammen.
Flammen...