Die kleine Muse
Mit einem riesig lauten: "Hallooo!!!", reißt es mich von meinen Gedanken. Ich schrecke hoch von meinem Stuhl, der vor meinem Schreibtisch steht. Ängstlich drehe ich mich um, und instinktiv sucht mein Blick nach diesem lauten Schreck. Dort hinten, in der Tür, steht eine kleine Gestalt. Ich kann diese Erscheinung erst nicht erkennen, so seltsam sieht sie aus. "Wer bist du denn?", frage ich in einem doch recht gefasst ruhigen Ton. "Ich bin eine Muse!", klingt eine helle Stimme freudig auf. "Also du bist eine Muse? Du bist so klein, ich habe mir eine Muse größer vorgestellt", murmle ich so in den Raum. "Jaaa! Das sagen wohl alle, wenn sie mich das erste mal sehen. Aber lass dich nicht täuschen." "Aha?!" "Ja, ja! Denn wenn ich", zieht das kleine Wesen seinen Satz ganz lang und wiederholt sich noch einmal in immer
schneller werdendem Ton, "wenn ich mit dir auf Reise gehe fange ich nämlich an zu Wachsen an." "So, so!? Du fängst dann an zu wachsen", wiederhole ich ganz ungläubig. "Jaha! Ich kann sogar ganz riesig groß werden!", lacht dieser Winzling. "Aha!?", wiederhole ich noch einmal ungläubig. "Und wohin soll ich mit dir reisen?" "Tjaaa, das kann ich dir auch nicht so genau sagen. Aber ich bin schon mit vielen Leuten auf unglaubliche Reisen gegangen", lacht sie mir fröhlich zu.
Ich reibe mir die Augen und als ich sie wieder öffne, ist das kleine Ding aus der Tür verschwunden. Kopfschüttelnd drehe ich mich langsam meiner Schreibmaschine zu. "Weg!", denke ich noch so bei mir und überlege, ob es nicht doch Zeit ist mich schlafen zu legen. Als ich zur Schreibmaschine gewandt meine Finger wieder auf die Tasten legte, erschrecke ich so sehr, das ich mit meinem Stuhl heftig zurück
rolle und drohe rücklings zu überschlagen. Sitzt dieses kleine Wesen doch tatsächlich auf meiner Schreibmaschine und liest in aller Seelenruhe die wenigen Zeilen auf dem eingespannten Blatt Papier. "Also da bist du aber noch nicht weit gekommen", kritisiert es meine gedruckten Ergüsse. Ich hole tief Luft, die Arme noch vor Schreck in die Höhe gestreckt. "Ja aber ... also ...", japse ich hinterher. "Hmmm", bemerkt der Winzling mit glockenhell klingendem Stimmchen und wieder ein lang gezogenes, "tjaaa". "Ja sag einmal", fasse ich mich wieder und bekomme sehr spontan eine Frage als Antwort zurück, "Was denn?"
Ich finde keine Worte. Mit Weit aufgerissenen Augen starre ich das Wesen an und murmele fassungslos: "So, so. Eine Muse ... soll ich dich jetzt küssen?" "NEIN! Du mich doch nicht. Ich muss dich doch küssen!", bekam ich neunmal-klug zurück. "Aha!?" "Ja Mensch, du weißt aber
auch wenig über die Kunst", mault die Muse. "Ja Moment mal! Du bist eine Muse und willst mich küssen und dann bin ich Künstler, oder was?" "Ja ne, so einfach ist das nun auch wieder nicht. Weiß du, die Kunst ist ja nicht immer sooo einfach zu verstehen. Erst einmal muss du ja die Kunst schon selber in dir spüren. Und wenn ich sehe, das du ein Künstler bist, dann gehen wir erst einmal auf eine Reise." "Ja was denn jetzt für eine Reise?" "Ja diese Reise halt. Diese phantasievolle Reise halt." "Aha!?" "Jaaa! Und wenn du dann mit mir von einem Ort zum Anderen reist, dann kann es sein, das wir uns ineinander verlieben." "Ach so!", wird es mir nun doch etwas mulmig. "Ich mich in dich Winzling verlieben." Und ich denke noch so bei mir: "Ich wollt´ es wäre Tag oder meine Frau würde mich ins Bett bringen." Vielleicht war ich ja auch nur am Träumen? "Naja, ich seh` schon, mit dir wird das wohl nichts", mault die Muse weiter herum.
Ja, genau das denke ich im selben Augenblick über mich. Ich wollte grade das Blatt Papier aus der Maschine reißen, es zerknüllen zu einer winzig kleinen, festen, hoch komprimierten Kugel und diese dann wie einen schlechten Gedanken mit den Fingern weg schnippen. Doch so einfach macht es mir dieses Wesen nicht. Es sitzt auf dem Gehäuse der Schreibmaschine und tippert mit den Füßen auf den Typen der herum. Die Beine sind aber zu kurz, als dass ein einziger Buchstabe auf dem Blatt Papier geschlagen wird. Es spielt wohl eher mit seinen Füßen. "Dich gibt es nicht wirklich, ich phantasiere!", spreche ich, einem Zauberbann gleichend, das kleine Wesen an. "Siehst'e!", brüllt mich das Wesen sofort an, "genau des-wegen kannst du auch nichts gescheites schreiben!!!" So klein dieses Wesen auch ist. Aber wenn es brüllt, dann ist es schon ganz schön laut und schrill und die Stimme ist
krächzend.
"Was?", ruf ich ungläubig. "Ja, wenn du nicht an die Muse glaubst und sogar sagst das es mich nicht gibt, dann kannst du auch nichts schreiben was andere gerne lesen würden", und das Wesen zeigt bei diesen Worten verächtlich auf meine paar Zeilen in der Schreibmaschine und betrachtet auch noch die vielen Papierknüddel meiner zuvor gescheiterten Versuche, welche rings um meinem Schreibplatz auf dem Boden verteilt liegen. "Na, ich muss ja jetzt bitten!", mokiere ich darauf entrüstet. "Schließlich sind mir schon ein paar schöne Geschichten eingefallen, welche die Leute lesen." "Ach ja?", war die Herausforderung als Antwort, "was denn?" "Nun ja, ... äh ..." "Ja ne, schon klar."
"Wenn ich jetzt einfach in das Bett gehe und mich neben meine Frau lege", denke ich so bei mir. "Ich brauche ja nur auf zu stehen und die
Tür hinter mir zu schließen. Das Licht lasse ich einfach brennen, dann brauche ich nicht mehr an den Tisch. Ich gehe jetzt ganz einfach. Und morgen erzähle ich das alles meinem Arzt", beschließe ich so für mich alleine. "Ja! Leg´ dich doch einfach hin", winkt das Wesen ab", genau das wollte ich dir ja erzählen. Wenn du nicht an die Muse glaubst, dann glaubst du auch nicht an deine Geschichten und das sie ganz toll sind und von allen gelesen werden wollen." Ich schüttle den Kopf, stehe auf und gehe ins Bett. Meine Frau schnarcht damenhaft auf dem Rücken liegend.
Am nächsten Morgen, meine Frau ist schon lange wach, obwohl sie frei hat und deshalb hätte länger schlafen können. Sie singt ein Lied, so schief sie nun einmal singt, als ich durch die Schlafzimmertür in das Wohnzimmer eintrete. "Oh! Du siehst aber nicht gut aus, hast du nicht gut geschlafen?" "Doch, doch", winke ich nur ab
und traue mich nicht ihr meinen Traum zu erzählen. "Was ist denn los mit dir?" "Ach, ich weiß auch nicht"‚ winke ich wieder ab. "Vielleicht solltest du ein-mal zum Arzt gehen. Ich glaube, du bist ganz einfach überarbeitet. Ist ja auch kein Wunder! Du schreibst ja nur noch vom Tag bis in die späte Nacht." "Ach von wegen. Ich schreibe nichts!", beichte ich ihr mit aller Bitternis. "Ach komm, hör auf. Ich höre dich doch ständig tippen und in welchem Tempo!", versucht sie mich zu trösten.
Aber ihr Trost erreicht mich nicht wirk-lich. Ich will ihr nicht von meiner letzten Nacht erzählen. Ich vermute sie würde mich tatsächlich einliefern lassen. "Tz, von einer Muse nachts heimlich besucht? Das glaubt mir doch keiner!", denke ich vor mich hin. "Ich mach dann gleich mal Frühstück, ich habe einen Mordshunger", sagt sie noch an mir vorbei gehend. Ihre Hand streichelt mich dabei durch
das Gesicht und ich schüttle mich dabei ab-geneigt: "Lass das, ich hass´ das!" "Ja was denn? Ich liebe dich doch." "Ja aber so doch nicht!" Immer wenn sie mir mit der Hand durch das Gesicht fährt, fühle ich mich wie ein kleiner Junge den man tröstet, wenn er auf das Knie gefallen ist.
Ich rühre in der darauf folgenden Woche die Schreibmaschine nicht einmal an. Nicht einmal das Schreibzimmer betrete ich. Lieber höre ich Musik, schaue mir im Fernsehen einen faden Tatort an und tanze im Wohnzimmer herum. Ich nehme mir Zeit für mich. Den Tag über gehe ich frisch einkaufen, koche und mache ein wenig den Haushalt. Wenn meine Frau von ihrer Arbeit nach Hause kommt steht das Essen schon auf dem Tisch. "Ach das ist aber schön, du solltest öfters mal eine Pause vom Schreiben machen", gibbelt sie bei meinen Lecker-bissen. Innerlich denke ich nur: "Besser nicht, sonst kann man
dich kugeln". Doch ich lächele ihr zu: "Ach Schatz, Liebe geht doch durch den Magen".
Innerlich bin ich anfänglich zerrissen von der nächtlichen Begegnung mit der kleinen Muse. Normal ist das nicht. Ich habe eine sehr lebendige Phantasie, aber so lebendig das ich mich mit ihr unterhalte? Das ist selbst mir zu viel. Ich überlege, ob ich zu meinem Hausarzt gehen sollte? Doch ich beruhige mich und über die Woche hinweg, und über die ganzen Gesprächsterminen mit den Verlegern vergesse ich einfach diese merkwürdige Begegnung. Ich dachte mir mit der Zeit, es sei einfach nur eine zu lebendige Vorstellung gewesen.
In der darauf folgenden Woche reise ich mit meiner Frau nach Bayern. Ein herrliches Bergpanorama erwartet uns, und mit dem Wetter haben wir ausgesprochenes Glück. Richtig entspannend ist der Aufenthalt im
Berghotel, von dem aus wir so manche Wanderung unternehmen. Wir schlämmern uns morgens immer genügend Kalorien rein und laufen den ganzen Tag Berg auf und ab. Auch einen Museumsbesuch und die Besichtigung eines Jagdschlosses stehen auf dem Programm. Frische Gedanken erreichen mich. Und wir lieben uns wie lange nicht mehr, in der vielen Zeit für uns Beide. Die Heimreise fällt uns deshalb nicht ganz so einfach und wir beschließen, uns wieder viel mehr Zeit füreinander zu nehmen.
Doch kaum betreten wir unsere Wohnung, meine Frau eilt voraus auf die Toilette und ich mühe mich alleine mit dem Gepäck ab, erreicht mich schlagartig der alltägliche Mief. Die alten Tapeten an der Wand, welche mir noch nie gefielen. Die Lampe von den Schwiegereltern, die ich auf den Tod nicht ausstehen kann und die Abends nur so vor sich hin glimmt. Und all
die anderen Einrichtungsgegenstände gähnen mich im Chor gelangweilt an.
Ich gehe erst einmal in die Küche, schalte die Kaffeemaschine ein. Nach der langen Reise brauche ich einen Muntermacher. Meine Frau benötigt etwas länger auf der Toilette. Sie will nie unterwegs, es ist ihr zu ekelig. Mit dem Kaffee in der Hand schalte ich das Radio ein. Gedanklich lasse ich mich noch einmal in den Zug sinken. Die herrliche Berglandschaft rauscht an meinem innerlichen Auge vorbei. Ich lächle so vor mich hin, bevor mich ein kurzer Blick in den Terminkalender schnell in den Mief zurück holt.
Die folgende Woche lässt mir keine Zeit mich in Ruhe an die Schreibmaschine zu setzen. Aber darauf warte ich auch nicht besonders. Die Erinnerung an die seltsame Vorstellung in der Nacht ist schon lange erloschen. Die paar Tage
Urlaub mit meiner Frau wirken Wunder. Ich fühle mich gestärkt. Nächste Woche muss ich einen wichtigen Termin mit meinem Verleger wahr nehmen. Es geht um mein neues Buch. Zwar weiß ich noch nicht, über was ich im Einzelnen schreiben werde, aber es soll eine gut recherchierte Geschichte sein. Das zumindest habe ich mir vorgenommen. Es soll eine Geschichte über ein kleines Mädchen aus dem 18. Jahrhundert sein. Ich las von ihr in einem Geschichtsarchiv.
Nach nun schon drei Wochen Abstinenz von der Schreibmaschine, setze ich mich wieder in das Schreibzimmer. Ich drehe mich noch zur Tür, ungläubig meiner verlorenen Erinnerung. Kann mir dieses unwohle Gefühl bei dem Blick zur Tür nicht weiter erklären. Es dämmert bereits und ich schalte das Licht ein. In der Maschine ist noch ein Blatt Papier eingespannt. Ich lese diese bereits unverständlich
gewordenen Zeilen. "Hm. Eigentlich solltest du eine Kindergeschichte werden", reiße ich das Papier aus der Maschine, zerknülle es und werfe es, zusammen mit den anderen rings umher auf den Boden liegenden Knüddel, in die große Altpapierkiste. Schüttel noch einmal ungewollt mit dem Kopf und denke mir: "Auf was für Gedanken man manchmal kommt?" Aus dem offenen Papierpaket fische ich mir das oberste schon leicht verstaubte Blatt und spannte es in aller Gemütsruhe ein, lehnte mich zurück, zündete meine Pfeife an und sinniere mit tiefen Blick in den abendlich abdunkelnden Garten.
Als die letzten Abendstrahlen am Himmel verschwinden, spreche ich meine Mechanik an: "Dann wollen wir mal". Doch die ersten Anschläge wollen nicht so recht sitzen. Meine Finger finden einfach nicht die Typen und so schlag ich die Buchstaben kreuz und quer über
das Papier. "Scheiß Computertechnik!", schimpfe ich noch vor mich hin und ärgere mich, das meine alte Schreibmaschine eine völlig andere Typenbelegung hat, als diese neumodischen elektronischen Kisten, welche ich in letzter Zeit immer auf Reisen benutze. "Sicherlich, sie sind leichter zu transportieren, aber das ist auch schon alles. Nichts klappert an diesen Kisten und ein Buchstabe sieht so seelenlos aus wie der Andere."
Es dauert eine ganze Weile. Ungeachtet der vielen Schreibfehler brauche ich sieben Seiten bis sich mein Kopf wieder an die alte Tastaturbelegung gewöhnt hat und ich den richtigen Druck für ein gleichmäßiges Schriftbild finde. "Die heile analoge Welt", fühle ich mich wohl. Meine Fehler werden weniger und die An-schläge rauschen wieder über das Blatt. "Hach, das Klackern hat mir doch so gefehlt", grinse ich von einem Ohr zum anderen. Ich trinke mir
noch einen warmen Kakao in der Mitte der Nacht und schreibe eine kleine Geschichte über die Reise mit meiner Frau zusammen. Dann werde ich zufrieden müde und gehe zu meiner damenhaft schnarchenden Frau ins Bett. Als ich sie liegen sehe, lasse ich die Erinnerung an die schönen Stunden in unserem Urlaub Revue passieren und ich falle in einen tiefen Wohlfühlschlaf.
Viele Wochen später sitze ich lustlos vor der Schreibmaschine. Der Frust über die Blockade wird größer und hält an. Die Papierknüddel rings um mich herum tummeln sich wieder zu Hauf, weil sie in der Altpapierkiste keinen Platz mehr finden. Mein Papiervorrat nimmt ab. Die Unzufriedenheit über die verlorene Zeit nimmt zu. Meinem Verleger habe ich gekündigt. Zu hoch war der Druck aufgebaut, unter dem ich seiner Meinung nach eine Serienfertigung an Büchern liefern soll. Dabei liefere ich doch
nicht einfach nur Bücher, ich will doch Geschichten mit Seele und Tiefgrund schreiben. In dieser deprimierenden Phase fehlt mir etwas, aber ich komme selbst nicht auf den Gedanken, was es denn nun sein könnte.
Da plötzlich, unter dem Tisch, in der großen Altpapierkiste. Da bewegt sich etwas. "Hä?", höre ich mich selbst noch sagen, als die Kiste immer stärker anfängt zu rappeln. "Ob da eine Maus drin ist?", ziehe ich die Kiste unter dem Tisch hervor und schaue gebannt in die aufgetürmten Papierknüddel, welche sich vereinzelt bewegen. Ich überlege eine Weile, wie ich das Tier wohl da raus kriegen könnte und beschließe die einzelnen Knüddel aus der Kiste heraus zu nehmen und sie auf den Boden zu werfen. Eines nach dem anderen arbeite ich mich langsam vor und der Fußboden ist schnell bedenkt mit meinen geistigen Verfehlungen. "Wo bist du denn, du kleines Mäuschen?"
Auf der Suche nach einer kleinen weißen Maus bemerkte ich nicht, das dieser eine raschelnde Knüddel bereits auf dem Boden liegt und aus diesem das kleine Wesen mühsam heraus kletterte. Es ist die kleine Muse, welche mich bereits lange Zeit zuvor besuchte. Und sie grüßt mich auch prompt mit ihrem kecken Ton: "Ja, ich habe es dir doch gleich gesagt, das dir etwas fehlt was ich dir geben kann". "Himmel!", schreck ich wieder von meinem Stuhl auf. "Nicht du schon wieder." "Ja dann." "Lass mich zufrieden!", brülle ich das Wesen an. "O.k., mir ist es sogar lieb, wenn ich mir deine depressive Phase nicht weiter anschauen muss. Ich will mich ja nicht darum reißen, dich zum Künstler mit Erfolg zu machen." "Was willst du überhaupt von mir?", brülle ich überlaut in die Nacht hinaus. Ich bemerke vor lauter Aufregung nicht einmal, das in der Nachbarschaft gegenüber ein Licht an geht.
Die Muse jedoch, keck in ihrer Art, dreht sich um und geht zur Zimmertür. Vor der Tür bittet sie: "Kannst du mir wenigstens noch die Tür aufmachen, damit ich gehen kann?" "Wieso? Du bist doch auch alleine hier rein gekommen?" "Ja, aber für gewöhnlich muss ich immer da raus gehen, wo ich rein gekommen bin." "Ha! Das ich nicht lache", brüllte ich weiter auf. In der Nachbarschaft hebt sich eine Jalousie und neugierige Blicke fallen durch mein Fenster.
Ich sacke erschöpft auf meinen Sitz: "Eine Muse, die einen auf Doktor Faust macht. Ich glaub das nicht." "Ja und würdest du mir jetzt freundlicher Weise die Tür öffnen!", zieht die Muse den Satz wieder lang. "Ne, das glaube ich jetzt nicht. Morgen, gleich in der Früh gehe ich zum Arzt." Die Muse steht mit tapsendem Fuß und überkreuzten Armen wartend vor der Tür. Raus schleichen kann ich jetzt nicht. "Du willst
mir doch jetzt nicht allen Ernstes erzählen, das du hier nicht mehr raus kommst, ohne meine Hilfe?", schmiede ich schon einen klitzeklein teuflischen Plan. "Und du willst mir doch wohl nicht erzählen, das du ohne mich schreiben kannst?" Das ist wohl die Pattsituation für uns Beide, denn bei diesen Worten zeigte die Muse mit dem Finger auf die ganzen am Boden liegenden Papierknüddel. Ich verziehe das Gesicht, schneide eine quälende Grimasse.
So sitze ich nun da, auf meinem Stuhl eingesackt, ringsum von Papierknüddeln umgeben und am Ende des Raumes, an der Tür mit einer kleinen Fuß tapsenden Muse mit erhobenem Zeigefinger. Innerlich muss ich mir tatsächlich eingestehen, das mir die Muse gefehlt hat. Aber ich kann mich einfach nicht mit dem Gedanken anfreunden, das ich mich mit ihr unterhalten kann, ich mit ihr im Dialog stehe. Und was mir noch viel unmöglicher
scheint, das ich mich mit ihr befreunden soll, ja sogar das ich mich in sie verlieben soll.
"Was bin ich nur neben der pur", denke ich laut vor mich hin. Ich bemerke dabei nicht, das die Muse vor meinen Augen viel kleiner wird. Sie schrumpft, mit jedem meiner Zweifel. "Wenn du nicht mehr an mich glaubst, dann werde ich mich am Ende auch noch auflösen und du wirst mich ganz verlieren", säufst die Muse völlig nieder gedrückt. Und sie schaut mich mit Tränen unterdrückten Augen an. "Lässt du mich wirklich nicht in dein Leben rein?", schluchzt sie noch etwas hinterher. "Ich weiß nicht wie?!" "Du musst doch nur diesen einen phantasievollen Gedanken haben und dann fange ich wieder an zu wachsen. Und mit jedem phantasievollen Gedanken werde ich auch immer kräftiger. Ich werde dir folgen auf die wunderbarsten Reisen, die du dir vorstellen kannst. Du kannst es doch, aber du hast es
irgendwann vergessen. Erinnere dich doch bitte wieder", fleht mich die Muse an.
Eine Stille, so tief in die Nacht hinein und so lang andauernd, als ob wir die Ewigkeit berühren, ergreift die Muse und mich gleichermaßen. In der Nachbarschaft erlöschen die Lichter wieder. Das Ticken der Wanduhr dröhnt in diese Stille hinein. "Vielleicht hast du recht?", sinniere ich hauchfein, in der Annahme sie würde sich auflösen, wenn ich ihrer Bitte nachkomme. Ich reiße das noch völlig unbeschriebene Blatt aus der Maschine, nehme ein neues Blatt Papier und bitte die Muse dieses eine Blatt zu segnen. Die Muse kommt auf mich zu, legt die Hand auf das Papier und spricht: "Für die Kunst dein Leben zu geben, das soll deine Energie sein. Möge dich der Kuss der Muse auf den Flügeln der Phantasie in die unbekannten Landschaften tragen und deine geistigen Früchte dir der Boden für die
inspirierenden Landschaften sein." Die Muse küsst das Blatt und das Papier fängt an, mitten in die Stille der Nacht hinein, hell zu glühen. Es fühlt sich warm an und so wohlig.
Ich spannte dieses Papier in die Schreibmaschine ein und ein Zauber umfährt mein Druckwerk. Energie durchströmt mich bei dem Auflegen meiner Finger auf die Tastatur und ich fange an den ersten Buchstaben durch zu drücken. Danach den Zweiten und dann noch den Dritten. Das Tippen ist zu Anfang zöger-lich, doch es wird immer schneller. "Teufel!", denke ich noch so bei mir. Versinke aber immer mehr in die Welt der Buchstaben, Worte und Absätze. Mein Bewusstsein tritt in den Hintergrund, die Logik schläft ein und Seite für Seite fülle ich mit meiner Phantasie. Ich bin überglücklich wieder in das Schreiben gefunden zu haben.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich für diesen ewigen Moment der Glückseligkeit gebraucht habe und wie lange mir die Muse, auf der Schreibmaschine sitzend die notwendige Energie in die Finger fließen ließ. Doch als ich die letzte Seite einspanne, weiß ich das diese Geschichte eine der ganz Großen in meinem Leben ist, eine die man nicht mit anderen Geschichten vergleichen kann. Sie ist eine eigenständige Geschichte meiner phantasievollen Reise, zu der mich meine Muse begleitet. Ich verliere mich durch sie? Nein, ich verliebe mich in sie.
Meine Frau sah mich über den gesamten Zeitraum nicht einmal. Sie betritt mein Schreibzimmer nicht, wenn ich am tippen bin. Sie lässt mir meine Ruhe und weiß, das ich diesen Moment der Ruhe für das Schreiben brauche. Hätte sie nur ahnen können in welch einer Beziehung ich zu meiner Muse nun stehe,
sie wäre sehr Eifersüchtig geworden. Denn aus diesem anfänglich unscheinbarem und winzig kleinen Wesen wuchs eine wundervolle und bildhübsche Elfe heran, die mich bei jedem Blatt meiner phantasievollen Reise erneut auf die Wange küsste.
Meine Nachbarn bringen kein Verständnis für mich auf. Stutzig schütteln sie den Kopf über mich, natürlich hinter meinem Rücken. Sie tuscheln, welch ein merkwürdiger und wundersamer Mensch ich denn wohl bin. Nie würden sie mir die Freundschaft zur Muse glauben. Die Muse ist für sie nur ein Hirngespinst; mein Hirngespinst, welches sie sich nicht vorstellen können und von dem sie sich mit Sicherheit nicht küssen lassen wollen.
Mit dem letzten Satz meiner phantasievollen Reise, dem letzten Anschlag, lehne ich mich zurück und strahle die Muse an. "Es ist
vollbracht!", strahlt sie mich ebenso an, "nun ist es für mich Zeit das ich fort gehe". "Aber sehen wir uns denn wieder?", flehe ich sie wehleidig an. "Ich weiß es nicht? Schließlich bin ich ja nicht die einzige Muse in der Welt der Phantasie", lacht sie zufrieden auf, "du wirst, so hoffe ich doch, sehr viele Musen kennen lernen und Reisen zu vielen anderen Orten in der Welt der Phantasie unternehmen." "Aber ich habe mich doch in dich verliebt! Und nur in dich!", rufe ich laut vor mich hin. Doch sie ist bereits verschwunden und hinterlässt mir nur auf dem letzten Blatt meiner Geschichte einen Kuss als Signierung ihres Daseins.
Die Abdrücke ihrer Lippen verschwinden langsam vor meinen Augen. Und ich denke noch so zu mir: "Vielleicht ist es mein Schicksal, das ich mich in viele weitere Musen verlieben muss. Denn die Muse kennen nur die Untreue, obgleich sie die Treue nicht einmal
kennen."
Niedergedrückt über den Verlust dieser Muse trete ich aus meinem Zimmer heraus. Ich rieche übel aus dem Mund, bin ausgehungert und durstig. Meine Frau erschreckt als sie mich sieht. "Du liebe Güte!", ruft sie erschrocken laut, "wie siehst du denn aus?" Ich torkele an ihr vorbei, grüße sie noch kleinlaut: "Hallo mein Schatz, ich muss erst einmal etwas trinken", als ich im Flur zur Küche zusammen breche. Sie ruft sofort die Rettungssanitäter. Diese bringen mich in das nächste Krankenhaus wo ich ärztlich versorgt werde. Ich bekomme eine Infusion, da ich über die ganze Zeit des Schreibens dehydrierte. Zuhause aber geht meine Frau, dann doch neugierig geworden über mein wunderliches Verhalten, in das Schreibzimmer. Sie wälzt sich durch die ganzen Papierknüddel zu meinem Schreibtisch und findet das Manuskript, fein säuberlich mit einem
Heftstreifen zusammen geheftet. Den Kuss der Muse kann sie aber nicht sehen.
Sie setzt sich auf meinen Stuhl und fängt an zu lesen. Ab und zu geht sie in die Küche und kocht sich einen heißen Tee. Dann liest sie weiter und ihr fließt gelegentlich eine rührende Träne die Wange entlang. Nach dem Lesen, sendet sie Kopien des Manuskripts an verschiedene Verleger, welche sich um die Geschichte förmlich reißen und ihre Angebote immer wieder erhöhen. Dem Höchstbietenden gibt sie den Zuschlag und die Geschichte entwickelt sich zu einem Bestseller.
Als ich aus der Klinik entlassen werde, wartet sie schon überglücklich mit einem neuen Auto auf mich vor der Tür. Es ist ein Cabriolet und das Verdeck ist elektrisch zu öffnen. Ich steige überrascht ein und sie fährt los. Wir machen bei schönstem Sommerwetter eine kleine
Spazierfahrt zum See, setzten uns in das Kaffee an der Promenade und sie spricht über meinen Erfolg, den ich aufgrund meines Aufenthalts in der Klinik nicht realisierte. Sie spricht davon das ich nun weitere Bücher für sie schreiben muss, weil sie nun vertraglich dazu verpflichtet sei und sie doch so stolz auf meinen Erfolg ist, auf den wir doch beide schon so lange gewartet haben. Und sie lächelt mich herzallerliebst an.
Doch ich kann ihrem Wortschwall nicht lange stand halten und schaue auf den See. Dort draußen, weit hinten im Wasser, entdecke eine kleine Nixe die mir zuwinkt.
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Christoph Diederich
Hemer, ©2014