Er war groß, schlank und Mitte fünfzig. Zunächst hieß er nur Dieter. Seinen Rücken zierte ein geflochtener, blonder Zopf. Seitdem sagten alle Zopf-Dieter zu ihm. Frauen mochten ihn - und er sie. Trotzdem blieb er ledig. Mit fünfzig verkaufte er seine Hoch- und Tiefbaufirma und lebte seitdem am Rande der Stadt in einer weißen Jugendstil-Villa. Der große Park mit dem wertvollen Eichenbestand gab ihm Schutz vor Verkehrslärm und neugierigen Blicken. Seine Mobilität garantierten: drei Luxuslimousinen, zwei Sportwagen, ein Lear-Jet und ein Hubschrauber. Seine Sicherheit: vier Rottweiler, eine Alarmanlage, ein Wachdienst und ein Waffenschein. Und zum Kuscheln am Kamin besaß er - zwei zahme Jagdleoparde. Durch Fehlspekulationen verlor Zopf-Dieter eines Tages alles. Den Rücksturz in die Bescheidenheit erleichterte ihm seine Herkunft. Seinen Lebensunterhalt garantierte eine Baufirma, die ihn als Berater unter Vertrag genommen hatte.
Plötzlich jedoch machten Depressionen Zopf-Dieter zu schaffen. Der Verlust seines Vermögens ließ ihn in seinen Augen als Versager erscheinen. Ein Urteil, das seinen Lebenswillen erheblich schwächte.
In dieser Zeit kam ihm zum ersten Mal der Gedanke, sein Leben der Natur zurückzugeben, mit freundlichen Grüßen und herzlichem Dank für die gehabte Zeit. War sein Vermögen dahingegangen, könnte auch er verschwinden. Und weil er wusste, dass alles Leben einmal aus dem Wasser gekommen war, beschloss er seines diesem Medium wieder zurückzugeben.
So verließ Zopf-Dieter dann an einem kühlen Herbstmorgen seine Mietwohnung, und machte sich auf seinen letzten Weg – zu dem Baggersee vor den Toren der Stadt. Ohne zu zögern, betrat er den Landesteg und lief mit festen Schritten bis an dessen Ende.
Hier schweifte sein Blick noch einmal über die Wasser, und machte sich schließlich an den zarten Nebelschleiern fest, die den See von dem schon klaren Himmel trennten. Dabei überlegte er, wie ihm wäre, wenn er nicht mehr sei. Würde sein Geist über den Wassern schweben?
Als Zopf-Dieter seine Gedanken wieder in den Griff bekam, blickte er unter sich und sah hier plötzlich ein Gesicht auf dem Wasser. Einsam. Geschunden. Traurig. Die plötzlich aufkommende Brise aber veränderte das Bild. Sanft schaukelte das Gesicht auf den kleinen Wellen und machte Zopf-Dieter glauben, es lächele. Lächeln ist Hoffnung, fiel ihm ein.
Als hätte jemand plötzlich einen Schalter umgelegt, spürte Zopf-Dieter augenblicklich, wie sein geschwächter Lebenswille wieder erstarkte.
Und damit die neue Kraft nicht wieder versiegte, kleidete er sie schnell in Worte.
„Ein starker Wille ist der Motor des Lebens.“
Bald hätte er nun über diese Einsicht das Gesicht auf dem Wasser vergessen. Als er es wieder betrachtete, meinte er, aus diesem Munde Worte zu hören.
„Auf geht's, mein Freund, lauf zurück ins Leben und nimm mich mit.“
Jetzt einen Freund zu haben, machte Zopf-Dieter Mut. So schloss er mit dem Gesicht auf dem Wasser einen Bund und im Doppel machten sie sich auf den Weg in die Stadt, um ihr Leben doch fortzuführen.
Sollte er aber wieder einmal zu Tode betrübt sein, würde er daran denken, was das Gesicht auf dem Wasser einmal zu ihm gesagt hatte.
„Auf geht's, mein Freund, lauf zurück ins Leben und nimm mich mit.“
© 03.09. 2006 joLepies