Vierte Vorrede
Puh - es gibt doch noch Dinge, auf die Verlass ist. Zum Beispiel die Miniatur meiner Leserschaft. Ich fühlte mich zeitweilig schon wie einer, der an der Umkleidekabine den Vorhang nur auf einer Seite schließt und erst beim Hineinfahren in die geblümt-rosa Unterhose die neugierigen Blicke der Zuschauer auf der anderen Seite bemerkt. Hett ja nochma jot jejange! Meine heimischen Radieschen und ich sind sehr erleichtert.
Was bisher geschah: Die Gräfin hat bereits den Generalmajor düpiert, den Hauptmann stehengelassen und dem
Herzog Einblick in die notwendigsten Gründe ihrer Existenz gewährt, als sie, gedanklich bereits aufgebrochen, dem Dichter begegnet.Der hat zwar einen Verleger, scheint aber der Gräfin gleichwohl ein hinreichend interessanter Mensch zu sein, um ihn auf die Baroness und die Möglichkeit "kleiner Fluchten" aufmerksam zu machen.
Wer mehr wissen will: Die ersten drei Teile lesen, ey!
C.
des dichters streich, vierter teil
„Wirklich? Sie verstehen?“ prüfte die Gräfin den Dichter. „Das, Monsieur, müssten Sie mir aber wirklich erst beweisen.“
„Zu gerne täte ich das, Gräfin. Aber wie anstellen?“
„Natürlich indem Sie eines der hier versammelten, rosigen und kerngesunden Menschenkinder zu einer solchen Flucht verleiten.“
„Natürlich.“
„Aber ja, Monsieur! Es nimmt mich Wunder, Sie erst darauf stoßen zu müssen. Oder tun Sie nur so, als ob?“
„Oh nein, wo denken Gräfin hin? Aber
Gräfin mahnen – wohl zu Recht – an, ich müsse mich von fantastischen Fesseln moralischer Zurückhaltung lösen.“
„Nein, nein, Monsieur, und nochmals nein, da verstehen Sie mich völlig miss!“ antwortete die Gräfin so scharf, dass der junge Mann zusammenschrak. Ob er es zu weit getrieben hatte? „Ich halte es für ganz und gar lobenswert, ein richtiges Leben führen zu wollen.“
„Meinen Sie? Ja, zu loben mag es sein, aber ist es auch klug? Da erzählt die ganze Stadt die Geschichte jener fleißigen Frau, Weib des größten Weinhändlers im Herzogtum, die ihrem Manne ein Haus voll Kinder schenkte, das Hauswesen streng aber genau
regierte und dem Geschäft ihres Gemahles Stütze war. Der Lohn? Überfahren von einem angetrunkenen Fuhrknecht wurde sie. Der Kerl war zu besoffen, um das Fuhrwerk rechtzeitig zum Stehen zu bringen. Und kaum hatte er sie zum ersten Male überrollt, wunderte er sich, woher der Ruck kam, setzte das Fuhrwerk zurück und räderte die arme, redliche, fleißige Frau vollends zu Tode. Voilà!“
„Pah!“ wehrte die Gräfin mit ungeduldiger Handbewegung ab. „Hätte es der armen Frau weniger wehgetan, hätte sie ihr so jäh beendetes Leben liederlich und nur ihren Genüssen zugetan
geführt?“
„Nun…“
„Nein, ganz bestimmt nicht. Wir machen es uns ein wenig zu einfach, wenn wir glauben, ein gut geführtes Leben würde unmittelbar belohnt, sei es auch nur durch einen gnädigen, sanften und bitte recht spät eintretenden Tod. Da ist zum Glück kein Marionettenfaden, an dem wir hingen.“ Der junge Mann trat ungemütlich von einem Fuß auf den anderen. „Sie schweigen?“
„Gräfin belieben, mich zu beschämen.“
„Ach, lassen wir das doch. Kommen wir lieber zurück auf das eigentliche Sujet. Sie wollen also unter Beweis stellen, Sie verstünden, wovon ich da so rede, und
zwar indem Sie der Anstoß sein wollen, den ein hier so trefflich gefangenes Exemplar unserer Spezies nimmt. D’accord bis hierhin?“
„Vollständig, Gräfin.“ Der von einer unbezwingbaren Verlegenheit gepackte junge Mann zuckte schließlich nervös zusammen, als das kreischende Lachen der Baroness von der L. in das Kabinett hinein schallte. Augenscheinlich hatte die Baroness an der Allemande teilgenommen und promenierte nun mit ihrem Tanzpartner durch die Säle. Trotzdem die Gräfin sich im Schatten des Kabinetts zu verbergen suchte, wurde die Baroness ihrer ansichtig. Mit einem wissenden Winken, auch in Richtung des
jungen Mannes, und einer Verschwörermiene wandelte die Baroness weiter, die Gräfin ziemlich verärgert zurücklassend.
„Die Baroness von der L.“, erklärte die Gräfin mit einem weisenden Kopfnicken. „Ich nehme nicht an, dass Sie schon ihre Bekanntschaft gemacht haben.“
„Was? Nein, die… Baroness, ach so, nein, ich hatte noch nicht das Vergnügen.“
„Sie sagen das, als glaubten Sie, nicht viel dabei verpasst zu haben.“
„Wie bitte? Nun, selbstverständlich, ich meine: selbstverständlich nicht. Sie ist ja eine ganz reizende Dame, die…“
„Baroness“, ergänzte die
Gräfin.
„Ja, die Baroness.“ Der junge Mann sah der von der L. hinterher und verrenkte sich sogar ein wenig, um noch einen letzten Blick zu erhaschen, als die Baroness in einem weiteren der Säle en suite verschwand. „Aber… wir sprachen gerade davon… von etwas weit Interessanterem.“
„In der Tat?“
„Doch, allerdings. Nein, Gräfin“, und der junge Mann schüttelte sich wie einer, der sich vom ängstigenden Anblick eines Gespenstes löst, „nein, sie narren mich nicht länger. Nein, Gräfin, bitte“, bemerkte der junge Mann überflüssiger Weise zu der Gräfin, die gar keine
Anstalten gemacht hatte, ihn zu unterbrechen, „es gereicht Ihnen zu keinem Vorwurf, Ihren Übermut, ja: Übermut, im besten Sinne, an einem Debütanten zu versuchen. Und ich bitte Sie, auch mir zu glauben, dass es nicht aus Prahlerei geschieht, wenn ich Ihnen kundtue, wie wenig ihre Verwirrungskünste bei mir ausrichten können. Das sage ich nur, um unsere kurze, aber schon jetzt mir sehr lieb gewordene Bekanntschaft auf noch abenteuerlichere Bahnen zu lenken.“
Die Gräfin sah ihn an, er sah zurück. Seine neuerlich in Anspruch genommene Sicherheit verbat es ihm natürlich, ihr das Stichwort für den Fortgang des
Austauschs zu geben. Sein sekündlich eindringlicher werdender Blick veranlasste die Gräfin immerhin zu einem: „Nun, Monsieur?“
„Nun, verehrte Gräfin, werde ich also tun, was Sie als Beweis meines Verstehens von mir fordern. Niemand geringeren als die Baroness werde ich mitnehmen auf eine kleine, heitere Flucht.“
Die Augenbrauen der Gräfin schossen in die Höhe, ein leichter Seufzer ließ sich erahnen. „Sie haben ihr einen einzigen Blick zugeworfen, und das genügte Ihnen, Sie als Ihr Objekt auszuersehen? Vielleicht sogar Ihr Opfer?“
„Die Baroness wird es besser überstehen
als jeder andere hier, da bin ich mir sicher.“
„Nein, warten Sie, ich…“
„Sie werden sich in Geduld üben, auch davon bin ich überzeugt. Ihr Diener, Gräfin! Doch nun wollen Sie mich entschuldigen, mein Vorhaben duldet keinen Aufschub.“ Mit einer letzten, nunmehr ganz knappen Verbeugung nahm der junge Mann Abschied und eilte aus dem Kabinett.
Sehr vergnügt beschloss die Gräfin zu bleiben. Und sei es bis ins Morgengrauen.