Endlich nahmen meine Eltern sich einmal die Zeit, Freunde und Verwandte in ganz Deutschland zu besuchen. Der Tante-Emma-Laden wurde in die Obhut meiner Großeltern übergeben, wir Kinder wurden in die Ferien geschickt und dann machten sich die beiden mit ihrem alten VW-Käfer auf den Weg. Die Reise sollte insgesamt drei Wochen dauern. Da sich die Anlaufpunkte über ganz Deutschland verteilten, reichte es immer nur für etwa ein bis zwei Tage Aufenthalt pro Station. Ein Anlaufspunkt war u. a. auch Herne. Hier wohnte eine Cousine meiner Mutter mit ihrem Mann und vier Kindern. Abends, die Kinder waren bereits ins Bett gebracht, saßen die Erwachsenen bei einem Umtrunk zusammen, als mein Vater meinte: „Eure Kinder sehen aber ziemlich blass aus.“ „Tja“, kam als Antwort von der Cousine meiner Mutter: „Das liegt an der schlechten Luft hier. Ihr könnt euch das gar nicht vorstellen. Der Russ legt sich ständig neu auf die Fenster, so dass ich eigentlich sogar mehrmals täglich die Fenster putzen müsste. Diese Luft ist für unsere Kinder wirklich nicht gut.“ „Dann müsstet ihr mal zu uns in den Norden kommen, da würden sich eure Kinder sicherlich schnell erholen. – Anni, weshalb trittst du mich denn.“ Gab mein Vater von sich. Aber die Einladung war ausgesprochen und wurde auch prompt angenommen.
Schon im nächsten Sommer machte sich die Familie Schilling mit Vater, Mutter und vier Kindern auf den Weg zu uns an die Nordseeküste. Um meine Mutter zu verstehen, muss ich erklären, dass wir sowieso schon ziemlich beengt in diesem Haus wohnten. In der oberen Etage hatten meine Großeltern sich eine kleine Wohnung eingerichtet, die sie sich in den Ferien regelmäßig mit meiner Tante, deren Mann und meiner Cousine teilten. Das Erdgeschoss bewohnten meine Eltern mit uns drei Kindern. Außerdem befand sich in der unteren Etage der Tante-Emma-Laden. Im Wohnzimmer meiner Eltern befand sich ein Schrankbett, das regelmäßig abends zum Schlafen aufgeklappt wurde.
Also wie gesagt: Im Sommer drauf erschien zusätzlich zu dieser Enge auch noch Familie Schilling mit vier Kindern. Für uns Kinder war es toll und spannend. So viel Trubel hatten wir noch nie erlebt. Erst später konnte ich den Stress meiner Mutter nachvollziehen.
Wir jüngeren Kinder, insgesamt sechs an der Zahl, wurden in unserem Kinderzimmer untergebracht. Gleich am ersten Abend ging die Lampe zu Bruch, was zu einem Riesengeschrei führte. Die beiden ältesten Mädchen Margot und meine Schwester Rosi durften in den nächsten Wochen im Klappbett im Wohnzimmer übernachten. Die Erwachsenen richteten sich Schlafgelegenheiten ein, wo es eben möglich war.
Gekocht wurde in den nächsten Wochen in Töpfen, die wahrscheinlich auch für eine Kompanie gereicht hätten.
Was meine Mutter allerdings am meisten nervte war, dass wir Kinder es gewohnt waren, beim Betreten des Hauses: „Ich“ zu rufen, um damit anzuzeigen, dass wir nichts kaufen wollten. Die Verwandten aus Herne hatten allerdings Schwierigkeiten, sich an diesen Brauch zu gewöhnen. Papa Rudi aus Herne war darauf bedacht, Stress zu vermeiden und versuchte immer wieder, uns Kinder durch den hinteren Ausgang des Hauses nach draußen zu bugsieren. Wir liefen dann um das Haus herum und kamen vorne wieder herein. Oft vergaßen die Herner Kinder dann aber den Ruf: „Ich“, blieben einen Moment stehen, begaben sich zurück zur Tür, öffneten diese erneut, riefen: „Ich“ und das Spiel ging von neuem los.
Samstag war Badetag. Ein Badezimmer hatten wir noch nicht. Deshalb wurde das Wasser auf einem großen Herd erwärmt, wir Kinder wurden abwechselnd in eine Zinkbadewanne gesteckt, wobei die Arbeit aufgeteilt wurde: Einer wusch, der nächste trocknete ab. Anders war es bei dieser Kinderschar gar nicht möglich.
Selbstverständlich wollten wir auch einmal mit dem gesamten Familienklan an den Strand von Büsum fahren. Dass so viele Personen nicht in ein Auto passten, liegt auf der Hand. Also fuhr ein Teil mit dem Auto, der Großteil aber benutzte öffentliche Verkehrsmittel. Wenn ich mich recht erinnere, bevölkerte unsere Familie an diesem Tag den halben Strand.
Aber alles in allem ist dieser Sommer bei mir in reger Erinnerung geblieben. Ich habe als Kind den Trubel geliebt. Nur mit Onkel Rudi kam ich nicht ganz so gut zurecht. Anstatt Ruhe in dieses Irrenhaus zu bringen, erreichte er mit seinen erzieherischen Versuchen genau das Gegenteil.
Mit der Zeit aber lernten wir Kinder, ihm aus dem Wege zu gehen. Er schien auch sein Bier mehr zu mögen als uns Kinder.
Nach einigen Wochen Sommerferien in Norddeutschland reisten unsere Verwandten aus Herne wieder ab. Die Kinder waren gut erholt und braungebrannt, meine Mutter wirkte allerdings völlig erschöpft und warf meinem Vater ständig strafende Blicke zu.
In dieser Zeit war einiges zu Bruch gegangen, Dinge, die meine Eltern klaglos ersetzten. Nach wenigen Wochen erschien ein Dankesbrief mit der Bemerkung, dass die Herner Verwandtschaft uns gerne einmal wieder besuchen würde. Soweit ich weiß, haben meine Eltern auf diesen Brief nie geantwortet, was ich heute auch verstehen kann.
Erst Jahre später bekamen wir wieder Besuch aus Herne. Wir haben uns dann auch darüber gefreut, weil sie nicht gleich mit 6-Mann-hoch anreisten.
Ich glaube, mein Vater hat seine unbedachte Anmerkung Zeit seines Lebens bereut, aber wir Kinder haben diese Zeit wahrlich genossen.