(c) Eisblumen
Maria kniete auf dem einzigen Stuhl, den Sie in ihrem nur 12 qm großen Zimmer hatte und schaute aus dem Fenster. Eisblumen hatten sich über Nacht gebildet und die Glasscheiben in ein wunderschönes Blumenmeer verwandelt. Viel konnte Maria nicht erkennen, als sie auf den tristen Innenhof hinunter sah. Das lag aber nicht an den Eisblumen die ihre Sicht ein wenig einschränkten, sondern an den Tränen, die über ihr hübsches Gesicht rannen.
Seit drei Wochen war sie nun schon in diesem Waisenhaus und sie wusste nicht, wann sie endlich gehen durfte. Niemand sagte ihr, wie es ihrem Vater und ihrer Mutter geht. Maria hatte nur erfahren, dass ihre Eltern einen Autounfall hatten. Mehr hatte man ihr nicht gesagt. Angeblich wäre sie mit ihren fünf Jahren noch zu klein, um das alles zu verstehen. Eines Tages würde sie Bescheid bekommen, würde erfahren, wie es zu dem Unfall kam und vielleicht ihre Eltern wiedersehen. Vielleicht ? Maria wusste, dass etwas schreckliches passiert sein musste.
So klein, wie die Kinderschwestern glaubten, war sie nicht. Mit fünf Jahren war man schon groß und konnte schon vieles verstehen, auch wenn die Schwestern das nicht einsehen wollten.Wenn ihre Eltern gesund wären, würden sie sie niemals im Stich lassen, nein, niemals. Sie hätten sie längst aus diesem Gefängnis geholt. Weg von diesem Ort, an dem es nur unfreundliche Menschen gab die Befehle erteilten. Fast den ganzen Tag musste sie arbeiten, hatte kaum Zeit für sich selbst. Da fragte niemand nach dem Alter. Zum putzen und wischen ist eine Fünfjährige wohl nicht zu jung, da wurde keine Rücksicht genommen.
Maria rieb sich die Tränen aus den Augen, drückte ihre Lieblingspuppe Leonie fest an sich und flüsterte ihr ins Ohr: Bitte verlasse mich nicht, bleib wenigstens du noch bei mir, bitte Leonie, ich hab doch nur noch dich.
Die Tür flog auf und Schwester Mechthild schrie einmal laut „Aufstehen“, während sie gleichzeitig das Licht anknipste. Jeden Morgen – sogar an Sonn- und Feiertagen – das gleiche Prozedere. Punkt 6.oo Uhr musste Maria aus den Federn, sich, in Sekundenschnelle, an den einfachen, aus Kiefernholz zusammen genagelten Tisch stellen und das „Vater Unser“ aufsagen. Danach musste sie ihr Bett machen.
Erst wenn sie damit fertig war, verließ die Schwester das Zimmer und Maria durfte in den Waschraum. Es war ein Gemeinschaftswaschraum, in dem sich fast zwanzig Kinder gleichzeitig aufhielten. Unter strenger Kontrolle der Kinderschwestern mussten sie sich von Kopf bis Fuß mit kaltem Wasser waschen, die Zähne putzen und die Haare kämmen. Immer in dieser Reihenfolge. Maria war noch müde und nahm sich vor, später, wenn sie erwachsen ist, niemals mehr so früh aufzustehen. Es sei denn, sie würde für ihre Eltern das Frühstück zubereiten.
Da war die verzweifelte Frage wieder in ihr: Mami, Papi, wo seit ihr nur ?
Das liebevolle Guten-Morgen-Bussi, die zärtliche Geste, wenn ihr die Mutter über die Haare strich und das traute Zusammensein, all das vermisste Maria so stark, dass sie nur noch traurig war. Die Gedanken an die geliebten Eltern schwirrten durch ihren Kopf und sie fing wieder an zu weinen.
An diesem Abend, als Maria nach dem Essen auf ihr Zimmer musste, ging sie sofort zu dem wackeligen Holztisch. Sie wollte an den Weihnachtsmann schreiben, denn es war schon der Dezember und höchste Zeit seine Wünsche zu äußern. Sie war ein sehr intelligentes Mädchen und ihre Mutter hatte ihr schon vor einem Jahr lesen und
schreiben beigebracht.
So legte Maria einen Bleistift und einen Schreibblock auf den Tisch, kniete sich auf ihren Stuhl und schrieb: „Lieber Weihnachtsmann, ich wünsche mir so sehr, dass du mir Mami und Papi wieder zurück bringst. Ich träume jede Nacht von ihnen. Ich träume, dass wir zusammen über eine Wiese gehen und Blumen pflücken. Oder das wir uns ins Gras setzen und spielen. Mami lacht immer so schön und Papi lacht dann mit. Doch wenn ich wach werde, bin ich alleine. Das macht mich sehr traurig. Ich verspreche dir, dass ich dir alle Geschenke zurück gebe, die ich früher schon von dir bekommen habe, wenn du
mir Mami und Papi wieder bringst. Außerdem male ich dir noch ein schönes Bild. Eines mit einem Schneemann, einem blauen Himmel mit weißen Wolken und leuchtenden Sternen, und ich verspreche dir immer artig zu sein. Ja, ich werde immer artig sein. Bitte, lieber Weihnachtsmann, bitte hilf mir doch.“
Mit Tränen erfüllten Augen und sehnsuchtsvollem Blick riss Maria das Blatt vom Schreibblock, faltete es zusammen und legte es auf den Tisch. Schwester Mechthild würde es später, wenn sie kam um das Licht auszumachen, mitnehmen, und in den großen Briefkasten stecken, in den nur die Post für den Weihnachtsmann kam.
Wenigstens die Wunschzettel an den Weihnachtsmann durften die Kinder schreiben und in die Post geben. Da hatten selbst die strengen Schwestern nichts dagegen.
Am nächsten Morgen hörte Maria die Stimme ihres Vaters. Er flüsterte ihr ins Ohr, dass er wieder zurück sei, dass er sie lieb habe und jetzt immer bei ihr bleiben würde. Sofort nahm sie ihn glücklich in die Arme und drückte ihn ganz fest. Papi, Papi, rief sie freudig und kuschelte sich an ihn. Doch dann wurde sie wach und merkte schnell, dass sie nur das Kopfkissen umarmt hatte. Ein Traum war es, ein Traum der ihr böses wollte. Warum nur träume ich so schöne
Dinge, wenn sie nicht in Erfüllung gehen ? Mami, Papi, ich brauche euch so sehr. Maria weinte still vor sich hin. Ein kleines Mädchen von fünf Jahren. Sie war verzweifelt und allein. Ohne Liebe, ohne Zuneigung, ohne Freude, ohne Zukunft.
Schwester Mechthild riss die Tür auf und schrie – noch lauter als sonst - „Aufstehen“. Maria sprang aus dem Bett, sagte das „Vater Unser“ auf, brachte ihre Schlafstelle in Ordnung und ging in den Waschraum.
Nach dem Frühstück – es gab Haferbrei mit Rosinen und lauwarmer Milch – wurden den ganzen Tag über Schuhe und Fenster geputzt. Als Maria dann endlich
nach dem Abendbrot ihren Pfefferminztee getrunken hatte, ging sie in ihr Kämmerlein und kniete sich auf ihren Stuhl, den sie sich wieder ans Fenster gestellt hatte. Es war ein wenig wärmer geworden und die Fensterscheiben waren wieder klar.
Sogar die Eisblumen sind nicht mehr da, lassen mich einfach im Stich, dachte Maria resignierend und schaute auf die Schneeflocken, die langsam auf die Erde hinab rieselten.
Heiligabend, kurz vor 6.oo Uhr morgens. Maria hörte die Stimme ihres Vaters. „Aufstehen, liebe Maria, du musst jetzt wach werden.
Wach auf, mein liebes Kind, wach auf.“
Maria öffnete langsam die Augen. Schon wieder so ein böser Traum. Schon wieder will ein Traum mich quälen, fuhr es ihr durch den Kopf. Doch dann spürte sie eine Hand auf ihrer Wange. Eine Hand, die sie zärtlich streichelte, und sie hörte die Stimme, jetzt, wo sie wirklich wach war, deutlich und sie erkannte sie. Papi, Papi, rief sie, drehte sich im Bett herum und sah ihn vor sich. Sofort schossen ihr die Tränen in die Augen. Zuerst vor Freude, aber auch vor Sorge. Da saß er in einem Rollstuhl, den Kopf mit einem dicken Verband umwickelt, das rechte Bein in reichlich Gips gehüllt, und lächelte sie mit feuchten Augen an.
Mit einem Satz war Maria aus dem Bett und fiel ihrem Vater in die Arme. „Wie sehr ich dich vermisst habe Papi, oh, wie sehr ich dich vermisst habe. Wo warst du nur so lange Papi und was ist mit dir ? Warum sitzt du in diesem Rollstuhl und wo ist Mami ?
„Wir hatten einen schweren Unfall mit dem Auto und ich musste am Bein operiert werden“, antwortete der Vater.
„Und Mami ?“, fasste Maria nach.
„Mami schläft“, fügte er mit Tränen erstickter Stimme hinzu. Das ihm ein Blutgerinsel – an dem er fast gestorben wäre – aus dem Kopf entfernt wurde und das die Mami mit einem Schädel-Hirn-Trauma im Koma liegt, behielt er für
sich.
Marias Vater hatte in der Verwaltung des Waisenhauses die Entlassungspapiere unterschrieben und durfte Maria nun mit nach Hause nehmen. Trotz seiner Verletzungen war er in der Lage sich um seine Tochter zu kümmern. Dem Vater ging es vor allem seelisch besser, seit er Maria wieder an seiner Seite hatte. Sie war bei ihm, sie war seine Hoffnung. Ihre Mutter hingegen war sehr weit fort und niemand wusste, ob sie je wieder zurück kommen würde.
Schon am nächsten Tag fuhr Maria mit ihrem Vater in die Klinik, um ihre Mutter zu besuchen. Sie hatte erfahren, dass ihre Mutter mit geöffneten Augen schlief
und vielleicht noch ein paar Tage oder Wochen schlafen würde. Sie musste von alleine wach werden, man konnte sie nicht wecken.
Maria betrat an der Seite ihres Vaters, der von der Stationsschwester mit seinem Rollstuhl geschoben wurde, das Krankenzimmer. Da lag sie und schlief, aber sie hatte die Augen auf und die Pupillen bewegten sich hin und her. „Mami“, rief Maria und lief schnell ans Bett. „Mami, wach auf, bitte wach auf. Mami, bitte höre mich doch. Mami, Mami, bitte, Mami, so höre mich doch, schluchzte sie. Maria beugte sich quer über das Bett, legte den Kopf auf die Oberschenkel ihrer Mutter und weinte
still.
Sie wusste nicht, was sie tun, wie sie sich verhalten sollte. Wie konnte sie nur ihre Mutter wach bekommen ? Maria sah ihren Vater an. „Papi, soll ich Mami ein Lied singen oder ein Gedicht aufsagen ? Hat sie ein Lieblingsgedicht ?“
„Nein, Maria, sie hat kein Lieblingsgedicht. Vielleicht schreibst du ihr eines und trägst es ihr dann vor.“
Maria war sofort Feuer und Flamme. Sie würde alles tun, um ihrer Mutter zu helfen wieder gesund zu werden. Sie setzte sich am Abend zu ihrem Vater an den Wohnzimmertisch und schrieb mit ihm zusammen ein Gedicht, das sie ihrer Mutter am nächsten Tag vorlesen
würde.
Schon früh morgens kamen sie ins Krankenzimmer. Es hatte sich nichts verändert. Die Mutter schlief mit geöffneten Augen und lag ruhig in ihrem Bett. Maria ging nah an ihre Mami heran und sang ihr ein Weihnachtslied vor. „Ihr Kinderlein kommet“ konnte sie auswendig, und sie sang es mit allem ernst und der tiefen Hoffnung, ihre Mutter aus dem Schlaf zu holen. Maria sang alle Strophen, doch je länger das Lied dauerte, desto mutloser wurde sie. Ihre Mutter zeigte keinerlei Regung, lag einfach nur da und rührte sich nicht.
Weinend ging Maria zu ihrem Vater und sagte:
„Ich kann ihr nicht helfen Papi, sie hört mich nicht, was soll ich nur tun ?“
„Lese ihr dein Gedicht vor“, antwortete der Vater mit einem dicken Kloß im Hals. „geh nah an sie heran und lese ihr dein Gedicht vor.“
Maria nahm das Blatt, auf dem das Gedicht stand, zur Hand und ging zum Krankenbett. Sie stellte sich neben den Kopf der Mutter, damit sie ihr ins Gesicht sehen konnte.
Dann las sie mit sanfter, aber fester Stimme:
Liebe Mami, hör mit zu,
du hattest jetzt schon so viel Ruh.
Genug geschlafen hast du nun,
jetzt musst du etwas anderes tun.
Ich brauche dich, werd` bitte wach,
komm unter unser aller Dach.
Will ab jetzt nur artig sein,
bleib immer lieb, bin immer dein.
Nun wach schnell auf und komm zurück,
dann erwartet dich das große Glück.
Nur für dich ist dieser Reim,
wach bitte auf und komm mit Heim.
Sie sah ihre Mutter an und hoffte auf ein Zeichen, aber nichts deutete auf ein Aufwachen hin. Bedrückt ging Maria zu ihrem Vater, der sie liebevoll in die Arme schloss.
„Wir müssen Geduld haben Maria, Mami ist noch nicht so weit. Morgen liest du ihr das Gedicht noch einmal vor und dann jeden Tag, so lange, bis sie aufwacht.“
„Ja, das mache ich“, antwortete Maria. „Ich komme jeden Tag hierher und lese Mami das Gedicht vor.“
„Lese es mir doch lieber zuhause vor“, kam eine schwache Stimme vom Krankenbett herüber.
„Da fühle ich mich wohl und höre dir sehr gerne zu.“
Maaammiie, schrie Maria auf und heulte los. Dieses mal aber aus Freude. Schnell ging sie zum Krankenbett, nahm die Hand ihrer Mutter und drückte sie zärtlich. „Mami, ich hab euch wieder. Alle beide, und jetzt für immer. Ihr dürft nie mehr einen Unfall haben, mich nie mehr allein lassen, versprecht ihr das ?“ Ihre Mutter nickte schwach und ihr Vater sagte heiser und mit tränennassen Augen: „Ja, wir lassen dich nie mehr allein. Niemand wird dich je wieder allein lassen. Schau Maria, wie schön die Eisblumen an den Fensterscheiben sind.“