Angenagte Autoreifen, mit und ohne Felgen, zerborstene Baustellentoiletten, kleinere Flüssiggasbehälter und von Algen überzogene Matratzen, aus denen sich die Federn wie seltene Gewächse emporringeln, ragen aus dem schlammigen Untergrund des sandig- morastigen Uferstreifens. Der gebändigte Strom begibt sich hier in eine leichte Linkskurve, zeigt sonst aber keine Auffälligkeiten. Trotzdem spuckt das trübe Wasser seine Schätze genau an diesem Ort in ungewohnter Reichhaltigkeit an den von Erlen,
Pappeln und niedrigem Strauchwerk bewachsenen Damm. In den schweren Granitbrocken der Böschung fangen sich Hölzer, Plastikteile, Schiffstaue, Bälle und besonders Schuhe in hoher Zahl.
Gold soweit das Auge reicht! Sein Blick gleicht dem eines Scanners, der den Boden systematisch nach dem perfekten Fundstück absucht. Er, Piet Maas, Schöpfer von „Yellow Submarine“, der blassgelben Saftflasche mit abgeschlagenem Boden, die jetzt in einem mit Algen überzogenen und halb mit Sand gefüllten henkellosen, blauen Eimer unterzugehen scheint, weiß, was er braucht. Für die Installation „Feed your
Children“ zog er über die Jahre Reste von Plastikwaffen aus dem Schlick, die teilweise die Größe von Pumpguns haben. Skurrile Formen, verblichene Farben, ideale Proportionen; nur die Kraft des Wassers und die Geduld der Zeit vermögen es, den Zivilisationsmüll nach seinem Ideal zu schleifen. Bei der „blauen Sehnsucht“ haben unbekannte Konstrukteure mitgeholfen und eine von Öl verklebte Schwanenfeder in die ausgewaschene mattgrüne Hartschaumplatte gesteckt. Finden, Sortieren, Arrangieren! Seine letzte Ausstellung mit dem Titel „Flaschenpost“ wurde hoch gelobt.
„Er bringt uns das Gold zurück, das wir
achtlos in den Fluss werfen. Sorgsam geborgen, mit dem Blick für das perfekte Arrangement, führt uns der aus Groningen stammende Bildhauer Piet Maas vor Augen, wie uns der vermeintliche Müll tief in unserer deutschen Seele berührt. Schon 1840 schrieb ein anonymer Dichter die Zeilen:
Dort, wo der Rhein mit seinen grünen Wellen
So mancher Burg bemooste Trümmer grüßt,
Dort, wo die edlen Trauben saft'ger schwellen,
Und kühler Most des Winzers Müh versüßt.
Dort möcht ich sein, dort möcht ich
sein,
Bei dir, du Vater Rhein,
An deinen Ufern möcht ich sein.“
Von einer alten Pumpstation, Nähe Oppenheim, in der er seit acht Jahren sein Atelier und seine Heimat gefunden hat, bricht er täglich zu seinen Streifzügen in den Mikrokosmos des Flusses auf. Die Schlaufe erreicht man nur zu Fuß über einen engen Pfad unterhalb des Dammes, der nach Hochwasser von Treibgut blockiert ist. Maas beschäftigt sich wieder fieberhaft mit seiner Arbeit um das Thema „Flaschenpost“. Jeden Tag nutzt er das Niedrigwasser des trockenen Sommers, um den Uferstreifen nach neuen
Botschaften abzusuchen. Er hat die Flächen in Planquadrate eingeteilt und geht dann die Felder immer wieder systematisch ab.
Mehrere hundert Meter flussaufwärts steht im seichten Wasser eine dichte Baumgruppe. Als er näherkommt, bemerkt er in dieser Ansammlung von Pappeln ein riesengroßes Nest aus glattgeschliffenen Ästen, die kunstvoll miteinander verflochten sind. Maas steht jetzt dicht davor und die feine Webtechnik, mit der die Holzstücke zu einem beinahe kreisrunden Korb von beachtlichen zwei Metern Durchmesser verarbeitet sind, verblüffen ihn. Er versucht einen Blick ins Innere der
Behausung zu werfen aber der Rand liegt über drei Meter hoch. Maas zieht sich an den senkrechten dünnen Stämmen der Außenwand hoch und muss mit seinen schweren Stiefeln das feine Geflecht durchstoßen, um Halt zu finden. Seine Neugier ist größer als der Respekt vor dieser filigranen Burg. Als er sich so weit hochgekämpft hat, dass er über den Rand sehen kann, traut er seinen Augen kaum. Ein kurzer Blitz wie eine Migräneattacke schießt ihm in die vordere Gehirnhälfte und beinahe hätte er seine Griffe gelöst und wäre rücklings abgestürzt.
In der Mitte des Nestes liegt eine Tote auf einer blauen Decke. Sie liegt nicht
da, sie ist hingebreitet. Sie mag Mitte zwanzig sein und der rote Umhang, der über ihre blasse Haut geschlungen ist, scheint sie noch zu wärmen. Die nackten Beine lugen bis zu den angewinkelten Knien unter dem Stoff hervor. Der schwarze Auftrag ihres Nagellacks an den Füßen ist perfekt. Ihre Arme liegen im rechten Winkel zum Körper und scheinen die Welt gerade umarmen zu wollen. Das lange schwarze Haar umkränzt ihr fahles Gesicht wie ein mysteriöser dunkler Hof einen hellen Mond. Ein sanftes Lächeln liegt auf ihren Lippen und der kräftig rotgeschminkte Mund lädt zum Küssen ein.
Es ist ein Arrangement von betörender
Schönheit. Eine klare Linienführung durchzieht das Bild. Er steigt über den Rand zu ihr in die feine Schale aus Natur. Seine künstlerische Obsession siegt über das Grauen im Angesicht des Todes. Er legt sich neben sie, streichelt behutsam über ihre Unterarme und spürt den leichten Flaum unter seinen Fingerkuppen. Sie ist eiskalt aber für den Bildhauer explodiert gerade die Sonne. Die göttliche Komposition ist gefunden. Warum sie hier liegt und wie sie zu Tode gekommen ist, interessiert ihn in diesem Moment nicht. Er zieht seine unhandliche Spiegelreflexkamera aus der Fototasche und beginnt fieberhaft, sie von allen Seiten abzulichten. Er streift die
schweren Stiefel ab und bemüht sich, keinen Zweig durch sein Gewicht zu knicken. Auch den Faltenwurf von Decke und Umhang möchte er nicht verändern. Er schießt wie besessen bis der Chip voll ist.
Beim Verlassen des Nestes erfasst er die letzten Details der theatralen Inszenierung und entdeckt weitere Nebenschauplätze. Zwei schwarze Stöckelschuhe, die er bei seinem mühevollen Einstieg nicht bemerkt hat, finden sich fein säuberlich abgestellt auf dem Rand des Nestes,. Unter ihrem Kopf liegt eine grüne Lederhandtasche, deren Umrisse durch die schwarzen glatten Haare hindurch schimmern. An
der rechten Halsseite hat sie ein langes eiförmiges Muttermal das von oben wie ein afrikanischer Ohrschmuck aussieht. Sie ist bildhübsch. In ihrem Totenbett ist sie schöner als alle künstlerischen Werke, die er je gemalt oder in den Museen der Welt gesehen hat. Und dieses Bild gehört ihm, nur ihm.
„Ich komme wieder Schneewittchen“ murmelt er in Richtung Himmel, der grollt und schwere Gewitterwolken auffährt.
Die nächsten Stunden verbringt er mit der Sichtung der Aufnahmen. Der Himmel hat sich inzwischen vollends zugezogen. Es wird dämmrig und Maas hat sich Ausdrucke der besten
Aufnahmen an eine Wäscheleine in sein Atelier unter dem Dach der ehemaligen Pumpstation gehängt.
Gegen acht Uhr am nächsten Tag wacht er vom Prasseln des Regens gegen die Scheiben seiner Schlafzimmerfenster auf. Maas hat einen schweren Kopf und die Gedanken, die sich im letzten klaren Teil seines Hirns bilden können, kreisen um Schneewittchen. Wie mochte sie jetzt aussehen? Was tut ihr das Wasser an? Ist sie für immer verloren? Langsam lässt der Regen nach und Maas hofft, sie noch vor Einbruch der Dunkelheit besuchen zu können. Vom Pumpwerk aus ist es eine knappe Stunde Fußmarsch bis zu Schneewittchens Nest.
Der Uferstreifen ist wie verwandelt. Alles Treibgut hat der Fluss wieder mit sich gerissen und der Pegel ist in den Nachtstunden um einen Meter gestiegen. Das braune Gebräu steht knapp unterhalb des Dammes. Piet kann die Baumgruppe im Fluss mit bloßem Auge noch ausmachen. Als er durchs Fernglas sieht, weiß er, dass sie gegangen ist. Die Kraft des wilden aufgepeitschten Stroms hat das Nest unten angenagt und langsam ist es in sich zusammengefallen. Schneewittchen, die perfekte Illusion seines Lebenswerkes, ist fort. Auf dem Rückweg zum Haus sieht er in dem alten gusseisernen Stellrad, mit dem man einst den Zulauf zum Kanal regeln konnte,
einen schwarzen Stöckelschuh hängen.
GerLINDE Hallo Lindwurm ROLAND, eine tolle Geschichte habe ich hier gelesen. Darauf muss man erst mal kommen, aus "Treibgut" künstlerische Bilder zu entwerfen und mit der Kamera festzuhalten. Und dann im Nest das "Schneewittchen" liegend. Dafür erhälst Du Coins. Lieben Gruß Gerlinde |
PenthesiLea Wow. Ich bin zutiefst beeindruckt. Danke für einen derart ausdrucksstarken Beitrag& was ein Glück, dass ich ihn fand! |