Es ist gut und gerne zwanzig Jahre her. Ich war zwanzig Jahre jünger, stärker und dickköpfiger als heute.
Damals, wir waren gerade umgezogen. Zurück, aus dem jahrelangen „Exil“ meines Dienstes.
Zurück in meine Heimat, Berlin. Immer, wohl zwanzig Jahre lang, trug ich Berlin in meinem Herzen. Nun ja. Meine Oma lebte noch dort! Genau dort, wo ich aufwuchs. In dem schönen, alten Haus an der Dahme, mit dem riesigen Garten, all den uralten Bäumen, den Kastanien, den Eichen und der wunderschönen Linde am Wasser, an deren unterstem Ast oft eine Schaukel hing, die verkündete, dass es Kinder, Enkel oder Urenkel gab, die im Schaukelalter
waren. Omas Wohnung war riesig. Genug Platz, auch für mich und meine Familie, wenn mich die Sehnsucht übermannte. Also kurz und gut, ich hatte stets einen Koffer in Berlin.
Doch meine Oma war nun achtzig! Sie schaffte es nicht mehr, allein. Einhundertachtzig Quadratmeter, sechs Zimmer! Dazu kam der Garten, wohl an die zweitausend Quadratmeter, der zwar die Freiheit des englischen Gartenbaustils leben durfte, aber Rasenmähen und Laubharken überließ er doch den Menschen. Auch von den vielen guten Freunden meiner Großeltern, mit denen sie schwerste Zeiten, gefährliche Kämpfe überstanden, den größten Sieg ihres
Lebens feierten, und auch nach diesem nicht ruhten, etwas besseres aufzubauen, lebte kaum noch einer. Sie hier zu treffen, wie es jahrzehntelange Tradition war, geschah also auch nur noch in der Erinnerung.
Meine Schwester wollte die Oma zu sich holen. Und Oma wollte zu ihr. Doch meine Schwester lebt im Fläming! Nicht allzu weit von Berlin, aber eben nicht Berlin!
Mein Koffer passte nicht in das Haus meiner Schwester.
Wohin also mit meiner Sehnsucht, wenn sie mich wieder übermannen sollte?
Meinen Dienst hatte ich mit dem
Untergang der DDR quittiert. Es gab eigentlich keinen triftigen Grund mehr für mein „Exil“. Auch meine Frau hab ich in Berlin kennen gelernt. Ja, wir haben sogar in Berlin geheiratet, aus Verbundenheit zu dieser Stadt und aus Verbundenheit zu meinem Großvater, der die Stadt so liebte, in ihr geboren und gestorben war. Nur meinetwillen zog meine Frau damals zu mir, in die Einöde der drei „Weltmeere“. Waldmeer, Sandmeer, Jarnüschtmehr.
Inzwischen hatten wir uns einen florierenden Markthandel aufgebaut. Also, meine Frau hat ihn aufgebaut, als ich noch versuchte, mittels eines postgradualen Studiums, die Eintrittskarte in die Deutsche
Großindustrie zu ergattern. Doch das war Illusion! Hatte ich doch nur an einer Offiziershochschule studiert, und nicht in Heidelberg, Bonn oder Boston. Ich konnte gar nicht geeignet sein, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Nun war ich, wie gesagt, noch zwanzig Jahre stärker und dickköpfiger als heute, und so stürzte ich mich in Welt des Markthandels. Doch was in der Einöde funktionierte, sollte auch am Rande Berlins und im Berliner Umland funktionieren!
So zogen wir in die schöne, ein wenig herrschaftliche Wohnung meiner Großeltern. Nun hatte ich ihn wieder, den Garten meiner Kindheit. Und mein Koffer stand, nun leer, auf dem
Dachboden.
Doch dann näherte sich das Weihnachtsfest! Ein Baum musste her! Da fiel mir auf, dass ich in dieser Wohnung niemals, selbst als Kindergartenkind nicht, einen Weihnachtsbaum gesehen habe. Wohl erinnerte ich mich, dass ich den Opa danach fragte. Doch so einfühlsam und klug mir mein Opa die kompliziertesten Dinge dieser Welt auch erklären konnte, so wenig erklärte er mir dies. Es war eben so! Geschenke, ja! Sehr schöne und persönliche Geschenke! Aber einen Weihnachtsbaum? Niemals! Mit dem auch christlichen Charakter dieses Festes konnte es nichts zu tun haben. Wäre sonst Ostern immer so ein
Heidenspaß gewesen? Opa war doch der beste Ostereierverstecker überhaupt! Und der unverdächtigste Tippgeber, wenn die Suche zur Qual zu werden schien, sowieso!
Wieso also kein Weihnachtsbaum? Die Frage ließ mich nicht los!
Ich rief die Oma an. Doch auch sie sprach nur in Andeutungen. Die Armut in ihrer Kindheit, die jüdische Herkunft und überhaupt die Zeit der Illegalität, des Zuchthauses, der Schutzhaft, der Emigration, des ewigen Hin- und Her. Auf meine Einwände, dass der Baum doch nichts mit christlicher Tradition zu tun habe, eher den heidnischen Brauch des Sonnenwendefeuers
ersetze, reagierte sie nicht. Aber irgendetwas sprach zwischen ihren Worten, etwas, das ich noch nicht verstand.
Ich konnte lange nicht einschlafen, in der Nacht nach diesem Telefonat. Was hatte ich gehört, zwischen den Worten?
Am nächsten Morgen, mufflig, unausgeschlafen, natürlich, ich hatte mir gerade meinen Kaffee der Marke Moorlandschaft gebrüht, hielt ich plötzlich inne. Keinen Bissen wollte ich hinunterkriegen. Ich sah Bilder, hörte Stimmen! Mein nächtlicher Traum schien zurückzukommen, wollte in mein Bewusstsein! Ich sah den Opa, als jungen Mann, entlassen aus dem Zuchthaus, seinen Sohn, schon
zweieinhalb, das erste Mal im Arm tragend, ihn der Oma gebend. Und höre ihn sagen, dass er sofort wieder untertauchen müsse, weil er die illegale Gruppe und die kleine Familie nicht gefährden wolle. Und dann überschlagen sich die Bilder, Worte, nein Wortfetzen zwischendurch, wie aus weiter Ferne. Sehe, wie Menschen, Freunde, Kampfgenossen von Gestapo und SS abgeholt werden, noch auf der Straße zusammengeschlagen. Die Großeltern, ich seh sie! Dicht aneinandergeschmiegt, das harmlose Liebespaar mimend, in einem Hauseingang auf der anderen Straßenseite, sich gegenseitig den Mund mit dem Mund verschließend,
aus Liebe zueinander, doch vielmehr um nicht vor Hass, Wut und Angst los zu schreien. Und dann geht mein Blick hinauf, an die großen Altberliner Fenster. Ich sehe Weihnachtsbäume, festlich geschmückt, einige wohl auch mit Hakenkreuzen und Portraits des Führers. Sehe Kinder, die vom Lärm neugierig geworden, an die Fenster rennen und sofort von ihren Eltern zurückgezogen werden. Denn nichts soll die kindliche Seele verletzen, nichts das Fest der Nächstenliebe stören. Ja! Vielleicht war es die Weihnachtsfeier, unverdächtig der üblichen Familienbesuche wegen, die als Tarnung für ein illegales Treffen aufflog, verraten wurde. Was wäre,
wenn sie ein, zwei Minuten eher eingetroffen?
Vielleicht haben die Großeltern die Freunde nie wieder gesehen? Vielleicht wurden sie gar auf der Straße noch erschossen, oder erschlagen wie räudige Hunde? Eingerahmt in ein Bild strahlender Weihnachtsbäume, glücklicher Kinder und untermalt von festlicher Musik, die leise auf die blutige Straße quillt.
Ich schluckte! Ich hatte zwar immer noch keinen Bissen zu mir genommen, keinen Schluck Kaffee, aber ich schluckte, konnte gar nicht mehr aufhören zu schlucken.
Die Bilder ließen mich den ganzen Tag
nicht mehr los. Aber morgen wollte ich doch mit den Söhnen den Baum kaufen gehen. Ich hatte es ihnen versprochen!
Ich druckste herum! Wie konnte ich es ihnen erklären? Sie waren doch erst acht und fünf Jahre alt. Alles Mögliche hab ich erfunden, etwas zu umschreiben, was nicht zu umschreiben war, auf dem Weg zum „Baumparadies“.
Der Große las es dem Kleinen sofort vor: „Baumparadies“. Worauf der fragte: „Was ist das, Paradies, Papa?“ Also erklärte ich beiden, beim Rundgang, der Begutachtung des Wuchses und der Preise, was sich die Menschen darunter vorstellten. Von der Seele, dem Leben, dem Tod und dem
Leben der Seele nach dem Tod. Plötzlich blieb der Kleine stehen, wandte sich ab, und ich sah Tränen über seine Pausbacken rollen. „Watt iss, Kleena?“ hörte ich mich sagen, wobei ich ihm die Tränen trocknete. Auch der Große schien nun irgendwie betroffen. „Papa, wenn das hier das Baumparadies ist, sind das alles tote Bäumchen?“ Als ich bejahte, fragte er, wie lange sie noch zu leben hätten, wären sie nicht abgesägt worden. „Na vielleicht sechzig oder hundert Jahre. Vielleicht mehr! Ich weiß es nicht, so genau!“ antwortete ich besten Gewissens. Nun war er nicht mehr zu halten. Die Tränen schossen in Bächen. Das Gesicht wurde zur wütenden
Maske, die ich nur kannte, wenn er sein Böckchen hatte. Er stampfte auf, und brüllte heraus: „Ich will keine Baumleiche, keine Babybaumleiche!“ Der Große schien erleichtert. Er gewann seinen immerfreundlichen Gesichtsausdruck zurück, nahm seinen Bruder bei der Hand und stürmte mit ihm dem Ausgang des Marktes entgegen. Ich konnte nur noch folgen! Denn eigentlich wollte ich ja, wenn auch aus ganz anderen Motiven, keinen Baum. Der Verkäufer, wohl ein Könner seines Fachs und ein guter Geschäftsmann obendrein, stellte sich uns in den Weg, und fragte: „Na nicht das richtige gefunden? Ist ja auch nicht so einfach, eine Nadel im Heuhaufen zu
finden! Warten Sie! Ich zeige Ihnen die besten und preiswertesten Exemplare!“ Worauf ihn mein Kleiner anschnauzte: „Behalt doch Deine Babybaumleichen!“ und der Große, aus gebührendem Abstand, noch rief: „ Jenau! Du olla Baummörda!“ Ich schaute dem Verkäufer in s Gesicht und zog nur die Schultern hoch, froh, ihm nicht noch meine Begründung geben zu müssen.
Zu Hause angelangt, fragte nun meine Frau nach dem Weihnachtsbaum. Doch ich brauchte nicht zu antworten, ja ich kam gar nicht dazu. Unsere Söhne erklärten ihr, mit sich überschlagenden Stimmen, und sich gegenseitig unterbrechend, was sie herausgefunden, und warum sie
garantiert nie, nie wieder einen Weihnachtsbaum haben wollten. Sie sah abwechselnd zu den beiden, und lächelte mir dann zu. Ich war erleichtert! Nichts musste ich erklären!
Einige Jahre später, bei einer Autofahrt, schilderte ich meiner Oma meine Traumbilder, wobei ich tat, als ob ich ihr einen, mich stark berührenden, Film wiedergäbe. Da sah ich Tränen in ihren Augen. (Ich habe sie vorher nur zwei Mal weinen sehen. Ein Mal, als mein Vater, ihr Sohn starb, und das zweite Mal, als mein Opa gestorben ist.) Sofort hielt ich an und fragte, was denn sei. Worauf sie sich die Tränen wischte, und sagte: „Ach nichts! Ich
musste nur gerade an drei gute Freunde und den Opa denken! Lass uns weiter fahren!“
Und so habe ich seit gut und gerne zwanzig Jahren keinen Weihnachtsbaum mehr im Haus gehabt. Auch meine Söhne haben keinen Weihnachtsbaum in ihren Wohnungen.
Ich, wohl aus Respekt vor dem Leben meiner Großeltern.
Sie aus Respekt vor dem Leben überhaupt, und wenn es das eines Baumes ist, und sie meine Geschichte inzwischen kennen.
PeKa