Nur ein Sprung
"Hast du schon mal daran gedacht, wie es wäre?", ein Lächeln flog über ihr Gesicht, es wirkte so fasziniert und glücklich, doch auch so müde. Ihre Hände glitten über das vereiste Geländer. Der Wind fuhr durch ihre honigblonden Haare und brachten das Wasser unter uns noch mehr zum toben.
Mich fröstelte, zitternd schob ich meine Hände in meine Manteltasche, die bereits durchlöchert war, mein Blick blieb an ihr hängen: "Wie was wäre?"
Rauch stieg beim Sprechen in die kalte
Nachtluft, wirbelte umher und verschwand in der Dunkelheit.
Ihre Augen starrten ins Leere, ihr Lächelnd wurde müder und träger. Sie trat von einem Fuß auf den Anderen, als würde sie nervös auf etwas warten.
"Von einer Sekunde auf die Andere nicht mehr da zu sein. Einfach weg. Es wäre nur ein Schuss oder nur ein Sprung. Wie wäre das wohl?", ihr Blick hing fest auf den Wellen die das Wasser schlug.
Schon beim Anblick des eiskalten, schäumenden Wassers, fuhr mir ein Schauer über den Rücken.
Ihr Lippen waren blass und bläulich, genau wie ihr mageren Finger die noch
immer um das eiskalte Geländer fuhren. Um ihr Handgelenk waren dutzende Armbänder geschlungen, fast schon festgeschnürt. Obwohl der erste Schnee fiel, trug sie keine Jacke. Ihre Schlüsselbeine standen hervor, auch ihre Wangenknochen stachen aus ihrem mageren Gesicht heraus.
Verlegen strich ich über die Löcher meines Mantels, einen neuen konnte ich mir nicht leisten, auch wenn mich bei diesem Wetter unglaublich fror.
Das Mädchen betrachtete meinen kaputten Mantel und lächelte, als würde es ihr gefallen, dass ich aussah wie jemand der nicht viel Geld hätte. So war es ja
auch.
Die Frage des Mädchens verwirrte mich, also wechselte ich das Thema.
"Willst du jetzt eine Zigarette?"Die Schachtel lag in meiner Hand. Das blonde Mädchen hatte zuvor nach Einer gefragt und noch immer nicht nach der offenen Schachtel gegriffen.
"Sie wirken wirklich nett. Ich möchte zwar keine Zigarette, aber könnten sie mir einen Gefallen tun?", sie wirkte müde, ihr Lächeln falsch. Sie wirkte traurig. Also stimmte ich ihr zu.
Ihr Miene hellte sich auf, sie bat mich wegen der Kälte, einen Kakao von dem Stand am Anfang des Piers zu kaufen. Sie drückte mir ein Kuvert in
die Hand, indem das Geld liegen würde.
"Wissen sie, ich hab meinen Fuß verstaucht und es würde mir wirklich helfen."
Irgendwie hatte ich das Gefühl es würde ihr wirklich helfen, wenn ich den Kakao holen würde, aus irgendeinem unerfindlichen Grund, fand ich es würde ihr wirklich eine Freude machen.
"Gerne doch.", und schon drehte ich mich um und machte mich auf den Weg zum Stand. Der Wind wurde stärker. Ich hörte das Wasser aufbrausen.
Endlich war ich am Stand und öffnete das Kuvert. Plötzlich starrten mir um
die 20 Scheine entgegen. Ich war erschrocken über das viele Geld, doch kaufte eine extra heiße Tasse Kakao und ging wieder zum Ende des Piers. Ich hätte mir das Geld behalten können und einfach abhauen können, gebrauchen könnte ich es, aber ich konnte doch niemanden etwas wegnehmen, auch wenn ich es wirklich brauchen könnte.
Als ich am Ende angekommen war. Stand niemand mehr da. Das Mädchen war verschwunden. Verwirrt sah ich mich um. Ein älterer Mann stand in der Nähe. Aufgeregt fragte ich ihn nach dem blonden mageren Mädchen, doch er wusste nichts. Auch die
anderen umstehenden Leute, hatten sie nicht gesehen.
Noch zwei Stunden war ich am Pier, in der Hoffnung, das Mädchen würde gleich wieder kommen. Von Minute zu Minute wurde mir mulmiger zu Mute. War ihr etwas zugestoßen? War ich zu lange am Stand?
Doch dann gab ich um 11 Uhr abends das Warten auf und ging nach Hause. Obwohl mein Gefühl noch immer etwas ängstlich war. Schritt für Schritt ging ich weg. Hörte das Meer brausen, den Wind wehen.
>>Hamburg.Am vergangenen Sonntag wurde eine Wasserleiche aus der Elbe geborgen. Die Polizei schließt
Fremdverschulden aus und vermutet den Selbstmord des 16-jährigen Mädchens.<<