Achte bei den nächsten Romanen, die du liest, doch einmal darauf, wann der Autor ein neues Kapitel beginnt. Gefällt dir die Einteilung? Findest du sie nachvollziehbar? Gibt es Überschriften? Und wie viel verraten sie bereits vom Inhalt?
Für den Leser sind sie, so vorhanden, meist das, was den Roman am auffälligsten strukturiert: die Kapitel. Der Schreibende zerbricht sich dagegen nur allzu oft den Kopf, wie er seinen Text am sinnvollsten in eben diese unterteilt, welche Länge sie haben sollen, wie viele er verwenden soll, wie er jedes einzelne überschreibt und vieles mehr. Vielleicht kann ich mit diesem Artikel einige dieser Fragen beantworten.
1. Zwischen innen und außen
Gute Geschichten folgen in der Regel einer inneren Struktur, einer Dramaturgie, die sich am zentralen Konflikt orientiert und den Spannungsbogen prägt. So besitzen sie etwa einen Anfang, in dem der Protagonist vorgestellt und der Konflikt vorbereitet wird, einen Mittelteil, in dem der Protagonist versucht, sein Ziel zu erreichen, und der Konflikt sich entwickelt, und einen Schlussteil, in dem der Protagonist sein Ziel entweder erreicht oder endgültig daran scheitert, womit der Konflikt gelöst wird. Eine Unterteilung, die äußerlich, also vom Schriftbild her, für den Leser kaum bis gar nicht sichtbar wird.
Darüber hinaus gibt es kleinere Einheiten einer Geschichte, die jeweils ihren eigenen Spannungsbogen besitzen: die Szenen. Auch diese folgen demnach einer inneren Struktur der erzählten Geschichte. Der aufmerksame Leser sollte normalerweise einen Szenenwechsel auch dann erkennen, wenn es für ihn keine äußerlichen Hinweise gäbe, dennoch werden Szenen meist auch im Schriftbild markiert, etwa durch eine oder mehrere Leerzeilen, die zwei Szenen voneinander abgrenzen.
Kapitel bestehen in der Regel aus mehreren Szenen. Leider – und das stellt eben für viele Schreiber das Problem dar – erwachsen sie sie weit weniger natürlich und eindeutig aus der inneren Struktur der Geschichte, als es die Szenen tun. Es bleibt letztlich mehr oder weniger am Autor hängen, eine auf irgendeine Weise sinnvolle Einteilung von außen an die Geschichte heranzutragen. Diese ist also in gewissem Maße willkürlich. Weil sie aber gleichzeitig die für den Leser auffälligste ist, würde der es wohl übel nehmen, wenn sie vollkommen undurchdacht erschiene.
2. Für den Leser aufräumen
Man kann es auch anders formulieren. Die Geschichte selbst verlangt eigentlich keine Unterteilung in Kapitel. Sie braucht einen Anfang, eine Mitte sowie einen Schluss und sie gliedert sich ganz automatisch (zumindest vom Prinzip her) in einzelne Szenen. Ob da irgendwo im Text plötzlich Überschriften wie „Kapitel 2“, „Der Habicht“, „Mittwoch“ oder „Im Steinbruch“ auftauchen, ist für das Verständnis der Geschichte ziemlich unerheblich.
Tatsächlich ist die wichtigste, wenn nicht gar die einzige Funktion der Kapitel, dem Leser den Text (und mit ihm die Geschichte) in kleineren (mundgerechten) Häppchen zu servieren, die ihm (Lese-) Atempausen ermöglichen oder zumindest erleichtern.
Nicht nur, aber auch der lesende Mensch mag es eben im Allgemeinen aufgeräumt und strukturiert. Alles andere empfindet er als unübersichtlich oder gar chaotisch. Der Unterschied zwischen einem Roman ohne Kapitel und einem, der fein säuberlich unterteilt ist, lässt sich etwa mit dem vergleichen, der zwischen Kleidern in einer großen Kiste und solchen, die in die Fächer eines Kleiderschranks sortiert wurden, besteht.
3. Kapitel als Stilmittel
Wenn also Kapitel nicht aus der Geschichte heraus entstehen (nicht immanenter Teil des Plots sind), aber eine wie auch immer geartete Wirkung auf den Leser haben, gehören sie demnach wenigstens im weitesten Sinne zum Wie des Erzählens, sind also erzählerische bzw. Stilmittel. So wie es etwa die Wahl der Erzählperspektive oder der Zeitform, in der die Geschichte erzählt wird, ist. Mit ihrer Wahl verändert man die eigentliche Geschichte, die man erzählen will, nicht, und es kann durchaus verschiedene Möglichkeiten geben, die Geschichte an den Leser zu bringen, es ist aber die Aufgabe des Autors, daraus eine möglichst optimale, wenn nicht die beste zu wählen.
Der Autor wird also eine Wahl treffen müssen, die nun wiederum durchaus von der Geschichte abhängig ist (passt die Einteilung zur Geschichte, welche Möglichkeiten lässt die Geschichte zu) und von der Wirkung, die er beim Leser erzielen will. Im Allgemeinen kann man allerdings festhalten, dass die Kapiteleinteilung als Stilmittel weniger direkte Auswirkungen auf die Rezeption der Geschichte hat als andere Stilmittel.
Alles bisher Gesagte bedeutet übrigens auch, dass man die (endgültige) Kapiteleinteilung problemlos auch ans Ende der Schreibarbeit verschieben kann, falls man sich vorher dazu nicht in der Lage sieht oder noch unsicher ist. Ich kenne sogar Autoren, die diesen Job dem Lektorat überlassen.
4. Möglichkeiten
Die dramatischste Wirkung erzielt noch immer der Autor, der ganz auf Kapitel verzichtet. Das stellt aber keineswegs eine Empfehlung dar. Dieses drastische Stilmittel wird vorzugsweise von Autoren verwendet, die auch experimentelle Texte schreiben und die eine Zielgruppe haben, die für solche Texte offen ist.
Für Autoren, die konventionellere Romane schreiben, in der Regel solche, die Geschichten erzählen und vorrangig unterhalten wollen, sind die Möglichkeiten immer noch äußerst vielfältig und können hier nur angerissen werden. Die folgenden gehören sicher zu den gebräuchlichsten.
4.1. Plotorientierte Kapitel
Die meisten Kapitel orientieren sich in irgendeiner Weise am Plot. Hier sind vor allem diejenigen gemeint, bei denen der Autor seine Geschichte in kleinere Sinneinheiten untergliedert. Das kann so weit gehen, dass jedes Kapitel eine Art einzelne Episode oder einzelnes Abenteuer im Roman bildet.
So könnte das erste Kapitel eines Krimis die Ermittler vorstellen und sie auf den Fall stoßen, um den es in dem Krimi geht (die Leiche wird gefunden). Im zweiten Kapitel werden die Angehörigen des Opfers informiert und erstmals vorsichtig befragt. Im dritten Kapitel werden weitere Informationen zusammengetragen, sortiert und ausgewertet. Ein erster Verdacht entsteht, dem die Ermittler im vierten Kapitel nachgehen, um dann festzustellen, dass sie auf der falschen Spur sind.
Das erste Kapitel von J.R.R. Tolkiens Roman „The Hobbit“ erzählt wie Hobbit Bilbo Beutlin vom Zauberer Gandalf und dreizehn Zwergen überrascht wird, die ihn als Meisterdieb engagieren wollen. Das zweite berichtet vom gemeinsamen Aufbruch und dem ersten Abenteuer mit drei Trollen. Das dritte Kapitel verbringt die Gemeinschaft bei den Elben in Bruchtal. Im vierten wird sie beim Überqueren des Gebirges von Orks überfallen.
Die Kapiteleinteilung folgt einer Logik, obwohl meistens auch andere Einteilungen vorstellbar wären. So wäre es auch möglich gewesen, den Aufbruch Bilbos mit den Zwergen vom Trollabenteuer abzugrenzen, obwohl das zu einem sehr kurzen zweiten Kapitel geführt hätte, in dem nicht viel passiert, was die vorhandene Einteilung sicher zur besseren macht.
Wie auch immer der Autor entscheidet, er sollte in der Lage sein, dem Kapitel eine Überschrift zu verpassen, die den Wesentlichen Inhalt des Kapitels zusammenfasst (auch dann, wenn das Kapitel im fertigen Roman nur eine Nummer bekommt). Ist das möglich, sollte die Kapitelstruktur auch für Dritte nachvollziehbar sein.
Der Krimi:
Der Hobbit:
Die Gliederung in derartige Sinneinheiten ist mit Sicherheit die häufigste Methode, Kapitel zu bilden. Dem Gehirnschmalz, das der Autor dafür aufwenden muss, steht die Flexibilität entgegen. Diese Methode stellt nämlich keinerlei Ansprüche an die Geschichte. Sie funktioniert mit ausnahmslos jeder.
Für alle Folgenden gilt das nicht. Viel mehr noch als die Sinneinheiten sind sie nach Kriterien strukturiert, die von außen an die Geschichte herangetragen werden, und können sogar insoweit problematisch sein, dass sich der Autor, der sich erst einmal entschieden hat, einer solchen, relativ festen Struktur zu folgen, möglicherweise gezwungen sieht, Anpassungen der Geschichte an eben diese (äußere) Struktur vorzunehmen.
4.2. Strangwechsel
Der Wechsel zwischen zwei oder mehr Handlungssträngen ist nicht notwendigerweise an den Kapitelwechsel gekoppelt. Eine solche Verbindung ist aber natürlich eine Möglichkeit, die für den Leser gut nachvollziehbar ist, die den Autor weitestgehend von weiterem Kopfzerbrechen entbindet und die obendrein in aller Regel auch am Plot orientiert ist, weil der durch die Handlungsstränge mitgeprägt ist.
Das setzt allerdings voraus, dass die Stränge über den gesamten Roman stets in einer kapiteltauglichen Länge wechseln.
4.3. Ortswechsel
In Romanen, in denen regelmäßige Ortswechsel stattfinden, können diese die Basis für die Kapiteleinteilung stellen.
4.4. Zeiteinheiten
Vor allem bei solchen Romanen, die entweder häufige Zeitsprünge beinhalten, deren Handlung sich über einen längeren Zeitraum erstreckt oder in denen Zeit auf eine andere Art und Weise eine wichtige Rolle spielt (z. B. Countdown, Ablauf eines Ultimatums, …), bieten sich zeitbasierte Kapitel an.
Einige (überraschende) Beispiele:
5. Lange oder kurze, viele oder wenige?
Die Frage wird nicht selten gestellt: Wie lang muss ein Kapitel sein? Die Antwort ergibt sich eigentlich schon aus allem, was ich bisher hier ausgeführt habe: Keine Ahnung! Oder auch: Mach doch, wie du willst!
Natürlich könnte man auch so antworten: Kommt auf den Text/die Geschichte an. Nicht zu lang und nicht zu kurz. Nicht zu viele, nicht zu wenige.
Tatsächlich könnte die einzige Empfehlung (neben der, die Kapitelgrenzen für den Leser nachvollziehbar abzustecken, s. o.) lauten, ein gesundes Mittelmaß zu finden, um es möglichst vielen Lesern recht zu machen. Denn Geschmäcker sind nun mal verschieden. Eventuell kann man außerdem behaupten, dass zu viele zu kurze Kapitel den Lesefluss unnötig unterbrechen (und ein eventuelles Inhaltsverzeichnis überladen), während zu lange Kapitel dem Bedürfnis des Lesers nach gelegentlichen Pausen widersprechen.
Aus Erfahrung kann ich jedenfalls sagen, dass angehende Autoren dazu neigen, Szenen mit Kapiteln zu verwechseln, und in diesem Sinne zu kurze Kapitel schreiben.
6. Überschreiben
Auch die Frage, ob man die Kapitel mit Überschriften versehen soll, ist vor allem eine Geschmacksfrage. Sowohl bei Autoren als auch bei Lesern gibt es solche, die es gut finden, wenn ein Inhaltsverzeichnis schon vor dem Lesen eine gewisse Orientierung gibt, und solche, die jede Art von Spoiler vermeiden wollen. Wenn man einen Trend ausmachen will, geht der eher weg von Kapitelüberschriften, zumindest von solchen, die etwas über den Inhalt des Kapitels verraten könnten.
Allein dieses Problem lässt manchen Autor bei der Kapiteleinteilung eine der oben erwähnten Methoden von 4.2. bis 4.4. wählen, um so bei den Überschriften einfach auf Figurennamen (Manni, Sabine), Ortsnamen (Hamburg, Caragost) bzw. lokale Bezeichnungen (Im Wald, Am Fluss, In der Burg) oder Zeitangaben (s. o.) zurückgreifen zu können. Immer häufiger werden die Kapitel aber auch einfach durchnummeriert.
7. Übergänge schaffen
Zum Schluss noch einige wenige Worte zu den Übergängen zwischen Kapiteln. Manche Autoren versuchen einem möglichen Drang des Lesers, am Ende eines Kapitels zu pausieren, entgegenzuwirken, indem sie jedes Kapitel mit irgendeiner Art Cliffhanger abschließen. Dagegen ist im Grunde nichts einzuwenden.
Besser jedoch, wenn man das nicht am Kapitel festmacht (zumal, wenn der Cliffhanger sowieso verpufft, sobald man die nächste Seite aufschlägt). Wem es gelingt, den Leser mit jeder Szene ans Buch zu fesseln, der muss sich um seine Kapitelenden wenig Sorgen machen. Wem das nicht gelingt, dem werden Spannungspusher am Kapitelende auch nichts nützen.