Lies die Anfänge von Büchern, die dir gut gefallen haben. Oder schau dir die Anfänge von Filmen an.
Überprüfe, ob die entsprechenden Protagonisten in einer für sie gewohnten Welt vorgestellt werden.
Mit welchem Mangel lebt der jeweilige Protagonist?
Welches Ereignis stellt den Protagonisten vor eine neue Aufgabe?
In welchem Moment übertritt der Protagonist die „Schwelle“?
Welche Schwierigkeiten muss er überwinden, noch bevor er die „Schwelle“ übertreten kann?
Beileibe nicht jeder Protagonist ist ein James Bond oder gar Superman. Dennoch sind sie die Helden ihrer Geschichten. Sie begeben sich auf eine Reise, auf der sie Abenteuer im weitesten Sinne erleben. Wie eine solche Reise verlaufen kann, wollen wir uns in diesem und in den folgenden Artikeln anschauen.
1. Die Helden kennenlernen
1.1. Was die Helden ausmacht
Ich möchte euch Viktoria vorstellen. Victoria ist 21 und hat gerade ihren Job als Kellnerin verloren, weil sie bei der Arbeit immer schlecht gelaunt war und obendrein regelmäßig zu spät oder gar nicht gekommen ist. Unter einer Heldin stellt man sich wohl etwas anderes vor.
Wie sieht es mit Viktor aus? Der Fünfzehnjährige, dessen Eltern bei einem Autounfall umgekommen sind, lebt bei seinem Großvater in einer Kleinstadt. Er ist ein Träumer, übergewichtig, gilt als Sonderling und wird von seinen Klassenkameraden gehänselt. Alles andere als der großer Krieger, der er in seinen Träumen ist.
Beide würden uns auf der Straße nicht weiter auffallen. Vielleicht wären sie in unseren Augen sogar eher Loser als Helden. Aber obwohl sie es selbst noch nicht wissen, steckt in beiden ein Held, mit dem der Leser mitfiebern wird.
Denn beide werden sich einer Aufgabe stellen, die sie vor scheinbar unlösbare Probleme stellt. Sie werden alles tun, um ihr Ziel zu erreichen, sie werden von einer Katastrophe in die nächste schlittern und dennoch immer wieder aufstehen. Sie werden Opfer bringen, für sich und für andere.
Denn das ist es, was sie zu Helden macht: Die Bereitschaft alles auf eine Karte zu setzen, um die Welt für sich und andere etwas besser zu machen. Egal, ob im Großen oder im Kleinen. Auf diese Weise wird selbst der Unbedeutendste zum Helden, ja, sogar ein Hobbit. Denn kaum einer könnte plastischer zeigen, was Helden ausmacht, als Frodo Beutlin, der in J.R.R. Tolkiens von großen Helden bevölkertem „Herr der Ringe“ den dunkelsten und entscheidenden Weg geht, nicht weil er das Ideal eines großen Kriegers verkörpert, sondern weil er bereit ist, sein behagliches Leben für den Fortbestand des Auenlands zu opfern.
1.2. Der Alltag der Helden
Auch der Leser soll unsere zukünftigen Helden erst einmal kennenlernen. Denn sie sind es, die den Leser jeweils in ihre Geschichte ziehen müssen. Sie stehen jeweils im Zentrum, sie sind es, mit denen der Leser das Abenteuer erlebt, mit ihnen soll er sich identifizieren.
Das Kennenlernen funktioniert am besten in der alltäglichen Welt der Figur. Zum einen, weil der Leser sich so auf die Figur konzentrieren kann, zum anderen, weil er sie auf diese Weise so kennenlernt, wie sie ist, bevor sie sich in das Abenteuer stürzt. Der Leser holt die Figur also dort ab, wo sie herkommt, um sie dann auf eine ungewöhnliche Reise zu begleiten.
Man nennt diesen Alltag des Helden auch die gewohnte Welt des Helden. Sie ist der Ausgangspunkt einer Heldenreise, wie sie uns in den meisten Geschichten immer wieder begegnet und die im sogenannten Monomythos theoretisiert wird.
Diese gewohnte Welt muss in keinster Weise langweilig sein. Der Alltag eines Polizisten, eines Rennfahrers, eines Geheimagenten oder eines Raumschiffkommandanten ist wahrscheinlich sogar verhältnismäßig actionreich. Selbst unsere Viktoria lernt der Leser vielleicht auf einer ausgelassenen Party kennen, auf der so allerhand passiert. Und Viktor ist möglicherweise gerade mal wieder auf der Flucht vor ein paar Schlägertypen aus seiner Schule.
Aber egal wie spannend, aufregend oder gefährlich es auch sein mag, was die Figur bei der Ankunft des Lesers gerade erlebt, es scheut jeden Vergleich mit dem was noch auf sie zukommen wird zumindest in einer Hinsicht: Nichts ist so neu für die Figur wie das Abenteuer, das sie in dieser Geschichte erleben wird.
1.3. Mangelerscheinung
So stabil die gewohnte Welt unserer Helden auch scheinen mag, für den Helden oder die Heldin ist sie mit (mindestens) einem Mangel behaftet. Dieser muss nicht offensichtlich sein, auch für den Protagonisten nicht. Möglicherweise ist der Mangel gar nur potenziell vorhanden. Auch kann der Mangel ganz unterschiedlicher Natur sein. Etwa eine körperliche Missbildung des Protagonisten, eine tief sitzende innere Verwundung aus der Vergangenheit, Armut, fehlende Anerkennung, Liebesentzug, eine unerfüllte Sehnsucht und vieles mehr. Natürlich kommt auch eine Charakterschwäche wie Schüchternheit oder übertriebener Stolz als Mangel in Frage.
Die gewohnten Welten von Viktor und Viktoria sind ganz offensichtlich mangelhafte. Bei Viktoria ist im Wesentlichen das Problem, dass sie in ihrer Welt noch kein Ziel gefunden hat. Sie lebt in den Tag hinein mit einer ausgeprägten Null-Bock-Stimmung. Viktor ist übergewichtig und der typische Außenseiter, wodurch er fast täglich zum Mobbingopfer wird.
Wie groß oder wie klein, wie offensichtlich oder unterschwellig der Mangel auch sein mag, er leistet etwas Entscheidendes für den Leser: Er ermöglicht Identifikation. Denn wir identifizieren uns viel leichter mit Leuten, die nicht perfekt sind, denen nicht alles gelingt und die ebenso wie wir ihre Probleme haben.
Darüber hinaus bieten Mängel Konfliktpotenzial. Frühere Konflikte zeigen ihre Auswirkungen, andere Konflikte gehören noch immer oder gerade jetzt zur gewohnten Welt des Helden, für zukünftige Konflikte ist der Boden bereitet. Darunter natürlich vor allem der für den zentralen Konflikt der sich entwickelnden Geschichte.
2. Das Abenteuer ruft
2.1. Die erste Katastrophe
Zu Beginn des Romans haben wir den Helden der Geschichte also in seiner gewohnten Welt kennengelernt. Doch da kann er natürlich nicht bleiben, schließlich will der Leser mit ihm gemeinsam ein spannendes Abenteuer erleben. Dafür braucht es eine Reihe von Ereignissen. Die wichtigsten dieser Ereignisse werden gern als Katastrophen oder auch als Krisen bezeichnet. Ersteres ist sicher der bessere Begriff, weil eine Katastrophe immer ein Ereignis ist, während man mit einer Krise eher die Folgen einer solchen beschreibt.
Bleiben wir daher bei Katastrophen. Wir müssen uns nur von dem Gedanken trennen, jede Katastrophe habe das Ausmaß einer ausgewachsenen Naturkatastrophe. Auch mag es sein, dass die Katastrophe von unseren Figuren, ja selbst von den Lesern zunächst oder sogar dauerhaft gar nicht als solche empfunden wird. Stattdessen nimmt der Begriff eher darauf Bezug, welche umwälzenden Auswirkungen das entsprechende Ereignis auf den Fortgang der Handlung hat. Daher spricht man auch von Wendepunkten. Andere nennen diese Ereignisse Prüfungen.
Doch noch einmal zurück. Jedes Ereignis erfordert eine Reaktion. In der Regel zumindest die Entscheidung, ob und wie wir uns zu diesem Ereignis verhalten wollen. Wenn wir sehen, wie einem Fußgänger ein Schokoriegel aus der Tasche fällt, könnten wir das beispielsweise ignorieren, den Fußgänger darauf aufmerksam machen, den Schokoriegel aufheben und ihn entweder zurückgeben oder selbst essen. So besteht jeder Tag unseres Lebens aus vielen Ereignissen, auf die wir in irgendeiner Form reagieren. Manche dieser Ereignisse geschehen ohne unseren Einfluss, andere sind Folge unseres Handelns.
So muss es auch unserem Protagonisten ergehen. Er handelt, indem er auf Ereignisse reagiert. Allerdings sind die Ereignisse in einer Geschichte in aller Regel logisch miteinander verknüpft. Das heißt sie folgen aufeinander beziehungsweise sind Folge der Reaktionen des Protagonisten auf das vorhergehende Ereignis. Ein Ereignis zwingt den Helden zu reagieren und entsprechend zu handeln, wodurch neue Ereignisse ausgelöst werden, auf die der Held wiederum reagieren muss.
Diejenigen Ereignisse, die die bedeutendsten Entscheidungen vom Protagonisten verlangen, die ihn dazu bringen, seine Handlungsstrategie zu ändern, sind die Wendepunkte beziehungsweise Katastrophen oder Prüfungen. Und die erste dieser Katastrophen ist die, die den Helden dazu bringt, sein Abenteuer anzutreten. Sie wird als Ruf zum Abenteuer bezeichnet, als auslösendes Ereignis oder als Anstoß.
Für Viktoria kommt dieser Anstoß, als ihr Vater verunfallt und zum Pflegefall wird. Er war bis dahin der einzige feste Halt in ihrem Leben, hat sie finanziell unterstützt und ihr jede Eigenverantwortung abgenommen. Nun muss sie reagieren. Stellt sie sich der Verantwortung, sorgt für ihren Vater und entspricht seinem Wunsch, sein Geschäft weiterzuführen?
Viktor wird auf ganz andere Art und Weise zum Abenteuer gerufen, als er auf dem Dachboden seines Großvaters ein Buch findet, es zu lesen beginnt und feststellt, dass eine der Figuren ihn direkt anspricht und ihn auffordert, in die Geschichte einzutreten. Wird er dem Ruf folgen?
Das auslösende Ereignis kann also ganz unterschiedlicher Natur sein, aber es ist immer dasjenige, das ursächlich dafür ist, dass der Held seine gewohnte Welt verlässt. Und es ist damit auch jenes, das den zentralen Konflikt etabliert, den der Protagonist lösen muss.
2.2. Über die Schwelle
Nicht immer wird der Protagonist aufspringen, einen Jubelschrei ausstoßen und sich ins Abenteuer stürzen. Mancher wird sich zunächst weigern, sein gemütliches Sofa zu verlassen, oder wenigstens zögern, sich möglichen Gefahren zu stellen. Vielleicht braucht es erst ein bisschen Überredung durch Dritte oder ein weiteres Ereignis, das dem Protagonisten keine andere Wahl lässt, als seine Heldenreise anzutreten.
Auch müssen möglicherweise erst noch einige Vorbereitungen getroffen werden. Aber irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem der Held sich seinem Konflikt stellt. Der Monomythos spricht davon, dass er über die Schwelle tritt, die im Bild der Heldenreise die gewohnte Welt des Helden von der für ihn neuen Welt seines Abenteuers trennt.
Für Viktor ist diese Schwelle ganz real: ein kleines Fenster auf dem Dachboden seines Großvaters. Viktoria übertritt die rein metaphorische Schwelle, als sie das erste Mal die Firma ihres Vaters aufsucht, um die Stelle der neuen Geschäftsführerin anzunehmen.
In der Regel wird unseren Helden schon das Übertreten der Schwelle alles andere als leicht gemacht. Sie müssen erstmals beweisen, dass sie ihrer Aufgabe würdig sind. Viktor etwa muss zunächst ein schweres Rätsel lösen, bevor er seine Kilos unter Schmerzen durch die enge Öffnung des Fensters zwängen darf. Viktoria findet am ersten Tag in der Firma ihres Vaters einen anonymen Brief, der sie vor dem Vizechef warnt, der angeblich den Unfall ihres Vaters erst herbeigeführt hat.
Im nächsten Artikel begleiten wir Viktor und Viktoria dann auf den weiteren Schritten ihrer Heldenreise.