Wer Inspiration für eine Geschichte sucht, muss eigentlich nur Straßenbahn fahren. Fast nirgendwo sonst begegnen einem auf so engem Raum so viele verschiedene Menschen - und Menschen sind interessant. Man kann sich immer fragen, warum jemand ausgerechnet jetzt ausgerechnet dahinfährt und ausgerechnet das mitnimmt. Vielleicht verhält sich eine Person aus Sicht des Außenstehenden sonderbar oder man schnappt einen Gesprächsfetzen auf, der aus dem Kontext gerissen sofort etliche neue Interpretationsmöglichkeiten eröffnet.
Daraus kann dann ein eigener, fiktiver Dialog gesponnen werden. Aus diesem Dialog lässt sich wiederum eine ganze Szene entwickeln, die Gesprächspartner brauchen einen Hintergrund, warum unterhalten sie sich wann, wo? Ist es wirklich über das Handy und einer von beiden sitzt gerade in der Straßenbahn und fährt mit einem Transportkäfig für Katzen auf dem Schoß zum Fußballstadion oder wird der Dialog in dem Chinarestaurant geführt, das die Bahn gerade eben passiert hat? Welche Bedeutung haben der Käfig und das Stadion im ersten Fall, welche das Restaurant im zweiten? Teil welchen Konflikts, welcher Beziehung ist der Dialog und gehört der Käfig vielleicht in einen ganz anderen Handlungsstrang? Worauf wird das ganze hinauslaufen und woraus resultiert es? So wird aus einem kleinen, simplen Kern, einem Satz vielleicht oder einem bestimmten Verhalten, eine ganze Geschichte, die man nahezu endlos weiter ummanteln und vertiefen kann.
Außerdem fährt die Bahn an etlichen potentiellen Handlungsorten vorbei. Wenn man also mal keine Lust auf das Gedrängel und den Lärm der anderen Leute hat, einfach Kopfhörer rein und Blick nach draußen. Vielleicht haust in dem unverputzten Gebäude voll Graffiti und mit eingeschlagenen Scheiben ja doch noch jemand... und was genau steckt eigentlich hinter dieser riesigen Mauer, die sich so eintönig dort entlangzieht?
Manchmal hat man diese Möglichkeit leider nicht. Eingepfercht zwischen anderen auf dem Mittelgang bleibt mitunter kaum eine Chance, sich wirklich zu bewegen, außerdem hat man seine Kopfhörer vergessen und möchte im Gegensatz zu so vielen anderen die übrigen Fahrgäste nicht stören... So ging es mir unlängst, als ich blöderweise direkt nach Schulschluss Straßenbahn gefahren bin.
In der Pubertät machen sich Kinder keinerlei Gedanken darüber, ob ihr Gebrüll andere Leute vielleicht stören könnte... Genau genommen wollten sie ja von denen für ihre Coolness bewundert werden oder aber dafür, dass sie viel erwachsener als ihre Freunde sind und diese in ihre Schranken zu weisen versuchen - natürlich so lautstark, dass es auch jeder mitbekommt, und trotz allem in der coolen Pubertätssprache.
Irgendwie steckt da ja sogar eine öffentliche Entschuldigung für das störende Verhalten des Beschuldigten drin, so viel muss man den Kids an dieser Stelle lassen. Ihnen fehlt nur etwas die Einsicht, dass diese Entschuldigung noch störender sein kann, als wenn das (manchmal nur vermeintliche) Fehlverhalten unkommentiert geblieben wäre. Es interessiert nun einmal niemanden, ob der dicke Junge mit den vielen Pickeln Flatulenz hat... aber diese Anekdote heb ich mir für den nächsten Post auf.