Die Stadt der Dunkelheit

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DIE STADT DER DUNKELHEIT

Thema gestartet
von bujerl
am 15.12.2023 - 22:24 Uhr
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bujerl  Die Stadt der Dunkelheit

(Eine Protestgeschichte gegen die Atomkraft. Eine Untergangsstimmung im Prosastil des brutalrealistischen Exzessionismus über den "Tod" eines Atomkraftwerkes und seiner Folgen. Irgendwie war das Gedicht "Die Dämonen der Städte" von Georg Heym eine Quelle der Inspiration. Und ich denke, er sitzt heute mit einem anderen "Abartigen", mit Charles Bukowski, im Dichterhimmel an einer wohl gefüllten Bar und sie genießen die neue Perversität mancher meiner Zeilen. Sie haben jeder ein Glas Whisky in der Hand. Sie schauen sich tief in die Augen, stoßen an. Georg meint grinsend: "Auf eine Zeit der Neuen Abartigkeit!" Und dann kippen sie die Scheußlichkeit in sich rein. Charlie grinst auch und sagt: "Diesen Dichter haben wohl wir zwei auf dem Gewissen, hihi. Der Typ ist schwer versaut. Er kann es einfach nicht lassen. Warum nur muss er jede seiner Geschichten mit seiner "Abartigkeit" versauen? Er hat wohl eine Geschichte von uns zu viel gelesen. Hahahaha." Und dann lachen sie beide, wie nur tote Dichter im Dichterhimmel lachen können. Und wenn sie sich dabei in den nächsten paar Jahren nicht tot lachen, ich hoffe es, haha, na dann werde ich hoffentlich bald neben ihnen sitzen. So viele Jahre habe ich ja nicht mehr. Hahahahhahahahahahahahha.)


Stromausfall. Schon wieder. Die Stadt verschwarzt auf der anderen Seite des Lichts. Die Häuserzeilen erglänzen wie die Hügel der Gräber eines Friedhofs im da und dort flackernden Kerzenlicht. Bucklige Dämonen wandern durch die Nacht. Es scheint, als duckten sich die Häuser unter ihrem Fuß. Der große Strom, die Donau, wälzt sich schwarz und breit, wie ein gefräßiges Reptil, der Rücken gelb gefleckt, in eine dunkle Traurigkeit. Einzelne Gebäude greifen wie gekrallte Wolfskrallen - die Klauen in Düsternis behaart, ihre neue Angst verzitternd - in den so unfreundlich getrübten Himmel.

Die Wolken, so schwarz von Rauch und Russ, sie stehen tief. Kein Licht von Mond, kein Licht von Sternen. Eine Ahnung schweigt. Die Wolken kochen. Sie haben sich in dicke, bedrohliche Formen zusammengeklumpt. Wie gierige Monster lagern sie bereit, sich auf die Menschen los zu lassen. Kleine Blitzchen zucken kurz. Ihre Verschmelzungen mit der Erde sind wie Faden so dünn. Der Himmel weiß noch nicht: was tun?

Ich stehe Hand in Hand mit Danae auf unserem Balkon. Wir ergeben uns diesem Schauspiel der Natur. Von irgendwo aus diesem Häusermeer schallt leise und so filigran eine einsame Violine her. Es scheint, als spielte da ein schon alter Mann auf zu seinem letzten Tanz. Seine Finger wimmern noch immer virtuos. Die Schönheit der Töne macht uns zittern.

In Europa stirbt nun das vierte Atomkraftwerk einen langsamen Tod. Es gibt keinen Strom. Unsere Gedanken dazu sitzen wie lüsterne Kobolde auf den Dächern. Sie miauen wie läufige Katzen auf zum Firmament. Ihre Hälse wachsen dann und wann wie jene von Giraffen. Irgendwo wird wohl ein Kind geboren. Es hat keinen Kopf. Das Gedärm liegt außen frei herum. Es zuckt lebendig, doch ist tot.

Alles so egal. Du kannst es nicht riechen, du kannst es nicht sehen. Die Luft ist bloß verstrahlt. Die alte Angst ist überholt.

Wir inhalieren tief. Alles so egal. Kein Loch da zum Verstecken. Es gibt ja nicht genügend Löcher. Und die es gibt, die sind nun übervoll.

Wenn Miss Di und ich gewollt hätten, dann steckten wir jetzt wohl auch in so einem Loch. Wir hätten einen Platz bekommen. Doch wir wollten nicht. Und eigentlich schmeckt die Luft saugut. Die Luft über Linz ist heute so klar, wie schon lange nicht. Kaum ein Auto da, das sich auf die Straße wagt. Ab und zu zersägt ein Volltonhorn die Stille. Ganz hinten in Kleinmünchen greifen Flammenzungen rot, orange bis gelb in des Himmels finstere Verhangenheit. Es heißt, ein an seiner Zeit verzweifelnder Vater hätte sich selbst mit seiner ganzen Familie im Namen der ganzen und wieder einmal so irrsinnig gewordenen Menschheit "hingerichtet".

Da birst das Dach. Es hört sich an, als würde eine alte Stadt mit ihren brüchigen Schultern knacken. Das Meer der Flammen wächst sich riesengroß. Eine Farbenpracht ergießt sich über das Weit des Horizonts.

Temelin hat endlich alle Angriffe seiner Gegner überstanden. Sein Kern glüht nun die Erde durch nach China.

Neunzehn Terroristen - dieses Neunzehn wurde inzwischen zur geheiligten Zahl - haben am Heiligen Abend, dem Todestag des Mahdi, einen schwach bewachten Militärflughafen in Österreich überfallen. Gestern schien die Sonne, der Winter hat sich von seiner besten Seite gezeigt. Die Lochmenschen von Heute genossen das warme Licht, so als wäre es das letzte Mal. Und gleichzeitig stöhnten sie unter der Last und unter der Hektik dieses Feiertags.

Danae und ich - wir stöhnten auch. Wir ertranken lustvoll in den Strahlen - unserer Sonne. Wir feierten die Weih-Nacht auf unsere Art. Wir fickten dabei einen dicken Baum in der Au - unten bei der Traun. Vorher spazierten wir um den im Sonnenlicht glitzernden See herum. Keine Menschenseele weit und breit. Während wir fickten und dabei nach Liebe gierend stöhnten, stiegen drei nur bei Schönwetter flugfähige Euro-Fighter auf und stürzten sich dann mitten hinein in die Turbinen von Temelin. Auch die Tschechische Flugabwehr hat ihren Aufstieg verschlafen. Auch in Tschechien ist der Heilige Abend ja ein Feiertag. Europa ist ja christlich. Da kann so was schon geschehen. Doch für Terroristen ist so ein Christlicher Feiertag ein Feiertag. Das vermag sogar ich zu verstehen, der ich nicht gerade mit viel Intelligenz geschlagen bin.

Wenn mich mein Zeitgefühl nicht trügt, dann habe ich genau zur Zeit der Explosion gespritzt. Es war phänomenal. Ich habe die letzten Tropfen in den Schnee geschüttelt und Ihn dann schnell eingepackt. Ihm war plötzlich so kalt. Der Schnee lag ja gut zwanzig Zentimeter hoch und es hatte so um die vier bis fünf Grad. Plus.

Ich bummse, nein, ich bummste ja gerne draußen in der Natur. Das ist, nein, war immer wieder ein Genuss. Selbst der kalte Winter hat mir nie was ausgemacht. Beim Schifahren suchte ich mir auch oft einen freundlichen und dicken Baum, und ließ dabei der Sonne meinen nackten Hintern warm begucken.

Wir fuhren dann anschließend nach Hause. Danae schnurrte die ganze Zeit und hielt sich mit der einen Hand ihren schon ein wenig dicken Bauch. Mit der anderen Hand hielt sie meine Hand am Schaltknüppel gefangen. Durch unsere Blutbahnen schoss das Glück und wir dachten nur an Zukunft, an unseren Jungen, an was Gutes.

Da sagte Miss Di auf einmal - mitten heraus aus unserem zärtlichen Schweigen: "Hey, was is'n heute los? Schau mal, kein Auto auf der Straße."

Ich hatte auf einmal ein ungutes Gefühl. Die leere Straße fühlte sich auf einmal an, so wie damals, als sie das World Trade Center angegriffen haben. Damals waren wir ja auch alleine auf der Straße. Ich sagte lustig, so wie ich ja immer war: "Na, vielleicht haben Terroristen ja jetzt Temelin, ihr viertes Atomkraftwerk angegriffen, mit Flugzeugen und so, - genau so, wie ich es immer vorher geschrieben habe. Und wir zwei wissen noch Nichts davon, weil wir ja den ganzen langen Nachmittag lang einsam spazieren waren und uns anderweitig wichtig gemacht haben, hahaha." Ich lachte. Danae lachte auch, ein wenig, aber irgendwie erstickten wir dann daran. Wir schwiegen dann.

Zu Hause schaltete ich dann den Fernseher ein und: Verdammt! Es darf nicht wahr sein! Die Ruinen der Türme von Temelin füllten den ganzen Bildschirm aus. Ein loderndes Flammenmeer. Noch nie lag ein sterbendes Atomkraftwerk so nah an Linz. Die Nachrichtensprecher erzählten lauter Schauermärchen. Es klang gar nicht wunderbar.

Und heute, einen Tag danach, nach Heilig Abend, stehe ich mit Danae auf unserem Balkon. Der Nachthimmel über der Stadt ist pure Natur, ist so elend wunderschön, so klar. Doch das Gewitter finstert aus dem Norden, aus Temelin heran. Die ausstrahlende Hitze dort verträgt sich nicht mit dem kalten Wetter im Winter. Und da erbebt die Stadt der Dunkelheit unter einem ersten mächtigen Gebrüll. Einen Donner, so mächtig und laut, habe ich noch nie gehört. Ein fetter Blitz sprengt die Gegend um die Universität in Urfahr herum in ein knallig weißes Lichtermeer.

Die hohen Häuser - die Hotels, das Brucknerhaus - die Donau entlang verzittern und verblitzen. Ein Erdbeben der Donner donnert laut durch den nun so wunden Schoß der Stadt. Die hohen Schlote im Gelände bei der Voest - sie wanken. Danae und ich, wir schwanken auch. Wir halten uns am Balkongeländer fest, sie, wie gebärende Frauen in alten Zeiten an einer Wehebank. Die kalte Luft verhaucht an unserem Schrei so erschrocken, so sichtbar warm. Unsere Schrecken kreißen. Danae verkrallt sich an meiner Hand. Ich kann sehen, wie ihre Knöchel dünn durch ihre Haut verweißen.

Ich lasse dann mit der anderen Hand das Geländer wieder los und fasse unwillkürlich nach meinem Haar. Es ist noch da. Ich sehe nach Danae. Auch ihre freie Hand wühlt im Haar. Sie hat offenbar dieselben Gedanken. Die Bilder im Fernsehen zuletzt aus den USA wirkten so unmittelbar, so nah. Diese bleichig grauen Glatzköpfe krankten dann noch tagelang in meinem Kopf herum. Die Gegend um Indian Point, dort wo sie vor drei Jahren das erste Atomkraftwerk in den USA angegriffen haben, ist heute schon wie die Gegend um Tschernobyl herum eine einzige Krebserlstation. New York, keine fünfzig Meilen davon entfernt, ist heute nur noch halb bewohnt.

Big Brother der Erste, George W. Bush, hat doch im Jahr 2001 den Weltkrieg gegen den Terror erklärt. Sein Pech war auch das unsere: er war noch nicht stark genug dazu. Big Brother hat sich wie schon Adolf Hitler zuvor, schwer übernommen. Und so ist sein Weltkrieg dann, wie alle anderen Kriege zuvor, entgegen jede Vernunft in den folgenden Jahren schwer entartet. Es wurde unter anderem ein "Atomkrieg" daraus, auf seine Art.

Bei diesem Gedanken bricht über uns die Hölle los. Tausend Blitze grellen die Nacht zum Tag. Donner um Donner, so laut, dass die Ohren schmerzen. Und dann prasseln die ersten Regentropfen gegen unseren Balkon. Die Tropfen sind wie Mon Cheri so groß. Die Natur malt ein Bild so wunderwunderschön, an dem selbst die besten Malermeister scheitern. Wir stehen wie gebannt.

Und Alles so egal. Doch Danae und ich, wir gehen dann doch ins Zimmer hinein und schließen die Tür zum Balkon. Unsere Herzen sind schwer. Wir fallen uns in den Arm. Danae weint. Auch ich lasse meinen Tränen ihren Lauf. Sie presst ihren leicht angeschwollenen Bauch ganz fest gegen mich. Dort wächst ein kleiner Junge heran. Ich kann ganz deutlich fühlen, wie er kräftig strampelt. Oder ist es gar seine Angst, vermischt mit seiner so ohnmächtigen Wut?

Oh Gott! Dieses Strampeln fühlt sich an, - es fühlt sich an, - oh Gott, es fühlt sich an, - so als wüsste er. Da schüttet mein Herz ein Meer von Tränen aus. Ich kann auf einmal nicht mehr atmen.

© Copyright by Lothar Krist (16./17.6.2004 von 22.45 ? 02.30 Uhr im Smaragd)

Zu Unser Aller Glück ist mein Alptraum, diese Geschichte, niemals wahr geworden.
Doch "Niemals" ist ein langer Zeitraum.

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